Spiritueller Missbrauch – Spirituelle Selbstbestimmung
Beitrag des AK Aufarbeitung im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Kolleg*innen, liebe Geschwister im ZdK,
lassen Sie mich mit Erwartungsmanagement starten: Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition spirituellen Missbrauchs. Auch ich werde das heute nicht leisten können. Diese Aussage kann jedoch keinesfalls als Ausrede dienen, die Beschäftigung mit unserer Thematik zu unterlassen, denn eines ist sicher: Es gibt spirituellen Missbrauch. Die Nachrichten der vergangenen Woche haben das leider wieder bestätigt.[1] Und Menschen werden durch ihn immens geschädigt.
Tatsächlich kann es schon deshalb keine allgemein akzeptierte Definition von „spirituellem Missbrauch“ geben, weil es kein allgemein rezipiertes Verständnis von Spiritualität gibt. Spiritualität ist selbstverständlich kein exklusiv katholischer oder christlicher Begriff. Spiritualität kann sich auf eine konkrete Religion beziehen, muss es aber nicht. „Ich habe Zugang zu Spirituellem, im landläufigen Sinn gläubig bin ich nicht“, so lautet die Selbstauskunft gar nicht so weniger Zeitgenossen. Spiritualität kann eine Lebenshaltung sein, kann die Verbundenheit mit Mitmenschen, der Welt und höheren Mächten bedeuten, kann Sinnressource und moralischer Impetus sein, und vieles mehr.[2] Spiritualitäten sind höchst individuell und doch kulturell, sozial und eben auch kirchlich vermittelt.
Dieser Exkurs wäre nicht nötig, hätte „Spiritualität“ nicht gesamtgesellschaftlich Konjunktur. Ich möchte das an drei Beispielen illustrieren:
a) In der Spiegel-Bestsellerliste werden Sie immer wieder spirituelle Titel finden – in diesem Jahr zeitweise auf Platz 1 „Soul Master: Wie du deine Seelenkräfte entfesselst und das Universum auf deine Seite bringst“. Je globaler das Versprechen, desto größer scheint der Verkaufserfolg. Desto größer meine Nervosität. In jedem Fall zeugt die Popularität solcher Titel von einer spirituellen Sehnsucht auch über organisierte Religion hinaus.
b) „Spiritual care“ wird immer mehr als eine Aufgabe der ganzheitlichen Palliativversorgung gesehen. Sie ist multiprofessionell und soll nach der WHO körperliche ebenso wie psychosoziale und spirituelle Probleme integrieren.[3] Transdisziplinäre Forschungen zu „spiritual care“ nehmen zu; Seelsorge gilt in diesem Kontext als spezialisierte spiritual care.[4]
c) In den 10 Prinzipien von „Extinction Rebellion“ finden sich zahlreiche spirituelle, auch christliche Anleihen. Zu einer „Kultur der Regeneration“ (3. Prinzip) können nach der englischen Version auch „Ritual und Gebet“ gehören – um, ich zitiere, „Inspiration in Dingen zu finden, die größer sind als wir selbst“.[5]
Sie ahnen es: Nicht nur in christlichen Kontexten kann Spiritualität einerseits lebensdienlich sein und andererseits missbraucht werden. Die Befassung mit spirituellem Missbrauch ist deshalb nicht nur eine interne Aufgabe von Religionsgemeinschaften, sondern auch gesellschaftlich relevant.
I. Drei Thesen
I.1. Missbrauch, spiritueller wie sexueller, geschieht dort, wo die Not oder die Sehnsucht am größten sind.
Wohnungslosigkeit, Migration, Trauer oder Überlastung machen Menschen ebenso verletzlich wie die Sehnsucht nach Wettkampferfolgen[6], Karriere oder geistlicher Erfahrung. Der Spitzensport und geistliche Gemeinschaften sind deshalb Orte, wo besonders häufig Missbrauch geschieht, weil Menschen hier ihre Sehnsucht leben. Sie setzen alles auf eine Karte, sie riskieren einen Lebensentwurf. Das macht sie verletzlich und abhängig zugleich. Die Täter*innenstrategien sind strukturell ähnlich, auch wenn sich die Heilsversprechen unterscheiden – im einen Fall beispielsweise Gesundheit oder besondere Förderung, im anderen eine vertiefte Gottesbeziehung. Diese Beobachtung spricht keineswegs generell gegen den Spitzensport oder gegen geistliche Gemeinschaften, wohl aber für eine Risikoanalyse und für gezielte Strukturveränderungen.
Stimmen von Betroffenen
Im Herbst 1986 war mein Vater plötzlich nach schwerer Krankheit, verstorben. Ich war ein halbes Jahr wie gelähmt vor Trauer. … Ich fühlte mich alleine auf der Welt. Das war meine Ausgangssituation, als ich in die Exerzitien unseres Konvents ging.
Der Pater zog durch seine ganze Art die Schwestern an, auch mich. Zu Beginn verlangte er, dass wir alle weiteren Gebete, Stundengebet, Rosenkranz und Anbetung weglassen: Nur die Hl. Messe und die Meditation seiner Vorträge waren erlaubt. Er habe vom Papst die Erlaubnis, von allen Gebeten zu dispensieren. … Mit innerem Widerstreben wurde es von der Oberin erlaubt und von den Schwestern vollzogen.
Sr. Maria Gärtner, Chronik einer geistlichen Begleitung[7]
I.2. Im Raum der Katholischen Kirche sind spiritueller und sexueller Missbrauch eng verknüpft.
Spiritueller Missbrauch dient nicht nur der Anbahnung des sexuellen Missbrauchs (also dem grooming), sondern – das ist eine aus meinen Forschungen resultierende These – auch einer Inszenierung der Taten und einer gleichermaßen inszenierten „Bewältigung“ (wobei Sie bitte Anführungszeichen mitdenken sollten). Im sexuellen Missbrauch inszenieren sich die Täter*innen als Menschen, die im Namen und Auftrag Gottes handeln. Der Klassiker unter den spirituell inszenierten Bewältigungsstrategien ist, dass Betroffene durch die Täter zur Beichte verpflichtet werden. Dass diese inszenierte Bewältigung ausschließlich der Schuldverschiebung, dem Narzissmus und der kognitiven Dissonanzreduktion der Täter*innen dient und in keiner Weise den Betroffenen, versteht sich von selbst.
Stimmen von Betroffenen
An diesem Tag fragte mich Pater Marie-Do[minique Philippe] gleich zu Beginn: „Sie erlauben, dass ich Ihre Hand ergreife?“. Er umfasst sie und beginnt, jeden meiner Finger, einen nach dem anderen, zu küssen, was wie Zärtlichkeit aussieht, um mich, wie er sagt, „die Liebe Jesu zu mir spüren zu lassen“.
In diesem Zimmer werden wir zum ersten Mal, wie er es verschlüsselt ausdrückt, "gemeinsam ausgestreckt beten" (aber vorerst angezogen) …
Aber er hat immer, wie er sagte, „meine Jungfräulichkeit bewahrt“. … Wenn er sich wieder anzieht, bevor er seinen Dominikanerhabit anlegt, versäumt er es nie, ihn andächtig zu küssen.
Während der Beichte bleibe ich also stumm …. Er schlägt vor, dass ich um Vergebung für meinen Defizite an Glauben, Hoffnung und Liebe bitten soll ... okay! Und er erteilt mir ohne zu murren die Absolution, verbunden mit einer Buße, die immer die gleiche ist: „Du sollst einmal das Magnificat sprechen."
Michèle-France Pesneau, L’emprise[8]
- Ein katholischer Sonderfall: Spiritueller und sexueller Missbrauch im Kontext des Zölibats(bruchs)
Wenn zölibatär lebende Frauen oder Männer die Täter*innen sind, dann kaschieren sie den Zölibatsbruch spirituell, indem sie sich im sexuellen Missbrauch als gleichsam körperlose Wesen oder als therapeutisch Handelnde an Gottes statt inszenieren. Bis in die Selbstaussagen hinein versteckt sich der Täter oder die Täterin hinter Gott, und das entspricht einer inneren Logik: Er*sie hat ja (wie die Betroffenen häufig auch) das zölibatäre Leben „um des Himmelreiches willen“ gewählt, weshalb der Verstoß auch als ein Handeln „um Gottes willen“ legitimiert werden muss. Die Betroffenen gewähren den Täter*innen aufgrund der Zölibatsverpflichtung einen Vertrauensvorschuss. Oft sind sie nicht zuletzt deshalb wehrlos, weil sie in ihrem eigenen Lebenskontext Sexualität tabuisiert wird. Das schmälert zugleich die Handlungsfähigkeit der Bystander, die ebenfalls keine Sprache für Sexualität haben.
Stimmen von Betroffenen
Pater Marie-Dominique Philippe ist ein Priester … Er hat wie ich Gelübde abgelegt, unter anderem Keuschheitsgelübde. Er hat gegenüber mir den Vorteil des Alters, der Erfahrung und des Theologiestudiums. Er weiß sicherlich, was er tut. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. In den Augen meiner gesamten Kommunität ist er ein heiliger Mann.
…
Ich habe nicht das Recht, darüber zu sprechen. Ich habe nicht die Worte, um darüber zu sprechen: Im Karmel ist Sexualität ein Tabu. ... Dieser Mann hat es geschafft, mich zu einer Gefangenen seiner Lust zu machen … ohne Rücksicht auf den Weg, auf dem ich mich befand. Er hat mich gewissermaßen von Gott gestohlen, während er gleichzeitig vorgab, Gottes Werkzeug zu sein und mich Gott anzubieten: „Ich nehme alles, aber ich behalte nichts: alles ist für ihn“.
Michèle-France Pesneau, L‘emprise.
I. 3. Spiritueller Missbrauch ist im Kontext der römisch-katholischen Kirche eine professionelle Täterstrategie
Handelt es sich ausschließlich um spirituellen Missbrauch, dann geht es Täter*innen oft um die Manifestation der eigenen Autorität, um Kontrolle und Manipulation. Wo spiritueller und sexueller Missbrauch verknüpft sind, gilt das oben Gesagte zu Anbahnung, Inszenierung und inszenierter Bewältigung.
Sie ahnen es: Mit dieser These einer professionellen Täterstrategie reagiere ich auf die These des „pastoralen Tätertyps“, die beim ZdK bereits eine Rolle gespielt hat.[9] Anstelle der Identifikation von Tätertypen bevorzuge ich generell eine Analyse von Konstellationen oder Merkmalsmustern, die stärker auf die systemischen Zusammenhänge blickt. So wie der Mannschaftsarzt der US-Turnerinnen seine Taten medizinisch begründet oder ein Regisseur beim Casting bessere Karrierechancen in Aussicht stellt, so entspricht der spirituelle Missbrauch auf tragische Weise dem Erwartungshorizont der Betroffenen – kein Gynäkologe könnte eine Frau mit frommen Sprüchen manipulieren. Wohl aber kann ein geistlicher Täter geistliche Autorität beanspruchen, weil genau diese Autorität nicht nur Merkmal der kirchlichen Kultur ist, sondern in der je konkreten Begegnung vorausgesetzt wird. Eine Geistliche Begleitperson kann einen Menschen geistlich manipulieren, weil dieser Mensch erst aufgrund einer spirituellen Sehnsucht die Begleitung gesucht hat. In der römisch-katholischen Kirche die Fallhöhe größer als in anderen Kontexten, da die pastoralen Kompetenzen erworben werden, um das Evangelium zu verkünden und nicht, um narzisstisch eigene Bedürfnisse zu befriedigen.
Stimmen von Betroffenen
Mich plagte ständig das schlechte Gewissen. Einmal sagte ich ihm: „Das darf ich nicht, das ist gestohlen.“ Daraufhin antwortete er: „Ich kann das vergeben, das ist für einen guten Zweck.“ Das beruhigte mich kein bisschen.
Sr. Maria Gärtner
Als es dann noch etwa 7 Wochen bis zur Geburt unseres ersten Kindes waren, fühlte ich mich unter Druck gesetzt, das Kind in München zu gebären und nicht in Rom, das würde meinen Mann beim Aufbau der Arztpraxis behindern. Ich gehorchte gegen meinen innersten Willen, auch mein Mann, jedoch setzten die Wehen 4 Tage vor dem geplanten Flug ein und ich gebar das Kind als Frühgeburt in Rom. Auf Grund des psychologischen Drucks „verheiratet als ob nicht“, (ein Kind kriegen als ob nicht), war ich in keiner Weise auf die Geburt des Kindes vorbereitet … Ich fuhr in die Klinik mit dem Gefühl, Gott strafe mich, weil ich im Herzen der Gemeinde nicht hatte gehorchen wollen.[10]
Friederike Wallbrecher (exigler.de)
Ich hatte – und habe immer noch – liebevolle Eltern und gute familiäre Beziehungen. Ich hatte weder Schwierigkeiten noch einen Konflikt. Ich war ein „normaler“ Jugendlicher in einer „normalen“ Familie. … Ich war ein Getaufter, der sich selbstverständlich an einen Priester wandte, um sich mit dem geistlichen Leben helfen zu lassen. Unsere Begegnung fand vor dem Hintergrund eines tiefen Lebenshungers und spiritueller Fragen statt. Ich war ein Gottsucher und erwartete, darin begleitet zu werden.
Jean-Luc Souveton (Abusés)[11]
II. Merkmale des spirituellen Missbrauchs
Aus den Zitaten lassen sich einige Merkmale des Spirituellen Missbrauchs ableiten; eine Vollständigkeit ist hier nicht angezielt:
- Spiritueller Missbrauch ist gleichzeitig Machtmissbrauch.
- Gottesbilder / Frömmigkeitspraktiken werden gegen den Willen der Betroffenen verordnet oder verboten.
- Täter*innen treffen gegen den Willen der Betroffenen spirituell begründete Entscheidungen, z. B. zur Lebensform, Berufswahl oder dem Geburtsort des Kindes. Sie isolieren die Betroffenen von Familie und Freunden.
- Die moralische und lebenspraktische Urteilsfähigkeit der Betroffenen wird geschwächt.
- Täter*innen präsentieren sich als Autoritätspersonen oder nutzen eine ohnehin zugeschriebene Autoritätsposition aus (Ko-Klerikalismus). Sie bedienen sich asymmetrischer Verhältnisse, wobei ein seelsorgliches Verhältnis per se ein asymmetrisches Verhältnis ist.
- Täter*innen geben vor, an der Stelle Gottes zu sprechen oder zu handeln („heilende Liebe Jesu“).
- Täter*innen ignorieren Gewissensentscheidungen der Betroffenen.
- Täter*innen manipulieren mithilfe theologischer oder spiritueller Inhalte (z. B. Jungfräulichkeit, Gehorsam, Geschlechterstereotype, …).
- Täter*innen verwenden ein spirituelles Framing, um andere Menschen auszubeuten („gemeinsam beten“).
- Spiritueller Missbrauch in den oben geschilderten Dimensionen ist für die Betroffenen eine traumatische Erfahrung. Weil „Gott“ durch die Täter*innen in narzisstischer Absicht instrumentalisiert wird, ist spiritueller Missbrauch nicht nur ein „man made disaster“, sondern wird zum „God made disaster“.
III. Elemente einer Definition des spirituellen Missbrauchs
Spiritueller Missbrauch hat eine gut 30jährige Begriffsgeschichte.[12] Wie so oft liegen die Anfänge in den USA, und in diesem Fall im freikirchlichen Kontext. The Subtle Power of Spiritual Abuse von David Johnson und Jeff VanVonderen (1991) wurde ein Klassiker mit zahlreichen Auflagen und in verschiedene Sprachen übersetzt. Auch im Deutschen bezogen sich die ersten Autorinnen auf Freikirchen: Jutta Wilbertz veröffentlichte 2006 Erfahrungsberichte aus freikirchlichen Gemeinden, in denen es häufig um Leadership, Manipulation und Ausbeutung ging. Inge Tempelmanns Handbuch „Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt“ erschien erstmals 2007.[13] Diese Kontexte sind kein Zufall: Je (ideologisch) geschlossener eine Gemeinschaft, desto höher das Risiko für spirituellen und sexuellen Missbrauch. Im protestantischen Bereich sind deshalb freikirchliche Gemeinden besonders gefährdet, im römisch-katholischen Raum die sogenannten Neuen Geistlichen Gemeinschaften und weitere elitäre, sich abgrenzende Gruppen.[14] Besonders betroffen ist gleichsam der religiöse Leistungssport. Wo die theologische Überhöhung einer Gründungsgestalt hinzu kommt und die Berufung auf den unmittelbar erkennbaren Willen Gottes bzw. den Heilligen Geist das Handeln legitimiert, ist der spirituelle Missbrauch vorprogrammiert: Verantwortliche kompensieren durch fromme Legitimation ihr autoritäres Durchregieren. Sie verschleiern so, dass der Wille Gottes nie eindeutig und in einer Gemeinschaft nie einheitlich erkannt wird. Schon 1996 wurden in Frankreich die „Schiffbrüche des Heiligen Geistes“ in charismatischen Gemeinden beschrieben.[15]
Im Raum der römisch-katholischen Kirche hat Doris Reisinger (geb. Wagner) mit ihrem Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ von 2019 die damals noch unvertraut anmutende Thematik auf die Agenda gesetzt. Ihre Definition ist so prägnant wie einleuchtend: „Geistlicher Missbrauch ist die Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechtes“ (S. 79); er ist ein Handeln gegen die spirituelle Selbstbestimmung.
Dabei unterscheidet Reisinger drei Formen von spirituellem Missbrauch: spirituelle Vernachlässigung, spirituelle Manipulation und spirituelle Gewalt. Diese Definition mag an hier genügen. Eine Form des spirituellen Missbrauchs möchte ich im ZdK-Kontext noch genauer ansehen:
IV. Spirituelle Vernachlässigung, oder: Spiritueller Missbrauch im religiösen Breitensport
Die meisten der oben gewählten Beispiele stammten aus Orden, Gemeinschaften und Geistlicher Begleitung, weil sich daran am besten darstellen lässt, was spiritueller Missbrauch ist. Die häufigste Form des spirituellen Missbrauchs – vor allem in Gemeinden und Verbänden – ist jedoch vermutlich die spirituelle Vernachlässigung. Sie kann analog zu emotionaler Vernachlässigung gedacht werden: Wo etwas sein sollte, ist nichts. Für Doris Reisinger ist die spirituelle Vernachlässigung das Einfallstor für die anderen Formen des spirituellen Missbrauchs. Spirituelle Vernachlässigung besagt: Ich habe keinen Zugang zu spirituellen Ressourcen; ich bin spirituell nicht handlungsfähig; ich bekomme nicht das, was ich brauche. Ich bekomme keine Antwort auf meine Fragen, ich bekomme keine Anregungen, meine Spiritualität zu leben und zu größerer Lebendigkeit zu gelangen. Ich werde nicht als Subjekt mit eigenen spirituellen Bedürfnissen gesehen oder gar als Subjekt einer spirituellen Deutung meines Lebens.
Stimmen von Betroffenen
Als ich am Grab meines früh verstorbenen Sohnes stand, kam eine Bekannte und sagte: „Wenn Sie mehr gebetet hätten, wäre ihr Kind noch am Leben“
Katharina
Man musste den Pfarrer, das stellte sich bald heraus, [in der Beichte] mit Sünden füttern. Und irgendetwas „Unkeusches“ musste dabei sein. Ich hatte keine Ahnung, was das war, beichtete aber, ich hätte genau das gedacht, nämlich Unkeusches.
Weil noch eine Hauptsünde vorkommen musste, die Liste hatten wir bei der Erstkommunion in die Hände gedrückt bekommen, als wäre es ein Wunschzettel, beichtete ich, dass ich zornig gewesen sei. Zorn war eine große Sünde.
Waltraud Schwab, Zorn war meine liebste Sünde[16]
Pater: „Wie viele Kinder haben Sie denn?“ – Meine Mutter: „Eins.“ – Der Pater aufgeregt: „Sie müssten doch mehr Kinder haben! Es müsste zumindest schon wieder eins unterwegs sein!“[17]
Lisa Schäfer, Beichterfahrungen meiner Mutter
V. Spirituelle Selbstbestimmung
Spirituelle Selbstbestimmung ist mehr als die Abwesenheit spiritueller Vernachlässigung, Manipulation oder Gewalt. Vielleicht genügt es vorerst, sie als – grundsätzliche und immer wieder neu zu realisierende – persönliche spirituelle Handlungsfähigkeit zu beschreiben. Sie unterliegt dem Kriterium der Lebensdienlichkeit (vgl. Lev. 18,5). Spirituell selbstbestimmt zu leben bedeutet nicht, schon immer zu wissen, welche Spiritualität und welche Frömmigkeitspraktiken zu mir passen. Es bedarf vielmehr unterschiedlicher Erfahrungsräume und der Spiritualitätsbildung, um diesen Fragen nachgehen zu können. Menschen, die spirituell selbstbestimmt leben, wissen um die „Pluralität von Theologien und Spiritualitäten, um [deren] Gewordensein und um [die] je unterschiedliche Lebensrelevanz – in der Biografie eines Menschen, in dieser konkreten Zeit, für einen spezifischen Ort“.[18]
Und nicht zuletzt: Spirituelle Selbstbestimmung ist ein Recht, das mit der Pflicht einhergeht, den Anderen oder die Andere ebenfalls als Subjekt spiritueller Selbstbestimmung zu begreifen. Spirituelle Selbstbestimmung wahrt den Respekt vor dem Geheimnis des je anderen Menschen und vor dem Geheimnis Gottes.
Lassen Sie mich am Schluss nochmals auf Katharina und die Begegnung auf dem Friedhof zurückkommen. Ob die Bekannte katholisch, protestantisch, freikirchlich, anthroposophisch oder vielleicht etwas ganz anderes war, weiß ich nicht. Sie hat sich jedem Fall angemaßt, das Leben und den Gottesbezug von Katharina spirituell zu deuten. Auf eine extrem schädliche Weise.
Niemand von uns ist vor solchen spirituellen Übergriffen sicher. Ja, niemand kann sicher sein, dass das eigene Sprechen oder Schweigen in einer konkreten Situation nicht als vernachlässigend oder grenzverletzend empfunden wird.
Unsere Handlungsmöglichkeiten liegen an anderer Stelle: Wir können in unseren jeweiligen Kontexten zu spiritueller Selbstbestimmung ermutigen. Wir können spirituelle Selbstbestimmung zum Maßstab unseres Handels machen in Pfarreien, Gruppen und Verbänden. Was verändert sich, wenn spirituelle Selbstbestimmung eine Querschnittsaufgabe ist, die wir jeweils mitdenken? Wenn wir die spirituelle Selbstbestimmung in Liturgien, spirituellen Impulsen, bei Veranstaltungen und unserem gesellschaftspolitischen Handeln zu einem expliziten Ziel machen?
Spiritualität ist überall, und deshalb kann auch spiritueller Missbrauch überall geschehen. Genau deshalb ist es so wichtig, dass Kirche – als Ortskirche, in Pfarreien, Gemeinschaften und Verbänden, spirituellen Missbrauch erkennt, ahndet und proaktiv verhindert. Genau deshalb ist es so wichtig, dass sie zum exemplarischen Lernort spiritueller Selbstbestimmung wird.
Dr. Regina Heyder
Mitglied im ZdK und im ZdK-Arbeitskreis Aufarbeitung;
Vorsitzende der Theologischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB);
Dozentin des Theologisch-Pastoralen Instituts für berufsbegleitende Bildung (Diözesen Fulda, Limburg, Mainz und Trier).
[1] Vgl. die Vorwürfe gegen den Jesuiten Marko Rudnik, z.B. www.domradio.de/artikel/vatikan-schweigt-zum-vorwurf-mutmasslicher-uebergriffe.
[2] Vgl. z. B. die Hinweise bei Doris Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019, S. 34–40: „Spiritualität als die Fähigkeit, Dingen Bedeutung zu geben“ und „Spiritualität als Lebensbewältigungstechnik“.
[3] Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin: Definitionen zur Hospiz- und Palliativversorgung. S. 2 https://www.dgpalliativmedizin.de/images/DGP_GLOSSAR.pdf. Die WHO spricht von einer Verbesserung der Lebensqualität durch Palliativversorgung: “It prevents and relieves suffering through the early identification, correct assessment and treatment of pain and other problems, whether physical, psychosocial or spiritual.” (https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/palliative-care).
[4] Zur Einbindung und Rolle der konfessionellen Seelsorge in diesem Setting existieren jedoch unterschiedliche, zum Teil auch funktional geprägte, Vorstellungen. Zur „Spiritual Care“ gehört die Grundannahme, dass die spirituelle Begleitung der lebensverkürzend erkrankten Menschen neutral sein könne. Dies sollte jedoch gerade im Hinblick auf die Gefahr spirituellen Missbrauchs in der vulnerablen Situation der Patient*innen kritisch hinterfragt werden. Denn jede*r Begleiter*in bringt die eigene Weltanschauung zumindest implizit in die Beziehung ein. Es ist unabdingbar, dass alle Begleiter*innen, konfessionell gebunden oder nicht, transparent und reflektiert mit religiösen Anschauungen und Macht-Asymmetrien umgehen. – Für Hinweise zu dieser Problematik danke ich Frau Dr. Jutta Mader, Präventionsbeauftragte der Marienhaus-Gruppe.
[5] “This can include ceremony and prayer (in ways that are neither dogmatic nor expected) as formats to find inspiration from things bigger than ourselves.” (https://extinctionrebellion.uk/the-truth/about-us/). In der deutschen Version der Prinzipien fehlt dieser Hinweis auf Ritual/Feier und Gebet (https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/prinzipien-und-werte/).
[6] Vgl. Bettina Rulofs u.a., Fallstudie: Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch im Kontext des Sports. Auswertung der vertraulichen Anhörungen und schriftlichen Berichte der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Berlin 2022, S. 40: Es „kann angenommen werden, dass der Leistungssport in dieser spezifischen Gruppe von Betroffenen aus dem Sport (mit 40%) deutlich überrepräsentiert ist. Diese Verteilung deutet auf eine gewisse Risikokonstellation für den Leistungssport hin.“
[7] Sr. Maria Gärtner, Wie sollte ich da wieder herauskommen? Chronik einer geistlichen Begleitung, in: Haslbeck/Heyder/Leimgruber/Sandherr-Klemp (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, S. 70–86 (Zitate zum Teil gekürzt).
[8] Michèle-France Pesneau, L’emprise. Vingt années d’emprise spirituelle et sexuelle. Un chemin de libération, Villeurbanne: Golias, 2020, S. 67–72 (alle Übersetzungen: Regina Heyder; Zitate teilweise gekürzt).
[9] Vgl. den Beitrag von Klaus Große Kracht bei der ZdK-Vollversammlung am 12. Juni 2021. In der Studie zum Bistum Münster identifiziert Große Kracht einen „hebephil-manipulativen Typ“, bei dem spiritueller Missbrauch dem sexuellen Missbrauch vorausgeht. Vgl. Bernhard Frings/Thomas Großbölting/Klaus Große Kracht/Natalie Powroznik/David Rüschenschmidt, Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche: Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945, Freiburg u. a. 2022; dazu Regina Heyder, Die Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch im Bistum Münster seit 1945 – erste Einblicke und Einschätzungen (http://www.theologie-und-kirche.de/heyder-studie-muenster.pdf).
[10] „Beitrag zur Visitation von Friederike Wallbrecher“ (https://www.exigler.de/2021/10/06/beitrag-zur-visitation-von-friederike-wallbrecher/). Die Homepage www.exigler.de beinhaltet zahlreiche Erfahrungsberichte; vgl. auch: Stellungnahme der Visitatorinnen und des Visitators des Erzbischofs für die Katholische Integrierte Gemeinde in der Erzdiözese München und Freising (KIG) (2019) (https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-52305220.pdf).
[11] Jean-Luc Sauveton, L’Eglise catholique ne sait toujours pas écouter les victimes, in: Collectif (Hg.), Abusés. Des victimes de prêtres témoignent, Paris 2021, S. 20f.
[12] Vgl. dazu Samuel Fernández, Victims Are Not Guilty! Spiritual Abuse and Ecclesiastical Responsibility (Religions 2022, 13(5), 427; https://doi.org/10.3390/rel13050427), bes. S. 2–4.
[13] Inge Tempelmann, Geistlicher Missbrauch: Auswege aus frommer Gewalt. Ein Handbuch für Betroffene und Berater, Wuppertal 2007, 4. Auflage 2020.
[14] Vgl. Céline Hoyeau, La trahison des pères, Montrouge 2021. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung.
[15] Thierry Baffoy, Antoine Delestre, Jean-Paul Sauzet (Hg.), Les naufragés de l’Esprit: des sectes dans l'Église catholique, Paris 1996.
[16] Waltraud Schwab, Zorn war meine liebste Sünde, in: Laura Méritt, Mein lesbisches Auge 21, Tübingen 2021, S. 247–251.
[17] Lisa Schäfer, Beichterfahrungen meiner Mutter, in: Erzählen als Widerstand, S. 161–164.
[18] Katholischer Deutscher Frauenbund, Spirituelle Selbstbestimmung, November 2022 (https://www.frauenbund.de/wp-content/uploads/KDFB_AGTheoKomm_Einzelseiten.pdf). Vgl. auch www.missbrauchsmuster.de.
Dr. Regina Heyder