Widersprecht der autoritären Versuchung!

ZdK-Thema des Monats November 2024

35 Jahre nach friedlicher Revolution und Überwindung der Mauer erleben wir einen Einschnitt in der deutschen Demokratiegeschichte seit 1945. Bei gleich drei Landtagswahlen verhelfen meine ostdeutschen Landsleute einer rechtspopulistisch-rechtsextremistischen Partei, der Partei eines völkischen Nationalismus, zu einem dramatischen Erfolg. Nur eine Protestwahl? Die Wähler in Sachsen und Thüringen wussten genau, wen sie wählen – Höcke und Co. haben sich deutlich genug ausgedrückt. Viele wählten die AfD aus Überzeugung, aus inhaltlicher Übereinstimmung. Da ist nichts zu beschönigen. Noch nie in Nachkriegsdeutschland haben Rechtsextreme so viel und so gefährliche Macht erhalten. Zugleich wählen andere das »Bündnis Sahra Wagenknecht« (BSW), dessen Programm in einer Person besteht, das zwar kaum Mitglieder hat, aber dafür zwei sehr großzügige Spender – und ganz viel Verheißung. »Bei uns bekommt die Zukunft eine Heimat«, heißt es auf einem BSW-Plakat.

Apokalyptische Bilder

Ich war in den vergangenen Monaten mehrfach in Thüringen. Das Ausmaß der Wut gegen »die da oben«, hat mich erschreckt, dieser Hass auf demokratische Politiker und Institutionen. Meinungsumfragen belegen eine wachsende Zustimmung zu Gewalt. Das Wahlergebnis ist Ausdruck dieser Wut und der massiven Unzufriedenheit mit den Landesregierungen und vor allem der Bundesregierung. Das ist verständlich. Diese Bundesregierung quält uns mit ihrem ständigen Streit, sie erscheint als nicht fähig, einen riesigen Problemberg auf überzeugende Weise zu bewältigen. Also doch eine Protestwahl der ostdeutschen Abgehängten? 

Mir ist ein Widerspruch aufgefallen: Viele Ostdeutsche schimpfen hemmungslos, malen die Lage schwarz, das Land scheint ihnen im Untergang. Und zugleich sagen die meisten: Mir geht es eigentlich gut. Das ist ein Widerspruch, der durch viele Meinungsumfragen bestätigt wird. 

Man sollte sich also vor monokausalen Erklärungen hüten. Da mischen sich nämlich ostdeutsche Renitenz gegen westdeutsche Dominanz mit Ärger über nach wie vor bestehenden ökonomisch-sozialen West-Ost-Differenzen (z.B. bei Einkommen, Vermögen und Wirtschaftskraft) und mit einer „Veränderungserschöpfung“ (Steffen Mau), die in Ostdeutschland besonders heftig und aggressiv wahrzunehmen ist. Hier trifft die gegenwärtige, heftige Veränderungswelle (Migration, Pluralisierung unserer Gesellschaft, Digitalisierung, ökologische Transformation) auf Menschen, die in den 90er und 2000er Jahren bereits tiefgreifende Veränderungen mit großen Schmerzen zu bestehen hatten. Nicht schon wieder! Das macht nicht Wenige empfänglich für die Botschaften von Populisten, für politische Erlösungsangebote. Das ist gefährlich da, wo eine ambivalente Staatsfixierung und autoritäre Prägungen aus der „vormundschaftlichen DDR“ nachwirken.

Die Wahlergebnisse vom September zeigen: Nach 34 Jahren deutscher Einheit haben wir es nach wie vor mit einer unterscheidbaren politischen Kultur zu tun. Diese ist im Osten fragiler, mit schwächeren demokratischen Strukturen, mit weniger festen Parteibindungen und vor allem bei vielen Menschen mit einer anderen Vorstellung von Demokratie: Sie wollen weniger Parteiendemokratie – mit ihrem Regelwerk und Institutionengefüge und ihren zeitraubenden Entscheidungsprozessen –, sondern eine direktere Demokratie. Der Volkswille soll vollzogen werden, statt quälendem Streit soll es die umweglose Durchsetzung der Mehrheitswünsche geben, durch eine entschlossen geführte Politik und klare Führung.

Diese Demokratievorstellung –- dokumentiert durch die Wahl zweier unterschiedlich autoritärer Parteien - ist eine Herausforderung für die Parteien, die das politische System der Bundesrepublik tragen. Dieses System, fundamentaler Teil der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, muss sich neu bewähren – in Ostdeutschland vor allem, in unruhigen Zeiten von Krisen und Umwälzungen und angesichts von so viel Veränderungsschmerz und Unwillen. Es muss keine Wunder bewirken, aber soll gute Politik machen. Die Demokraten haben die Pflicht, der autoritären Versuchung und Verführung zu widersprechen und zu widerstehen. Das ist allerdings nicht nur eine ostdeutsche Angelegenheit.

Dr. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., war bis 2021 langjähriges persönlich hinzugewähltes Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). 

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