„Friedensethik in Kriegszeiten: Impulse für die Verteidigungspolitik der 20er-Jahre“
Erklärung des Präsidiums des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und des Arbeitskreises "Nachhaltige Entwicklung und globale Verantwortung"
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt einen geopolitischen Bruch dar, der Deutschland und Europa herausfordert. Es ist erschreckend, dass ein brutaler Imperialismus wieder zur politischen Haltung geworden ist, die Russische Föderation das Völkerrecht ignoriert und somit den regelbasierten Multilateralismus aufkündigt. Die ökonomischen, diplomatischen und militärischen Strategien konnten nicht verhindern, dass ukrainische Städte und Landstriche und unzählige Menschenleben zerstört wurden und werden.
Für Christ*innen ist das Gebot, nach allen Kräften Menschenleben zu schützen, von überragender Bedeutung. Auf die Brutalität des Krieges ist deshalb nicht mit Gleichgültigkeit zu antworten, sondern mit Standpunkten im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Verteidigung und dem Gebot der Gewaltlosigkeit. Hass und Gewalt dürfen nicht das letzte Wort haben. Die christliche Friedensethik räumt, auch seitens der Päpste, der Diplomatie, der zivilen Konfliktbearbeitung und Gewaltlösung immer den Vorrang vor militärischen Antworten ein. Die christliche Lehre vom Gerechten Frieden konterkariert nicht die Verteidigung der Ukraine. Die Ambivalenzen bestanden zuvor und bestehen weiterhin. Gewaltfreiheit ist ein Plädoyer wider die absolute Feindseligkeit und wider die Rache, kein Aufruf zur Passivität. Dies muss auch vor dem Hintergrund der gravierenden Folgen, die der Angriffskrieg über die Ukraine hinaus mit sich gebracht hat und mit sich bringt, gesehen werden: Unzählige Menschen wurden zur Flucht gezwungen; zahlreiche Länder hat eine Ernährungskrise erfasst; energiepolitische fossile Abhängigkeiten werden auf schmerzhafte Weise offengelegt und befeuern eine Inflation ungeahnten Ausmaßes. Waffengewalt ist in christlicher Friedensethik als Ultima Ratio anerkannt, wenn Sie dem Ziel dient, einen Krieg schnellstmöglich zu beenden.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird die aus den Fugen geratene sicherheitspolitische Architektur in Europa über viele Jahre bestimmen. Die Solidarität mit der Ukraine muss stets geduldig und entschieden aufrechterhalten werden. Das Recht auf Selbstverteidigung, im Völkerrecht verbrieft und in der kirchlichen Lehre verankert, gilt zweifellos für die Ukraine. Waffenlieferungen, verhältnismäßig und strategisch intelligent eingesetzt, dienen vor dem Hintergrund der Zerstörung und fortgesetzten akuten Bedrohung der legitimen Selbstverteidigung, die ethisch gerechtfertigt ist.
Können nur militärische Aufrüstung und Abschreckung Sicherheit gewährleisten oder ist Diplomatie in dieser fluiden Weltordnung mehr denn je gefragt, um Frieden zu schaffen? Als ZdK sind wir überzeugt davon, dass Diplomatie und Gespräche das vorrangige Mittel sind, um klug und vorausschauend Frieden herzustellen und langfristig zu sichern, Dieser Vorrang spricht aber nicht gegen die Lieferung von Waffen, die benötigt werden, wenn Aggressoren die Integrität anderer Staaten angreifen.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) erklärt deshalb:
1) Wir unterstützen Maßnahmen, die geeignet sind, im Kriegsverlauf Menschenleben zu schützen, auch mit angemessenen militärischen Mitteln. Das Recht der Ukraine auf Verteidigung gilt uneingeschränkt und muss weiterhin anerkannt werden. Waffenlieferungen waren und sind notwendig, solange die Ukraine um ihren Selbsterhalt und eine Rückeroberung völkerrechtswidrig und unrechtmäßig verlorener Territorien kämpft. Deutschland steht in der Verantwortung, gemäß der von den Vereinten Nationen vereinbarten „Responsibility to Protect“ militärische und diplomatische Unterstützung zu leisten.
2) Wir halten fest an der Überzeugung, dass Frieden nachhaltig nicht ausschließlich mit Waffengewalt hergestellt und gesichert werden kann. Eine angemessene Abschreckung durch militärische Aufrüstung muss immer dem Ziel dienen, aus dem Gleichgewicht heraus zu einer wechselseitigen Abrüstung auf mehreren Ebenen – militärisch wie in allen anderen Formen der Drohkulisse – zu finden. Gewaltanwendung ist nur dann legitim, wenn sie zu einem Instrument der Gewaltüberwindung wird. In einem Diktatfrieden sehen wir keinen Ausweg. Gesprächskanäle müssen trotz wahrgenommener Aussichtslosigkeit aufrechterhalten werden, um Chancen auf diplomatische Fortschritte zu wahren. Langfristig muss politisch darauf hingearbeitet werden, Frieden ohne Waffen zu schaffen.
3) Außenpolitische Solidarität und innenpolitische Ziele müssen sich in einem Zweiklang ergänzen. Die Sicherheitsinteressen Deutschlands dürfen Berücksichtigung finden, wenn die Unterstützung von Kriegsparteien erwogen und realisiert wird. Primär gilt es jedoch, das massenhafte Töten der angegriffenen Bevölkerung aufzuhalten, die staatliche Integrität zu schützen und die Lebensbedingungen der Überlebenden zu verbessern, gerade im Hinblick auf die Ukraine. Aus christlicher Sicht müssen wir auch hier für die Schwachen optieren.
4) Auch in Deutschland wird über in ihrer Art und Finanzierung angemessene Mittel zur Verteidigung debattiert. Dabei fordern wir zu gegenseitigem Respekt der Argumente auf. Wir halten daran fest, dass auch in Zukunft grundsätzlich Zurückhaltung bei Aufrüstung und Waffenexporten geboten ist. Im Kontext der internationalen Verpflichtungen sind die Ausrüstung der Bundeswehr, das hierfür geschaffene Sondervermögen und die Einhaltung des zugesagten 2%-Ziels der NATO nur dann Bausteine eines Lösungsweges, wenn auch Investitionen in Diplomatie, internationale Zusammenarbeit und Klimaschutz nachhaltig gesichert und gestärkt werden. Gemäß dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung muss der Entwicklungsetat an die Verteidigungsausgaben gekoppelt sein. Kürzungen bei der humanitären Hilfe sind unter allen Umständen zu vermeiden, zivile Konfliktlösungen und sowie zivile Konfliktbearbeitungen (ZFD) staatlich verstärkt zu fördern. Sicherheit und Transformation müssen vernetzt und umfassend gedacht und politisch gesteuert werden.
5) Die Organisationen des Multilateralismus müssen gestärkt werden, um zu einer regelbasierten Ordnung zurückkehren zu können.
6) Wir unterstützen alle, die mit der Sehnsucht nach Frieden die Aggression anprangern. Aktiver, gewaltfreier, ziviler Widerstand im Angesicht des Krieges verdient Würdigung und Unterstützung. Wir zollen jenen Menschen Respekt, die das mutig unter großer Gefahr für das eigene Leben auch in Russland und anderen autokratischen Staaten tun. Wir wissen darum, dass Frieden ein Geschenk ist, setzen auf die Kraft der Versöhnung und geben gerade in Kriegszeiten die Hoffnung auf eine bessere Zeit nicht auf. Erste Schritte zur Versöhnung sind schon gegangen, wenn wir pauschale Urteile und Verallgemeinerungen vermeiden sowie sprachlich differenziert und gewaltfrei agieren.
7) Wir fordern und unterstützen wo immer möglich die ökumenische Zusammenarbeit in Fragen der internationalen Sicherheit, gerade mit Blick auf die Ukraine. Wir kritisieren, dass vom Russisch-Orthodoxen Patriarchat der ideologische Boden für den Krieg bereitet worden ist und keine Stimmen der Versöhnung zu vernehmen sind. Wir suchen jedoch den ökumenischen Schulterschluss mit allen Kräften, die das Ziel eines gerechten Friedens teilen. In Vergangenheit und Gegenwart wurden und werden Religionen in Konflikten und Kriegen durch die Politik instrumentalisiert. Dagegen wehren wir uns in interreligiöser Kooperation. Wir fordern den Episkopat auf, sich im Vatikan für ein verstärktes diplomatisches Engagement des Papstes einzusetzen.
Dieser Angriffskrieg gegen die Ukraine hat unsere Perspektive auf Frieden auf militärische Fragen gelenkt und somit verengt. Eine nachhaltige Friedenspolitik, wie sie auch Papst Franziskus in seinen Enzykliken „Laudato Si´“ und „Fratelli tutti“ beschreibt, geht über eine Waffenruhe hinaus und zielt auf einen umfassenden sozialen, ökologischen und politischen Frieden ab. Wir setzen uns für einen in diesem Sinne gerechten Frieden, für ein gewaltfreies Miteinander sowie gerechte und nachhaltige Wirtschafts- und Sozialstrukturen ein.[1]
Wer Frieden will, muss diesen vorbereiten und die Grundlagen dafür schaffen, dass dieser entstehen und wachsen kann. Dies bleibt gleichsam Aufgabe und Herausforderung aller Christ*innen und Menschen guten Willens.
Das ZdK wird sich auch angesichts der Erfahrungen mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine weiterhin mit Friedenssicherung, Fragen der Friedensethik und den Zusammenhängen von Krieg und Klima auseinandersetzen und verteidigungspolitische Leitlinien aus christlicher Sicht fortentwickeln. Dazu gehört auch ein Beleuchten der zukünftigen Rolle und Ausgestaltung der Europäischen Union, der Vereinten Nationen sowie der NATO.
[1] Zugleich ist der Einsatz für die Schöpfung auch ein Engagement für den Frieden: Papst Benedikt XVI. sagte in seiner Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 2010: „Willst du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung.“ [URL: www.vatican.va/content/benedict-xvi/en/messages/peace/documents/hf_ben-xvi_mes_20091208_xliii-world-day-peace.html].