Europas Osten – Europas Westen: Geeint in Uneinigkeit? Perspektiven vor den Europawahlen

ZdK-Thema des Monats Juni 2024

Wilnius, Warschau, Bratislawa – vor zwanzig Jahren wurde in Europa groß gefeiert. Zum 01. Mai 2004 traten acht Länder Mittel- und Osteuropas der Europäischen Union bei. Das galt als Momentum historischer Gerechtigkeit und als einzigartige Chance, Freiheit und Sicherheit in Europa nachhaltig zu stärken.

Aus Sicht von Polen oder der damaligen Tschechoslowakei ging es „Zurück nach Europa“, was schon 1989 in der tschechischen „Samtenen Revolution“ gerufen wurde. Die Befreiung aus dem sozialistischen Lager galt als Rückkehr in den „Westen“ - aus dem die Kultur der Länder kam und der für politische Freiheit stand.

Schnell entwickelte sich auf beiden Seiten des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ ein Konsens: Der Westen bringt know-how, das für die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Ostens gut genutzt werden kann.

Vom EU-Beitritt haben die Länder Mittel- und Osteuropas nachweislich profitiert. Zum Beispiel Estland: wie die anderen Länder der ersten Erweiterungsrunde ist das Land Nettoempfänger, es gilt als Digitalisierungs-Vorreiter, die Löhne steigen. Polen hat eine ähnlich starke Bilanz und nimmt im europäischen Vergleich Spitzenplätze ein.

Schon vor der Osterweiterung zeigten sich konfligierende Interessen, etwa als Polen, Litauen oder Tschechien sich in die US-geführte „Koalition der Willigen“ einreihten und den Angriff auf den Irak stützten. Heute sind mitteleuropäische EU-Staaten im kritischen Visier der „alten EU-Länder“. Ungarn steht seit Jahren im Fokus der Rechtsstaats-Debatten. In Polen werden nun Schritte zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz gegangen. Das bedeutet jedoch nicht zwingend Veränderungen anderer politischer Interessen. Mitte Mai stimmten beide Länder gegen das EU-Migrations- und Asylpaket. Konfliktiv bleiben die EU-Reform, die Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit gen Osten. 

Versteht der Westen immer in der Tiefe, worum es seinen mittelosteuropäischen Partnerinnen und Partnern geht? Die Frage der Gleichberechtigung ist für die kleinen EU-Mitglieder im Osten zentral. Sie nehmen ein Dominanzgefälle wahr; weshalb Mehrheitsentscheidungen wenig populär sind, auch aus Angst, nachhaltig überstimmt zu werden. Seit der Krim-Annexion 2014 ist in Polen und anderen Ländern an der EU-Ostgrenze das Bedrohungsgefühl stark gestiegen. Die Länder warnten früh vor Putins Ambitionen und versuchten, ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. In Deutschland führte erst der russische Angriffskrieg zu einer deutlich veränderten Wahrnehmung, wozu auch Bundeskanzler Scholz mit seiner „Zeitenwende“-Rede beitrug. 

Das Europäische Parlament hat in der nächsten Legislatur nach innen wie außen multikomplexe Herausforderungen zu bewältigen. Immer wieder hören wir aus dem östlichen Teil Europas den vermeintlich überraschenden Satz „Wir sind die echten Europäer!“ Vielleicht schärft der Satz den Blick für die mitteleuropäischen Perspektiven und ihre historische Prägung. Das kann im Ringen um politische Interessen und um die Zukunft der EU nur hilfreich sein.

 

Claudia Gawrich, Leiterin der Abteilung “Kirche und Gesellschaft” im ZdK

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