Wir brauchen Zumutungsmut!

ZdK-Thema des Monats Dezember 2024

Vor über 40 Jahren kam es zum Koalitionsbruch der sozialliberalen Regierung Schmidt-Genscher. Vor rund 20 Jahren stellte ein Bundeskanzler (Schröder) zuletzt die Vertrauensfrage mit dem Ziel, kein Vertrauen ausgesprochen zu bekommen. Nun stellt sie also auch Olaf Scholz. Wir leben in historischen Zeiten. Die Dynamik auf dem Parteienmarkt ist schwer abzuschätzen. Aber die politische Mitte scheint besonders gefordert. Die vorgezogene Bundestagswahl verstärkt diesen Eindruck. 

Das Ampel-Aus empfanden nicht nur viele als Erlösung vom Dauerstreit, sondern auch als Chance, die demokratisch Aufbruchsbereiten auf dem Wählermarkt neu zu mobilisieren. Bislang spricht deshalb viel dafür, dass sich auch bei der vorgezogenen Bundestagswahl historische Muster des Wählens in Deutschland fortsetzen: Wir wählen überwiegend moderat und mittig. Das gilt bei Hauptwahlen wie der Bundestagswahl für mehr als 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler.  Unabhängig davon radikalisieren sich die politischen Ränder, vor allem mit der AfD auf der rechtsextremen Seite.

Wohin eine Gesellschaft driftet, entscheidet sich aber meist nicht an den politischen Rändern. In Deutschland ist vielmehr weitgehend die politische Mitte ausschlaggebend – und welche Tonalität diese setzt. Was länger anhält, ist der Umsturz im Zeitgefühl. Weil sich alles in hoher Geschwindigkeit ändert, nimmt die Nostalgie und die Sehnsucht nach beruhigender Übersichtlichkeit und strukturierter Gegenwart zu. Die Transformationserschöpfungen fördern ein Rollback durch rechte, linke und radikale Diskurse des autoritären Populismus: Früher schien es danach nicht nur übersichtlicher, sicherer und geordneter, sondern auch wohlstandserhaltender. Zudem fördert demografische Angst in schrumpfenden Gesellschaften eine Wagenburgmentalität, die mit allem Fremden fremdelt.

Das könnte leicht aufgefangen werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck hätten, in einem funktionierenden Staat zu leben. Faktisch funktioniert hier sicherlich sehr viel – auch und gerade im Vergleich zu anderen Ländern. Aber im immer teurer werdenden Alltag dominieren für viele Menschen die Widrigkeiten. Sie sehen nur noch, was alles defekt ist: auf der Straße, der Schiene, in den sozialen Netzwerken. So hat sich in den letzten Jahren allmählich das Verhältnis von Regierenden und Regierten verkompliziert. Staatsverächtlich sind inzwischen auch manche bürgerlichen Wähler unterwegs, und Hass ist hungrig. 

Es gibt auch 2025 viele Wege, den Durchmarsch von Demokratieverächtern zu verhindern und sich den politischen Empörungsunternehmern zu widersetzen. Der jetzt entfachte neue Wettbewerb um lösungsorientierte Angebote der Mitte-Parteien hat alle Chancen, den demokratischen Raum zu erweitern, wenn wir in der Wählerschaft den Eindruck gewinnen, unser Alltag wird besser. Und genau das steht zur Wahl. Ein Ideenwahlkampf mit konkreten Konzepten – von Miete über Mobilität bis zur Pflege - zieht die gesamte Aufmerksamkeit ins Zentrum des Demokratiegeschehens. Die Auswege minimieren zudem die Angst. Zumutungsmut und Zuversicht lassen das Sickergift der AfD versiegen.

 

Prof. Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler, hat seit 2002 einen Lehrstuhl an der Universität Duisburg-Essen inne. Seit 2006 ist er Direktor der NRW School of Governance. Er berät den ZdK-Sachbereich „Politische und ethische Grundfragen“. In den Medien tritt er regelmäßig als Gast für Wahlanalysen auf. Buchhinweis: Korte, Wählermärkte. Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2024.

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