Ein kritischer Versöhner
Portrait des ehemaligen ZdK-Präsidenten Hans Joachim Meyer
Hans Joachim Meyer war ein großer Analytiker „der beiden deutschen Gesellschaften“. So beschrieb er die durch Mauer und Stacheldraht getrennten Menschen, deren Blick auf die Welt er über Jahrzehnte genau bedachte. Als 1990 das Ende der DDR besiegelt wurde, war er Minister für Bildung und Wissenschaft in der Regierung de Maizière, der einzig frei gewählten der DDR. Für Meyer war diese Zeit der Auftakt zu einem Leben im vereinten Deutschland, von dem er sich ersehnte, dass „die neu gewonnenen Energien zur Verwirklichung von Demokratie, für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eingesetzt werden“. Der CDU-Politiker, Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und langjährige Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) starb am Karfreitag, 29. März 2024, im Alter von 87 Jahren.
Sein Vermächtnis bleibt jener Wunsch aus dem Mai 1990. Würde er sich jetzt noch einmal zur Lage im Jahr 2024 äußern können, wäre es ihm wohl ein Anliegen, alle Energien darauf zu verwenden, die neue Gefährdung all der großen Werte abzuwenden, für die er selbst entschieden einstand. Im Mai 1990 hatte er gemeinsam mit anderen die „Berliner Erklärung“ zu Papier gebracht. Darin positionierten sich Katholik*innen in Deutschland zu ihrer gemeinsamen Zukunft, zu Zielen, Hoffnungen und Idealen. Die Vollversammlung des ZdK, der Gemeinsame Aktionsausschuss katholischer Christen in der DDR und die Vertreter*innen des Laienapostolats aus den Jurisdiktionsbezirken der Berliner Bischofskonferenzen wollten ein Zeichen setzen: Wir sind da. Wir sind viele. Und wir werden dieses Land mitgestalten.
Für Hans Joachim Meyer ist dieser Wunsch Wirklichkeit geworden. Als Minister in Berlin. Später als Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst (1990-2002) und als Präsident des ZdK von 1997 bis 2009.
Wer an ihn zurückdenkt, hat einen Mann vor Augen, der sich nicht beirren ließ in seiner Haltung. „Er hat den Laienkatholizismus am Beginn des neuen Jahrtausends und an einem Wendepunkt deutscher Geschichte maßgeblich geprägt“, sagt die amtierende ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp. „Er lebte und handelte aus einer engen Verbindung seiner politischen Überzeugungen und seines Glaubens heraus. Durch seine Geradlinigkeit und seinen in der Zeit der DDR erworbenen untrüglichen Sinn für die Achtung und den Respekt vor der Würde jedes Menschen hat er sich bei allen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kräften in Deutschland höchsten Respekt erworben.“
Birgit Mock, Vizepräsidentin des ZdK, hat Meyer in einer herausfordernden Zeit als ZdK-Präsident erlebt: „Vor allem in Bezug auf Donum Vitae haben wir ihm viel zu verdanken“, erinnert sie sich. „Seine ostdeutsch geprägte Klarheit und Sturheit haben dem ZdK damals sehr gutgetan.“
Klarheit und Sturheit – Hans Joachim Meyer hätte beides als Kompliment genommen. Er befand es nie für nötig, um den heißen Brei herumzureden. Schon gar nicht verlor er seine Ziele aus den Augen. So auch nicht im Jahr 1999, auf das Birgit Mock anspielt. Im Konflikt mit Rom um die Schwangerenkonfliktberatung in Deutschland stand er hinter der Gründung des Beratungsvereins Donum Vitae. Die Hauptinitiative dazu kam aus dem ZdK, und Meyer stand dafür ein, dass sich verantwortungsvolle Katholizität auch darin beweisen musste, sich für ein bleibendes Engagement in diesem Bereich stark zu machen. Dafür war er bereit, den Konflikt mit Bischöfen und Kardinälen auszuhalten und auszutragen.
Im Bistum Augsburg erhielt er deshalb noch 2012 ein Auftrittsverbot. Was ihn nicht davon abhielt, öffentlich daran zu erinnern, dass es „eine gröbliche Unterlassung“ Papst Johannes Pauls II. gewesen sei, „dass Rom nicht mit den Evangelischen geredet hat“. Wäre dies geschehen, so Meyer, wäre dem Papst vielleicht klar geworden, wie wichtig eine gemeinsame christliche Haltung im deutschen Beratungssystem gewesen sei. So wurde der Ausstieg der katholischen Seite von Rom aus dekretiert – und das ZdK leistete unter Meyer seinen eigenen Beitrag zum Erhalt der christlichen Haltung in der Schwangerenkonfliktberatung.
Als Katholik in der DDR aufgewachsen, stand Meyer trotz aller persönlichen Benachteiligungen durch staatliche Stellen zu seiner Kirche und seinem Glauben. So engagierte er sich als führende Laienpersönlichkeit in seiner Kirche, unter anderem zwischen 1973 und 1975 als Mitglied der Dresdner Pastoralsynode. Nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrungen in der DDR war ihm die Ökumene ein Anliegen. Den Ersten Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin gestaltete er als dessen katholischer Präsident - und setzte damit für die ökumenische Zusammenarbeit ein wichtiges Zeichen.
„Er war auch ein großer Fan unserer Katholikentage“, sagt die Rheinländerin Birgit Mock, die darauf anspielt, dass das ZdK sich im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg als fester Veranstalter dieser christlichen Großtreffen wieder etabliert hatte. Meyer sei es maßgeblich zu verdanken, dass ostdeutsche Basiskultur in die Katholikentage einzog: „Die Begriffe ‚Forum‘ und ‚Feiern‘ sind von ihm – beides Attribute, die bis heute zu den Katholikentagen in Deutschland gehören.“
„Er hatte maßgeblichen Einfluss auf das Zusammenwachsen der Katholiken in Ost und West, verstand es, Lebenswelten zusammenzuführen und mit brillanten Analysen der deutsch-deutschen Wirklichkeit für ein wechselseitiges Verstehen zu werben“, würdigt ihn Irme Stetter-Karp.
Wechselseitiges Verstehen – dazu gehörte für Meyer, Kritik in alle Richtungen zu verteilen. Den Westdeutschen warf er vor, sich spätestens mit der 68er-Revolution von „der Existenz einer deutschen Kultur und der Vorstellung von einer geschichtlich gewachsenen und sich natürlich auch verändernden kulturellen Identität der Deutschen“ verabschiedet zu haben. Das habe auch die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung in den Hintergrund rücken lassen. „Für viele Nachachtundsechziger ist es charakteristisch, alles Deutsche generell in den Verdacht des Nationalismus und Rassismus zu bringen“, schrieb er noch 2018 in einem Beitrag zum Buch „Revolte in der Kirche? Das Jahr 1968 und seine Folgen“. Das schmerzte ihn umso mehr, als er fassungslos mit ansah, wie sich rechte Kräfte des Begriffes „Leitkultur“ bemächtigten und ihn gegen Vielfalt, Freiheit und Solidarität zu wenden begannen.
Den Ostdeutschen, insbesondere den ostdeutschen Katholik*innen, machte Meyer dagegen ihre viel zu lange währende „vorsichtige Zurückhaltung“, ihre „schweigende Distanz“ zum SED-Regime zum Vorwurf. Die katholische Kirche in der DDR habe die Zeichen der Veränderung in den 1980er Jahren zu spät erkannt, die evangelischen Kirchen seien „ungleich mutiger und sehr viel früher“ bereit gewesen, in ihren Häusern den entstehenden unabhängigen Gruppen Raum und Schutz zu geben. Gleichzeitig habe gerade die katholische Abständigkeit dazu geführt, dass sich Katholik*innen keine Illusion über eine „Reformierung der DDR“ gemacht hätten. Sie hätten stattdessen auf die Wiedervereinigung Deutschlands gesetzt.
Unmittelbar nach der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 wurde Hans Joachim Meyer im Frühjahr 1990 zum Vorsitzenden des neu gegründeten Gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer Christen in der DDR gewählt. „In dieser Position trat er mit großer Umsicht und Kenntnisreichtum für die Einigung der katholischen Laienbewegung in Deutschland ein, die er maßgeblich voranbrachte“, sagt Stetter-Karp.
Hans Joachim Meyer war ein kritischer Versöhner, gerade dort, wo die Wunden der über vierzig Jahre währenden deutsch-deutschen Teilung besonders zu spüren waren. Indem er alle kritisierte, wenn es ihm nötig schien, und gleichzeitig alle an der Vision eines neuen Miteinanders teilhaben ließ, war er tief glaubwürdig. Sein Glaube half ihm, herrschaftsfreie Räume zu schaffen und sie zu schätzen, wo er sie bereits vorfand. „Wir haben ihm gleichermaßen eine Kulturstärkung und einen Kulturwandel im ZdK zu verdanken“, sagt Irme Stetter-Karp. „Hans Joachim Meyer sorgte für eine klare Positionierung des ZdK nach außen und innen für eine schnörkellose, direkte Debattenkultur. Für ihn zählte immer die Kraft des besseren Arguments. Wie gut wäre es, diese Haltung heute neu als selbstverständliche Basis der Auseinandersetzungen in Politik und Gesellschaft zu erleben.“
(Britta Baas)
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