„Globale Gesundheitsversorgung als Instrument für menschliche Würde“

Beschluss des Hauptausschusses des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

„Globale Gesundheitsversorgung als Instrument für menschliche Würde“

Die ZdK-Vollversammlung forderte im Jahr 2021 zur Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit auf und drängte auf finanzielle und technologische Transfers, um eine global gerechte Impfstoffverteilung zu erreichen. Der ZdK-Hauptausschuss vertieft die verabschiedeten Erklärungen der Vollversammlung und appelliert an die Bundesregierung, sich mit umfangreichen monetären und diplomatischen Mitteln für internationale Vereinbarungen und eine weltweit funktionierende Gesundheitsversorgung einzusetzen.

Im Koalitionsvertrag verspricht die Ampel-Koalition, in der Corona-Krise Verantwortung zu übernehmen und die Pandemie zu besiegen. Mit einem Krisenstab und einem wissenschaftlichen Pandemierat wurden neue Gremien geschaffen. Die Regierung strebt eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung und eine hochwertige Medizin und Pflege an. Einen „umfassenden Impfschutz“ sieht sie als „eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe“.[1] Diese Vorhaben beziehen sich jedoch nur auf die innerstaatliche Ebene. Transnationale Bemühungen finden keine Erwähnung und liegen offenbar jenseits des Wirkungshorizonts, der in diesem Politikfeld mit dem Handeln der Regierung adressiert werden soll. Im Kontext der Corona-Pandemie besteht zwar kein absolutes Recht, Hilfe von außen im Sinne eines staatlichen Rechtsanspruchs auf internationale Unterstützung zu verlangen. Im Lichte des Menschenrechts auf Gesundheit sowie des dritten Nachhaltigkeitsziels „Gesundheit und Wohlergehen“ der Vereinten Nationen geht die Schutzverpflichtung von Staaten über nationale Grenzen hinaus und schließt transnationale Bemühungen unter Berücksichtigung der jeweiligen Kapazitäten ein.

Die Expansion von COVID-19 hat viele nationale Gesundheitssysteme an ihre Grenzen gebracht. In Staaten, in denen jährlich Millionen Menschen an behandelbaren Krankheiten sterben, weil sie sich die Medikamente nicht leisten können oder keine ausreichende Gesundheitsversorgung existiert, zeitigt eine Pandemie besonders drastische Folgen.

In den meisten Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen haben Arbeitslosigkeit und Armut sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten zugenommen. Vor allem Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, haben aufgrund der anhaltenden Pandemie ihre Arbeit und ihr Einkommen verloren. Ihr Zugang zum Gesundheitssystem ist oftmals sehr erschwert. Es ist ein unverhältnismäßiger Anstieg der Arbeitslosigkeit bei Frauen und eine Verringerung ihrer Gesamtarbeitszeit zu verzeichnen. Eine weitere Gruppe, die stark betroffen ist, sind Geflüchtete, die in prekären Verhältnissen leben. Viele Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen werden weiterhin unter dieser schwierigen Situation leiden, da sie eine große Bevölkerung, eine schwache Gesundheitsversorgung, hohe Armutsquoten, niedrige sozioökonomische Bedingungen, schlechte Sozialschutzsysteme, einen begrenzten Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen und unzureichenden Wohnraum haben, der zur Aufrechterhaltung der physischen Distanz notwendig ist. COVID-19 wird weiterhin das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen, das Volumen privater Finanztransfers aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden verringern sowie die Einnahmen aus Reisen und Tourismus reduzieren. Dies wird die Armut vertiefen und die Arbeitslosigkeit sowie das Risiko von Hunger und Ernährungsunsicherheit erhöhen, was wiederum die Gesundheit vieler Menschen beeinträchtigt.

Während im Globalen Norden im vergangenen Jahr mehrere Monate nach Beginn der Impfkampagne praktisch allen ein Impfangebot unterbreitet werden konnte, fehlt es im Globalen Süden, trotz deutlicher Fortschritte in den letzten Monaten, teilweise bis heute an Vakzinen.[2] Es ist nicht gelungen, durch eine weltweite Verteilung und den Aufbau von Produktionsstätten allen Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu Impfstoffen zu eröffnen. Dabei mangelt es grundsätzlich nicht an weltweiten Produktionsmöglichkeiten.[3] Die Produktion und der Vertrieb sind jedoch auf das Patentsystem begrenzt. Unter dem Blickwinkel von globaler Gerechtigkeit und Solidarität sind die Patentregelung und die aus der Logik des freien Marktes resultierende Benachteiligung des Globalen Südens Hindernisse für eine faire weltweite Verteilung des Impfstoffes. Der kürzlich erzielte Kompromiss zwischen Indien, Südafrika, den USA und der EU ist vor diesem Hintergrund zu begrüßen. Er zielt darauf ab, die Nutzung patentgeschützter Impfstoff-Technologien im Globalen Süden für einen befristeten Zeitraum von mehreren Jahren zu vereinfachen. Regierungen sollen in die Lage versetzt werden, dies per Dekret in die Wege zu leiten. Bei humanitärer Notwendigkeit könnten sie die Entschädigungen an die Patentinhaber*innen moderat halten. Allerdings entspricht der Kompromiss lediglich dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die vorgelegte Ausnahmeregelung beschränkt sich nur auf Impfstoffe. Technologietransfer, logistische Unterstützung oder Therapeutika, die ebenso dringend benötigt werden, sind nicht enthalten. Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission sind dringend dazu aufgefordert, sich im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes für einen breiteren weltweiten Zugang zu wirksamen COVID-Behandlungen einzusetzen.

Grundsätzlich darf anerkannt werden, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten im Vergleich zu anderen Teilen der Welt mehr Impfstoff geteilt haben. Die europäische Abstimmung über eine gemeinsame Beschaffung der Impfstoffe war ein Erfolg, der jedoch insgesamt nur unzureichend mit einer globalen Perspektive verknüpft wurde. Die bisherigen Teilerfolge des Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A) – insbesondere der darin enthaltenen COVAX-Initiative – bei der Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen sind begrüßenswert, bleiben aber hinter dem menschenrechtlich verbrieften Anspruch sowie den Plänen der WHO zurück.[4]

Eine globale Verantwortungsgemeinschaft steht in der Pflicht, Armut als einen maßgeblichen Risikofaktor in Pandemien zu erkennen und Schlussfolgerungen für das multilaterale politische Handeln daraus abzuleiten. Arme Menschen erkranken und versterben überdurchschnittlich oft an COVID-19 und sind am heftigsten von den ökonomischen und sozialen Kollateralschäden betroffen. Dabei wird deutlich, wie eng gerade in Krisenzeiten menschliche Gesundheit, menschliche Freiheit und menschliche Würde miteinander verwoben sind. Ohne eine globale gesundheitliche Grundversorgung wird menschliche Freiheit unterminiert und individuelle körperliche und geistige Entwicklung verhindert. Daher verfolgt der Anspruch einer globalen Gesundheitsversorgung als Instrument für menschliche Würde einen ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur auf die Notsituation reagiert, sondern Gesundheit als eine unabdingbare Voraussetzung für die menschliche Entwicklung ansieht und auf die Stärkung von nationalen Gesundheitssystemen abzielt.

Die Bundesregierung, die Europäische Union und die Pharmaindustrie sind gemeinsam moralisch dazu verpflichtet, einen Beitrag zu leisten, dass wirksame, sichere und ethisch vertretbare Vakzine in allen Ländern zu erschwinglichen Preisen angeboten werden und einer fortgesetzten Benachteiligung des Globalen Südens im Gesundheitssektor entgegengewirkt wird. Globale Gesundheit darf aber keine Freiwilligkeit sein. Es ist politisches Handeln gefragt, um kurzfristig endlich allen Menschen niedrigschwellige Impf- und Beratungsangebote zu machen und mittelfristig massiv in den Ausbau der weltweiten Gesundheitsversorgung zu investieren. Es braucht weitere gesetzliche Grundlagen, um Unternehmen mehr Anreize für den grenzüberschreitenden Wissens- und Technologietransfer zu eröffnen.

Bei allen Entscheidungen bedarf es multilateraler Verhandlungen zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden. Dabei sollte darauf hingearbeitet werden, Abhängigkeitsmuster zu durchbrechen und den bestehenden Geber-Empfänger-Rahmen zu überwinden, in dem die Beziehungen bisher aufgebaut wurden. Die WHO stellt hierfür – mit einer mutigen Stärkung ihrer finanziellen Mittel, ihrer Zuständigkeiten und ihrer Effizienz sowie einer Senkung ihrer Abhängigkeiten – grundsätzlich das geeignete Dach dar. Künftig muss ausgeschlossen sein, dass Staaten Exportverbote für Impfstoffe bzw. Rohstoffe zu deren Herstellung verhängen und einer global gerechten Verteilung von Gesundheitsgütern nationale Schranken setzen.

All diese Bemühungen sind im Kontext des Menschenrechts auf Gesundheit und des Nachhaltigkeitsziels „Gesundheit und Wohlergehen“ der Vereinten Nationen zu betrachten. Die Pandemie wirkte für diese zunächst wie ein Bremsklotz und muss nun ein Weckruf sein, um für künftige Krisen besser gewappnet zu sein. Zugleich hat sie vor Augen geführt, was bei entsprechendem politischem Willen möglich ist: Dass sich die Welt morgen nicht das gleiche Maß an Ungleichheit leistet wie heute.

 

[1] Koalitionsvertrag 2021, S. 5.

[2] In Staaten mit geringem Einkommen, wie sie die Weltbank auf Basis des Bruttonationaleinkommens einsortiert, ist nicht einmal ein Prozent mit einer dritten Impfung versorgt. In den Ländern mit hohem Einkommen, zu denen auch ein Großteil der EU-Staaten gehört, ist es dagegen ein Drittel. Vgl. ZEIT ONLINE.

[3] Ein Bericht von AccessIBSA hat mehr als 100 pharmazeutische Hersteller in Asien, Afrika und Lateinamerika mit den technischen Anforderungen und Qualitätsstandards zur Herstellung von mRNA-Impfstoffen identifiziert. Vgl. ACCESS IBA.

[4] Bis Ende 2021 sollten in jedem Land der Erde 40 Prozent der Bevölkerung geimpft sein, bis Mitte 2022 sogar 70 Prozent. Vgl. WHO.

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