„175 Jahre katholische Zivilgesellschaft“

Rede Katrin Göring-Eckardt im Rahmen der ZdK-Vollversammlung vom 28./29. Mai 2024 - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Präsidentin – 
liebe Frau Doktor Stetter-Karp,
sehr geehrter Herr Generalsekretär – lieber Herr Frings,
sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die freundliche Begrüßung hier in Erfurt. 

Herzlich willkommen in Thüringen, meinem Heimatland. Besonders freut es mich, dass der 103. Katholikentag hier in meiner Heimat in Erfurt stattfindet.

Herzlich willkommen in Erfurt, der katholischen und evangelischen Stadt.

Denn Erfurt ist als Bischofsstadt natürlich – neben dem Eichsfeld – die katholische Hochburg in Thüringen. Und schon wegen der Küchendörfer drum herum sehr berühmt.
Zugleich aber ist das Augustinerkloster ein wichtiger Ursprungs- und Gegenwart-Ort der protestantischen Kirchengeschichte.

2011 habe ich Papst Benedikt in der Augustinerkirche begrüßt und in ökumenischer Verbundenheit als Bruder angesprochen. Als Frau in einem kirchlichen Leitungsamt. Eine wichtige ökumenische Begegnung, mit vielen Erwartungen und Hoffnungen von beiden Konfessionen belegt. Manche konnten nicht erfüllt werden.

Erfurt ist heute auch eine säkulare Stadt. Doch mit dem Katholikentag kommt diese besondere Stimmung in die Stadt zurück. Ich freue mich so darauf und darüber!

Der Katholikentag bringt Menschen zusammen. Aus ganz Deutschland. Und darüber hinaus. Um gemeinsam zu feiern. Und gemeinsam über die Zukunft von Kirche, Gesellschaft und Demokratie nachzudenken.

Der Katholikentag ist eine Standortbestimmung des Katholizismus in Deutschland. Er zeigt, wie vielfältig, wie bunt, wie modern und gleichzeitig traditionsreich die katholische Zivilgesellschaft ist.

Der Katholikentag ist aber vor allem ein Fest der Begegnung. Christenmenschen, die spüren und zeigen wollen, dass sie zwei oder drei, katholisch, evangelisch, mit jüdischen und muslimischen, agnostischen und säkularen Traditionen gemeinsam der Stadt Bestens suchen können und wollen. In Zeiten, in denen schon diese Suche nach dem Besten der Stadt unter dem Druck von Erfolgszwang einerseits und grundständiger Ablehnung andererseits eine Herausforderung ist, aber auch eine besondere Chance, unverzagt zu bleiben - trotz oder wegen allem und allen!

Und ich empfinde es als ein schönes Zeichen, dieses katholische Fest 
hier auszurichten: 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution.

1989 waren hier und überall in Ostdeutschland viele auf den Straßen, um für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu demonstrieren. Ich war mit Säugling im Tragetuch dabei. Viele der Menschen auf diesen Demonstrationen kamen aus den Kirchen oder hatten sich unter Kirchendächern versammelt.

Schon 1978 hat es anlässlich der Einführung des „Wehrkundeunterrichtes“ nämlich hier in Erfurt in der katholischen St. Lorenz-Kirche am Anger das erste Ökumenische Friedensgebet in der DDR gegeben. Seitdem findet es ununterbrochen dort statt, immer donnerstags. Deshalb gab es in Erfurt 1989 auch Donnerstags-Demonstrationen und nicht wie in Leipzig Montagsdemonstrationen.

Nur eine der vielen Wurzeln der Friedlichen Revolution. Sie alle führten zum Kollaps des SED-Staates. Mit friedlichen Mitteln. Ganz entscheidend aus der kirchlichen Zivilgesellschaft getragen.

Die Bürgerrechtsbewegung der DDR eingebettet in die Revolutionen in den osteuropäischen Staaten. 1953 in der DDR, Die Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die Charta77, die Entwicklung in Ungarn und anderes mehr.

Wenn wir nachher zum Gottesdienst auf dem Domplatz gehen, denken Sie sich einen Moment in das Jahr 1988. Damals gab es dort einen evangelischen Kirchentag. Direkt nebenan in der Andreasstraße war die Zentrale der Staatssicherheit und das Stasi-Gefängnis. Die Westpolitiker Egon Bahr und Erhard Eppler mussten wieder ausgeladen werden - so viel Offenheit traute sich die DDR-Diktatur ganz offensichtlich nicht zu.

Der Kirchentag „Umkehr führt weiter“. Er war ein Teil der ökumenischen Versammlung: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung waren die drei großen Leitworte. 
Und es gab einen Brief an die Kinder. Darin heißt es: „Die Erde, auf der wir leben, ist sehr bedroht. Schuld daran sind wir, die Erwachsenen. Aber einige haben es noch nicht gemerkt. Deswegen haben sich zum 3. Mal viele Menschen getroffen, um darüber nachzudenken, was zur Rettung der Erde geschehen muss…“. Auf dem Domplatz gab es dann eine riesenhafte Weltkugel, die von Händen zu Händen gereicht wurde.

Die Welt, die Freiheit, den Schutz von Mensch und Natur, das können wir bis heute nur gemeinsam halten und erhalten. Damals alles unter den Augen von Stasispitzeln und anderen Systemtreuen oder auch vielen Mitläufern, das war für mich ein unendlich erhebender Moment.

Beim Losgehen noch mit ganz viel ängstlichem Mut. Beim Ankommen und Sehen, dass wir so viele sind, wurde aus dem Mut die Macht der Vielen. Und die Sicherheit, dass es für das Leben in der Diktatur zwar welche gibt, die meinten sagen zu sollen, wo es lang geht, Christinnen und Christen aber in der Gewissheit waren, dass ihr HERR Gott ist, der Liebende, der Tolerante. So wie es im 2 Kor 3,17 heißt: „Wo der Geist der Herrn ist, da ist Freiheit.“

Sehr geehrte Damen und Herren, 
noch ein anderes stolzes Jubiläum gilt es heute zu würdigen: 
175 Jahre organisierte katholische Zivilgesellschaft. Und es ist bei all dem Vorreden gerade sehr besonders, dass auch hier eine Revolution den Anfang gab.

Die Wurzeln der katholischen Zivilgesellschaft reichen in die Revolutionsjahre 1848/49 zurück – sie waren ein Katalysator der politischen Öffentlichkeit. Was lange unvorstellbar war, schien plötzlich möglich: demokratische Mitbestimmung, mündiges Bürgertum. Eine vielfältige Interessenorganisation.

Das war auf katholischer wie auf evangelischer Seite so. 1848 hielt auch Wichern seine berühmte Stehgreifrede auf dem Wittenberger Kirchentag, die zum Ausgangspunkt der Inneren Mission und Diakonie wurde.

1848 war aber ebenso die Geburtsstunde der Arbeiterbewegung. Im katholischen Bereich vor allem mit Namen wie dem Mainzer Bischof von Ketteler, später mit Adolph Kolping oder Franz Hitze verbunden.

Damals begann auch die politische Emanzipation der Frauen: Die katholische Frauenbewegung entstand ebenfalls in dieser Zeit. Und heute? Hat das ZdK eine Präsidentin, der Caritas-Verband auch. Und sogar die Bischofskonferenz hat eine Generalsekretärin.

Damals waren beide Kirchen sehr amtskirchlich, unbeweglich, doktrinär geworden, mit dem antimodernistischen Vaticanum I als Höhepunkt. Die zivilgesellschaftliche Bewegung wurde zum Besten, was den Kirchen passieren konnte: neues Leben, neuer Aufbruch, neue auch geistliche Impulse.

Ob wir heute mit unseren Kirchen in einer vergleichbaren Situation sind? Jedenfalls ist in meinen protestantischen Augen der Synodale Weg auch ein Versuch, Erstarrungen aufzulösen, als Dienst an der Kirche, nicht gegen sie.

Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten die deutschen Katholikinnen und Katholiken zu den aktivsten Verfechtern der demokratischen Gleichheits- und der liberalen Freiheitsrechte.

1.142 katholische Petitionen mit rund 273.000 Unterschriften erreichten das Frankfurter Parlament im Sommer 1848. Heute würden wir sagen: Starke Lobbyarbeit!

Die Paulskirchenverfassung von 1849 schrieb die Meinungs- und Pressefreiheit, die Freiheit von Vereinen und Versammlungen und vor allem die Glaubens- und Religionsfreiheit fest. Auch wenn die Verfassung letztlich nicht in Kraft gesetzt wurde, bedienten sich unter anderem die Katholiken dieser erstmals festgeschriebenen Freiheiten: Sie gründeten Vereine für religiöse Freiheit.

Innerhalb weniger Monate entstanden im Revolutionsjahr 1848 rund 400 „Pius-Vereine“ mit etwa 100.000 Mitgliedern. Was für eine Organisationsleistung – lange vor Erfindung des Telefons, der Mail-Verteiler, der Videokonferenz oder der Messenger. De facto waren das die ersten politischen Massenbewegung in unserer Geschichte.

Die katholischen Laien merkten: Mit gebündelten Kräften hatten sie eine Chance, in Staat und Gesellschaft etwas zu erreichen. Ihr Selbstbewusstsein erwachte – nicht nur gegenüber dem Staat, 
auch gegenüber dem Papst. Die Katholiken wollten ihre Überzeugungen offen leben. Die Gesellschaft mitgestalten. Wie das ZdK heute.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn Freiheits- und Mitbestimmungsrechte einmal in der Welt sind, entfalten sie ihre eigene Kraft und Dynamik.

Im Oktober 1848 versammelten sich Delegierte der „Pius-Vereine“ zu ihrer ersten Generalversammlung in Mainz: Der Katholikentag war geboren. Und mit ihm die katholische Laienbewegung.

Ihr Leitmotiv war in der Erklärung des Katholischen Vereins Deutschlands festgeschrieben: „Die Freiheit der Kirche ist die Mutter einer besseren Zukunft.“

Schon damit ging die Kirche über sich selbst hinaus und „suchte eben der Stadt Bestes“, wie Jeremia sagt, nämlich eine bessere Zukunft für die ganze Gesellschaft. Daraus erklärt sich das politische und soziale Engagement der Katholiken.

Ich finde es beeindruckend, wie stark und lebendig die katholischen Zivilgesellschaft innerhalb kurzer Zeit geworden ist. Mehr als 800.000 Mitglieder engagierten sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Arbeiter-, Frauen- oder Jugendvereinen. Hunderttausende nahmen an den Katholikentagen teil. So entstand eine offen-gelebte Kultur der Verantwortung für das Gemeinwohl – eine Voraussetzung für ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen.

Ich möchte exemplarisch an einige Persönlichkeiten erinnern, die den Katholizismus ebenso wie die deutsche Gesellschaft ihrer Zeit geprägt haben – auch weil ihre Themen (leider) alles andere als erledigt sind:

Ludwig Windthorst gründete die Zentrumspartei als Verfassungspartei und wurde im Kulturkampf zum Gegenspieler Bismarcks. Zugleich trat er gegen Antisemitismus auf und forderte gleiche Rechte für die jüdische Bevölkerung.

Oswald von Nell-Breuning war der Vater der katholischen Soziallehre, die mit ihren Prinzipien Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität großen Einfluss auf die Entstehung unserer Sozialen Marktwirtschaft hatte.

Der Mönchengladbacher Unternehmer Franz Brandts war mit seinem „Volksverein für das katholische Deutschland“ einer der Pioniere der Erwachsenenbildung. Mit dieser „Galoppuniversität“ wollte er die Massen belehren und ihre Mündigkeit fördern.

Und: Helene Weber war eine der ersten Parlamentarierinnen im Reichstag, im Preußischen Landtag und im Deutschen Bundestag. Als eine von wenigen setzte sie sich im Zentrum gegen das Ermächtigungsgesetz ein. Ihr verdanken wir den Gleichberechtigungsartikel unseres Grundgesetzes und die erste Frau im Kabinett Adenauer 1961.

Zuletzt Hans Joachim Meyer, Präsident des ZdK von 1997 bis 2009. Der erste aus Ostdeutschland. Mit klarem Kompass hielt er gegen römische Vorgaben stand und wurde zum Paten der katholischen Schwangerschaftskonfliktberatung donum vitae. Mit ökumenischem Sinn war er Präsident des Ök. Kirchentages 2003 in Berlin. Ich bin sehr glücklich, ihn immer wieder getroffen zu haben - in ökumenischer Mission vor allem. Wir Ostdeutschen hatten es damit über die Zeiten wegen der Repressionen einerseits und der Diasporasituation andererseits etwas leichter. Vor wenigen Wochen haben Sie von ihm Abschied nehmen müssen und ihn gewürdigt.

Es ist diese Orientierung am Gemeinwohl, die die katholische Zivilgesellschaft nun seit 175 Jahren prägt.

Die Katholikentage befassten sich immer mit drängenden Fragen der Zeit. Bis heute. Sie sind damit ein wichtiger Teil der öffentlichen Meinungsbildung.

Die Stellungnahmen des ZdK lesen sich wie ein roter Faden der gesellschaftlichen Entwicklung im Laufe der Jahrzehnte. Ob Nato-Doppelbeschluss, Anti-Atom-Bewegung, Deutsche Einheit, Flüchtlingskrise, Klimawandel oder innerkirchliche Debatten – etwa zum Missbrauchsskandal.

Als Bundestagsvizepräsidentin und auch ganz persönlich freut mich besonders ihr gegenwärtiges Engagement zur Stärkung der Wahlbeteiligung. Und: ZdK und Katholikentag haben sich klar gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck positioniert. Der Katholikentag Erfurt ist Teil des Netzwerkes „Thüringen weltoffen“. Die Mobilisierung der Demokraten ist ein Schlüssel zur Begrenzung der Rechtsradikalen.

Schon im November vergangenen Jahres hatte sich das ZdK, im Januar dann die nord-ostdeutschen Bischöfe als erste klar gegen eine Wahl von Rechtspopulisten ausgesprochen. Ihr Beispiel hat seitdem Schule gemacht, wenig später folgten die Diözesan- und Katholikenräte mit einer ähnlichen Erklärung, später auch die evangelischen Bischöfe 😉 Gut so!

Sehr geehrte Damen und Herren,
es war ein langer Weg, den die Katholikinnen und Katholiken im Wechsel der politischen Systeme gegangen sind: von der bevormundeten Minderheit in den Ländern des Deutschen Bundes über die Ausgrenzung im Kulturkampf, die politische Emanzipation in der Weimarer Republik, die furchtbaren Jahre des Nationalsozialismus bis zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Staat in der Bundesrepublik.

In der DDR blieb die kath. Kirche im „fremden Haus“. Einerseits durch ihre Westbindung: Die Gebiete Erfurt, Magdeburg und Schwerin blieben Teil von westdeutschen Bistümern. Andererseits durch die Weltkirchlichkeit. Unvergessen Kardinal Bengsch: „Meine Zentrale ist in Rom.“

Die Protestanten haben es sich, nun ja … etwas schwerer gemacht. Wir haben ja nicht diesen weltlichen Zwischenstopp in Rom. Also gab es eine strittige Debatte, ob man nun Kirche im Sozialismus, Kirche statt Sozialismus oder Kirche trotz Sozialismus sein wolle…

Beide Kirchen verstanden sich als Rückzugs- und Schutzraum, beispielsweise für die entstehende Friedensbewegung der Bausoldaten, die oft aus christlicher Überzeugung der Dienst an der Waffe ablehnten.

Ein Meilenstein war sicher die Elisabethwallfahrt zum 500. Todestag der ökumenischen Heiligen 1981 hier in Erfurt. 65 000 Katholik*innen kamen zusammen und zahlreiche ausländische Gäste. Ein einmaliges Gemeinschaftserlebnis, von den staatlichen Autoritäten beargwöhnt.

Zwei Jahre später gab es im Lutherjahr 1983 mit dem regionalen Kirchentag in Dresden mit 100.000 Menschen die teilnehmerreichste kirchliche Veranstaltung, die die DDR jemals gesehen hatte.

1987 dann das Katholikentreffen ebenfalls in Dresden. Ein Katholikentag, der nicht so heißen durfte. Sein Leitwort „Gottes Macht — unsere Hoffnung“: eine Absage an säkulare Hoffnungsträger. Im Rückblick spürt man schon den Anlauf zur Friedlichen Revolution.

In den oppositionellen Basisgruppen trafen sich Katholik*innen wie Protestant*innen, ebenso wie später bei den Montagsdemonstrationen. In ökumenischer Gemeinschaft brachten wir den SED-Staat zu Fall. Erkämpften uns Demokratie und Freiheitsrechte. Ein Meilenstein der ökumenischen Zivilgesellschaft.

Auch in den vergangenen Monaten haben Bürgerinnen und Bürger überall in unserem Land gezeigt, dass sie für unsere Verfassung einstehen – unter ihnen viele Christinnen und Christen. Menschen, die zum Teil noch nie auf einer Demo waren, hatten das Gefühl: Jetzt ist es soweit. In vielen Orten waren es die größten Demonstrationen in Ostdeutschland seit der Friedlichen Revolution. Und es stimmt: Was wir vor 35 Jahren erstritten haben, das müssen wir immer wieder verteidigen, gerade auch jetzt.

Das haben die Kommunalwahlen in Thüringen am Sonntag gezeigt. Wo die Zivilgesellschaft zusammenstand, auch die aus den Kirchengemeinden, da ist es oft gelungen, die Demokratiefeinde zumindest einzudämmen. Aber wir sollten uns nichts vormachen. Als stärkste Kraft in vielen Kommunalparlamenten wird es schwerer werden für Menschen, die anders sind, leben oder glauben, für Menschen, die sich einsetzen für Weltoffenheit und Demokratie. Viele haben heute Angst, was sie erwartet. Die meisten aber sind dennoch entschlossen! Sie werden auch den Schutz, die Klarheit und die Haltung brauchen, die wir Christenmenschen individuell wie institutionell bereits deutlich gemacht haben. Und: weil es etwas ist, das nur wir können: beten wir auch für sie.

Diese Demokratie ist nicht selbstverständlich! Sehr geehrte Damen und Herren, die freiheitliche Demokratie und ihre Werte brauchen das Engagement der ganzen Gesellschaft.

Ganz praktisch und nur als Beispiel: Rund 660.000 katholische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene engagieren sich in den Verbänden. So manche politische Karriere hat ihren Anfang in der Kirche genommen. Parteiübergreifend. Von Joschka Fischer über Norbert Blüm, Alois Glück und Wolfgang Thierse bis zu Andrea Nahles und dem ehemaligen OB von Erfurt Manfred Ruge, der sich schon vor der friedlichen Revolution weltkirchlich engagierte.

Gerade vor einigen Wochen fand wieder bundesweit die 72-Stunden-Aktion. Auch in Thüringen. Da wurden Stolpersteine geputzt in Arnstadt und Weimar oder in Pflegeheimen eine Begegnung der Generationen organisiert. In Erfurt war auch die Evangelische Jugend dabei. Ein tolles Beispiel für das gesellschaftliche Engagement der Kirche.

Sehr geehrte Damen und Herren,
können wir trotz all der Austritte, der Taufzurückhaltung und den moralischen Abgründen der sexuellen Gewalt zuversichtlich sagen, dass die Kirchen und ihre zivilgesellschaftlichen Kräfte eine wichtige Größe in Deutschland bleiben werden? Ich weiß es natürlich auch nicht, aber sicher bin ich: ohne dieses zivilgesellschaftliche Engagement der Christen*innen wird der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht besser.

Liebe Schwestern und Brüder,
Ich weiß, wie schwer und aufreibend und im Ergebnis auch nicht wirklich befriedend der synodale Weg ist. Ich weiß um die Enttäuschungen und die bleibende Hoffnung auch. Gleichwohl: in aller Unvollkommenheit, bei allem Schmerz – dieser Weg ist auch beispielgebend. Gerade nicht, weil alles richtig war und ist. Eine Gesellschaft kann davon lernen. Gerade in Umbruchzeiten und Krisen.

Und es bleibt ja: die Kirchen bauen Brücken in alle Schichten. Sie verfügen über ein enges Netz in der Gesellschaft: In praktisch jedem Dorf gibt es eine Kirchengemeinde oder wenigstens zwei oder drei, die sich versammeln. Die Kirchen sind keine „Bundesagentur für Werte“. Aber sie zeigen Haltung. Immer wieder. Sie stehen an der Seite der Schwachen und begleiten die Menschen in guten wie in schlechten Zeiten. Sie setzen sich für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ein. Sie leisten Versöhnungsarbeit. Und sie sind wichtige Partnerinnen des Staates in sozialen Fragen.

Das Land, in dem wir heute leben, ist nicht das, von dem wir einst träumten. Nicht die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die die Würde des Menschen ganz an den Anfang stellten und nicht die friedlichen Revolutionäre. Aber was heißt das? Dass wir eben nicht im Paradies leben… Und dass es Arbeit gibt.

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …“  heißt es in der Präambel des Grundgesetzes. Besser kann es kein Mensch sagen, aber größer kann die Aufgabe auch kaum sein.

Also, rausgehen und beieinanderbleiben. Annehmen, der oder die andere könnte auch recht haben. Zuhören und nicht zutexten. Widersprechen, wo nötig, aber ohne Schaum vorm Mund.  

Das ZdK und der Katholikentag sind ein wirklich guter Ort dafür. Auch deswegen bin ich heute so gern hier bei Ihnen. Ich danke Ihnen sehr für Ihr Engagement. Und freue mich auf unsere Diskussion. Heiter, unverzagt und behütet.
 

 


[1] www.dbk-shop.de/media/files_public/2da768e87065fe6d472f43de8d4b734c/DBK_5339.pdf

Rede “175 Jahre Zivilgesellschaft” als Pdf

Diesen Artikel teilen:
Schlagworte