Demokratie wählen. Europa weiterbauen

Beschluss der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Die Europawahl ist die Richtungsentscheidung für den Kontinent, in welcher der politische Gestaltungsspielraum der nächsten fünf Jahre markiert wird. Wir rufen zur Teilnahme an der Europawahl auf – für ein starkes demokratisches Votum, mit dem das Projekt eines in Vielfalt geeinten, freien und gerechten Europas eine Zukunft hat. Nationalismus und Extremismus, Diskriminierung und Ausgrenzung bedrohen die Errungenschaften der europäischen Integration und den Kern unserer Demokratie. Wir stehen ein für eine Politik, welche die Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie verteidigt. Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit – jene Prinzipien, an denen die christliche Sozialethik ihre Vorschläge für eine gerechtere Welt ausrichtet – sind für uns auch europapolitische Leitplanken. Es braucht nach der Wahl eine auf diesen Werten fußende stabile parlamentarische Mehrheit und eine handlungsfähige Europäische Kommission. Die Verantwortlichen müssen den Herausforderungen begegnen und die EU stärker und zukunftssicher aufstellen. Wir wenden uns entschieden gegen extremistische und populistische Strömungen.

 

(1) Eine reformierte und handlungsfähigere Europäische Union
Auf Initiative des Europäischen Parlaments wird der Europäische Rat im Juni 2024 eine Road Map vorlegen, um das Verfahren für eine institutionelle Reform zu skizzieren. Die geopolitischen Bedrohungen erhöhen den Reformdruck. Auch deshalb werben wir für ein ambitioniertes Vorgehen. Die Europäische Union steht vor der Herausforderung, geschlossen einen Reformprozess zu durchlaufen, welcher insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik Handlungsfähigkeit durch mehr qualifizierte Mehrheitsentscheidungen statt der bisherigen Konsensentscheidungen ermöglicht. Die Reform soll die EU befähigen, weitere Staaten aufzunehmen, indem sie dysfunktionale und träge Entscheidungsstrukturen abschafft. Dabei ist Europas wirtschaftliche Kraft eine wichtige Grundlage für seine politische Behauptung.

(2) Eine erweiterte Europäische Union
Seit der russischen Invasion 2014 ist die Ukraine Europas klaffende Wunde. Die EU hat angesichts des erneuten völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und des daraus resultierenden Kriegs umfangreiche Unterstützung bereitgestellt und eine ukrainische Beitrittsperspektive eröffnet. Auch im Hinblick auf Georgien, Moldau und die Länder des Westbalkans hat ein Umdenken eingesetzt. Die Erweiterung der EU sollte Hand in Hand mit institutionellen Reformen gehen. Erwartungen, Enttäuschungen und Ängste, die in diesen Prozessen mitschwingen, müssen konstruktiv aufgefangen werden. Wir werben dafür, die Unterstützung der Beitrittskandidaten mit einer auf Raten ausgelegten, schrittweisen Integration gezielt fortzusetzen und die angestoßenen Dialoge engagiert zu Erfolgen zu führen. Wenn die EU diese Länder nicht integriert, werden andere weltpolitische Kräfte ihren Einfluss massiv erhöhen.

(3) Eine rechtsstaatliche Europäische Union
Weltweit entstehen und erstarken Autokratien. Europa muss gerade deshalb demokratisch standhaft bleiben, entschieden gegen Desinformation und Korruption vorgehen und die im Vertrag über die Europäische Union, in der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention verbindlich festgelegten Rechte und Werte verteidigen. Wenn die Rechtsstaatlichkeit erodiert, ist das Fundament der Europäischen Union bedroht. Die EU setzt deshalb auf Rechtsstaatsberichte, den Rechtsstaatsdialog, den Rechtsstaatsmechanismus zum Schutz des EU-Haushalts und nötigenfalls das Grundwerteverfahren (Art. 7 EUV). Sie darf nicht nachlassen, präventive und sanktionierende Instrumente einzusetzen, und muss bei eklatanten Verstößen Vertragsverletzungsverfahren einleiten.

(4) Eine nachhaltige Europäische Union
In der neuen Legislaturperiode wird sich zeigen, ob die Europäische Union ihr Ziel erreichen wird, bis 2030 jährlich 55 % weniger Treibhausgase als 1990 zu emittieren. Wir werben dafür, dieses Rahmenwerk voll umzusetzen und rasch eine Einigung über das neue Klimaziel zu schaffen, wonach die Einsparung bis 2040 bei 90 % liegen soll. Gleichzeitig plädieren wir dafür, möglichst beide Zielmarken durch einen effektiven Nexus von klimapolitischer Konsequenz, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und wirksamer Armutsbekämpfung zu übertreffen. Schöpfungsverantwortung bedeutet für uns, den Green Deal nicht zur Disposition zu stellen, sondern ihn energisch weiter voranzutreiben. Dazu gehört eine mutige Neuaufstellung der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, die spätestens in der neuen Förderperiode ab 2028 gemeinwohlorientierter ausgerichtet werden muss. Um effektive Umwelt- und Gemeinwohlleistungen besser zu fördern muss der bürokratische Aufwand minimiert werden, damit wird die Beantragung von Fördermitteln effektiver gestaltet. Die Mitgliedstaaten müssen so schnell wie möglich die Vorgabe aus dem Europäischen Recht umsetzen: Nicht nur die Mittel aus dem Klimasozialfonds, sondern alle Einnahmen aus dem Emissionshandelssystem für den Gebäudesektor und den Straßenverkehr (ETS II) müssen gezielt unter Berücksichtigung sozialer Aspekte eingesetzt werden. Menschen mit unterdurchschnittlichen Einkommen müssen viel stärker als bisher unterstützt werden, zum Beispiel durch eine Förderung der Sanierung von Mietswohnungen, welche die Mieterinnen und Mieter wirksam entlastet. In allen Sektoren müssen starke Anreize für die Transformation aufrechterhalten werden. Die Eindämmung von Armut und Klimakrise muss Hand in Hand gehen. Dies bedeutet auch, Lieferketten fair und resilient zu gestalten.

(5) Eine schützende Europäische Union 
Die EU-Grundrechtecharta und die Genfer Flüchtlingskonvention sind die rechtlichen Anker für Schutzsuchende in der Europäischen Union. Wir stehen solidarisch dafür ein, den Zugang zu individuellem Flüchtlingsschutz in der EU zu gewährleisten. Die Bestimmung von sogenannten sicheren Drittstaaten darf nur im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention vorgenommen werden. Die EU muss Menschenrechtsverstöße an ihren Außengrenzen konsequent vermeiden und verfolgen. Um das Leid und das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden, braucht es mehr legale und sichere Zugänge in die Europäische Union. Ein Ausbau der solidarischen Verteilung der Geflüchteten bleibt unverzichtbar, um die Verantwortung für die Schutzsuchenden gemeinsam wahrzunehmen und keinen Staat zu überfordern. Das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten haben sich auf ein neues Gemeinsames Asylsystem geeinigt. Bestehende Missstände dürfen aber nicht legalisiert werden. Deshalb sind jetzt eine menschenrechtskonforme Umsetzung und eine stetige Überprüfung in der Praxis geboten. Der dank der Aktivierung der Richtlinie über vorübergehenden Schutz entbürokratisierte Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine war eine positive Erfahrung, aus der die EU für ihre künftige Asylpolitik lernen muss.

(6) Eine jugendgerechte Europäische Union
Junge Menschen organisieren sich, um gemeinsam mehr zu erreichen. Demokratische Jugendverbände sind Werkstätten der Demokratie und der Interessensvertretung. Sie müssen in Gesetzgebungsprozesse einbezogen und finanziell gefördert werden. Förderungsmöglichkeiten wie Erasmus+ und das Europäische Solidaritätskorps müssen ausgebaut und bedarfsgerecht gestaltet werden. Die Bekanntheit dieser Programme muss gesteigert und die Antragsstellung vereinfacht werden, damit die Förderung bei den jungen Menschen ankommt. Zudem braucht es eine planbare und bedarfsgerechte Ausstattung von Jugendverbänden in den EU-Mitgliedsstaaten sowie von länderübergreifenden oder europaweiten Jugendverbänden. Dabei muss auch eine strukturelle Förderung der Verbände durch europäische Mittel sichergestellt werden. Eine reine Projektförderung reicht nicht aus, um die für die Zukunft der Demokratie enorm wichtige Arbeit der Jugendverbände zu gewährleisten.

(7) Eine Kirche, die mitwirkt
Wir nehmen wahr, dass sich in den europäischen Gesellschaften die Wertebindungen der Bürgerinnen und Bürger grundlegend verändern. Als glaubens- und wertebasierter Akteur bringen wir uns aktiv in den gesellschaftlichen Dialog ein. Als Gläubige wirken wir auch am Wahltag daran mit, die vor uns liegenden Aufgaben mit Zuversicht zu bewältigen. Mit unserer christlichen Haltung wirken wir Spaltung, Resignation, Menschenfeindlichkeit und Demokratieverachtung entgegen. Auch in unserem alltäglichen kirchlichen Engagement setzen wir uns dafür ein, dass die Würde jedes Menschen, die soziale Gerechtigkeit und die ökologische Nachhaltigkeit die Kriterien sind, welche nicht nur die Entscheidung der Wahlberechtigten, sondern auch das Handeln der politisch Gewählten maßgeblich bestimmen.

Beschluss “Demokratie wählen. Europa weiterbauen” als Pdf

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