"Heiliges Berlin - allemal eine Wallfahrt wert"

Predigt von Erzbischof Dr. Heiner Koch im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren im Zentralkomitee der deutschen Katholiken,
liebe Schwestern und Brüder,
verehrtes Präsidium,
verehrter Herr Alterspräsident!


Herzlich grüße ich Sie auf Ihrer Ab- und Aufsprungversammlung: Neue Verantwortliche sind an Ihre Spitze gesprungen, der Absprung der Geschäftsstelle und Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bonn nach Berlin steht unmittelbar bevor. Dieser Sprung ist zweifelsohne mehr als das Zurücklegen einer mehrere hundert Kilometer langen Distanz zwischen der ehemaligen und der heutigen Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Beide Städte stehen auch für unterschiedliche kulturelle und religiöse Zusammenhänge, für andere Traditionen und Lebensweisen.


Sie kommen in eine Metropole mit knapp 4 Millionen Einwohnern, in eine Stadt voll pulsierenden Lebens, aber auch voller weitreichender Unsicherheiten. Sie kommen in eine Stadt mit großer Not nicht nur auf dem Wohnungsmarkt und zugleich mit der Weite vieler Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten, in der aber nach dem gerade veröffentlichten „Glücksatlas“ viele Menschen sagen, dass sie hier nicht glücklich sind. Sie kommen in eine Stadt mit einer reichen Geschichte, mit ihren Spannungen, ihrem Reichtum und ihren Wunden aus der Reformations- und aus der Kaiserzeit, aus der Weimarer Zeit, der Zeit des nationalsozialistischen Terrors und der Zeit kommunistischer Unterdrückung, aus der Zeit ihrer bisweilen noch heute erlebbaren Spaltung, aber auch der friedlichen Freiheitsrevolution und des großen Einsatzes vieler Menschen für die Demokratie. Sie kommen in eine Stadt mit einem starken Rückgang kirchlicher Bindung, in der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 70 % der Bevölkerung Mitglieder der evangelischen Kirche und 11,3 % Mitglieder der katholischen Kirche waren. Heute gehören 13,7 % der evangelischen und 8 % der katholischen Kirche an. Sie leben hier in einer lebendigen Verbundenheit mit den jüdischen Glaubensschwestern und Glaubensbrüdern und den muslimischen Gläubigen. Kaum einer käme hier auf die Idee, die Kirchen als machtvolle Instanzen zu bezeichnen, zudem hat der größte Teil der Menschen hier in Berlin keine oder nur äußerst geringe konkrete Lebenskontakte mit dem christlichen Glauben und den Kirchen je gehabt, viele unserer aktuellen kircheninternen Diskussionen lassen die Menschen hier völlig unberührt. Aber auch die Katholikinnen und Katholiken in sich sind hier eine bunte Gemeinschaft mit den Ur-Berlinerinnen und -Berlinern: Mit denen, die in der Zeit der Mauer aus dem Bundesgebiet nach West-Berlin kamen, um hier auch alternativ leben zu können; mit denen, die nach dem Wechsel des Regierungssitzes aus verschiedenen Regionen Deutschlands hierhergekommen sind und hierher kommen und den vielen Schwestern und Brüdern aus so vielen Ländern der Erde, die nach Berlin kommen und sehr oft hier bleiben wollen: 25 % der Katholiken Berlins sind aus dem Ausland hergezogen und haben hier zum Teil sehr verantwortliche Positionen in der Gesellschaft übernommen. Es ist eine bunte Kirche, dieses demographisch jüngste Bistum Deutschlands mit unterschiedlichen Kirchen- und Glaubenserfahrungen und -vorstellungen seiner Katholiken, die auch mit den unterschiedlichen Einstellungen zu den Vorschlägen unseres Synodalen Weges einhergehen. Hier gut zusammen zu bleiben und die anderen als Bereicherung zu erfahren, ist keine leichte Aufgabe unseres Miteinanders.

Die meisten Menschen in Berlin jedenfalls glauben nicht an einen persönlichen Gott, wie wir ihn in Jesus Christus bekennen, vielleicht noch an so etwas wie ein alles umfassendes Etwas oder eine ganzheitliche Idee, die alles verbindet, aber nicht oder kaum haben sie Gott erfahren als einen, der sich um sie sorgt, der sie begleitet, der sie liebt und auch im Tod nicht sterben lässt. Deshalb gibt es auch eine Tendenz im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs, Gott aus den Überlegungen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens auszuschließen. Nicht wenige sind der Überzeugung, dass Neutralität des Staates in der Gottesfrage bedeutet, Gott, den es ja ohnehin wahrscheinlich gar nicht gibt, unberücksichtigt zu lassen und im gesellschaftlichen Leben nicht zur Geltung zu bringen.

Auf jeden Fall aber fordert diese Haltung uns Christen heraus, um der Menschen willen die Gottesfrage in dieser Gesellschaft wach zu halten oder wieder wach zu rufen. Denn von ihrer Beantwortung hängt alles im Leben ab: Gibt es einen Gott oder gibt es ihn nicht? Ist mit dem Tod alles aus oder gibt es ein Weiterleben nach dem Tod? Gibt es eine Hoffnung für die, die auf der Schattenseite des Lebens stehen und Opfer der Ungerechtigkeit sind oder nicht? Bin ich nur mir selbst verantwortlich oder einem Gott, der mir mein Leben anvertraut hat?

In diesen Fragen ist jeder Mensch ein gläubiger Mensch. In diesem Sinne gibt es auch keine ungläubigen Menschen. Der eine glaubt eben, dass es einen Gott gibt, und der andere, dass es keinen gibt. Der eine glaubt, dass mit dem Tod alles aus ist, und der andere, dass es ein Weiterleben des Menschen in Gottes Ewigkeit gibt. Der Mensch ist nicht für den „Unglauben“, das Nicht-Glauben geschaffen. Wir unterscheiden uns nur in dem, woran wir glauben, oder besser gesagt, wem wir glauben. In vielen Diskussionen, in denen ich hier fast täglich mit Atheisten zusammenkomme, spreche ich sie immer wieder als Menschen mit ihrem Glauben an, worauf sie irritiert antworten, dass sie doch nicht an einen Gott glauben, und ich ihnen dann entgegenhalte, dass auch dies doch ein Glaube sei. Schnell steht dann die These im Raum, dass man eben warten müsse bis zum Tod, dann werde man ja sehen oder eben auch nicht sehen, ob es einen Gott gibt oder nicht. Doch diese Wartelösung ist für uns Christen kein Lösungsweg, denn wir sagen ja nicht nur, dass es irgendwo irgendwie etwas Göttliches gäbe, vielmehr verkünden wir, dass Gott jetzt auf dieser Erde auch mitten in Berlin unter uns lebt, mit uns geht, wir ihm hier begegnen und er uns hier nahe ist: heiliges Berlin, allemal eine Wallfahrt wert!

Wie aber können wir erfahren, dass Gott mit uns geht und bei uns ist? Wie erfahren, dass dieser Glaube nicht eine Illusion ist, die schwache Menschen sich selbst einrichten, um dieses Leben überleben zu können, dass dieser Glaube vielmehr eine beglückende, bereichernde, tragende, heilende und herausfordernde Erfahrung unseres Lebens ist? Wie erfahren, dass wir Gott vertrauen können, der uns so vieles zutraut und anvertraut?

Die Antwort auf diese religiöse Frage ist wohl die gleiche wie in der Beziehung zwischen Menschen: Dass ich einem Menschen vertrauen kann, werde ich nur erfahren, wenn ich ihm meinerseits Vertrauen schenke. Ohne Schenken von Vertrauen keine Vertrauenserfahrung. Ich muss mich auf das Wagnis des Vertrauens einlassen, sonst erfahre ich nicht die Liebe und das Vertrauen der Menschen und die Liebe und das Vertrauen Gottes zu mir. Das deutsche Wort Er-Fahrung bringt dies sehr schön zum Ausdruck: Erfahrung sammelt nur der, der losfährt, der etwas wagt. Wer sitzen bleibt, macht allenfalls in der Schule gewisse Erfahrungen. Das gilt erst recht für die Erfahrung der Liebe und der Gegenwart Gottes. Ich muss mich auf ihn einlassen, um seine Nähe erfahren zu können. Wahrscheinlich erfahren die meisten Menschen deshalb Gott nicht lebendig in ihrem Leben, weil sie nicht dazu bereit sind, sich in ihrem Leben auf Gott einzulassen, sich ihm anzuvertrauen, mit ihm und vor seinem Angesicht ihr Leben und ihre Verantwortung zu gestalten, ihm Vertrauen zu schenken, gleichsam auf Gott hin den Sprung des Lebens zu wagen. Genau das aber ist der Inhalt des christlichen Glaubens, des christlichen Vertrauens. Der christliche Glaube ist etwas für sehr mutige Menschen, die bereit sind, sich mit allen Unsicherheiten, Zweifeln, auch mit mancher Angst in die Hände Gottes fallen zu lassen und an seiner guten Hand leben zu wagen.

Die heilige Elisabeth, deren Fest wir heute feiern, ist ein starkes Beispiel dieses Sprungs des Vertrauens, den sie in ihrem Leben immer wieder gewagt hat. Dieses Vertrauens auf Gott, der ihr in ihrer Familie, die sie so sehr liebte, begegnete und in den Menschen, die als die Schwächsten der Schwachen jenseits ihrer fürstlichen Lebenswelt lebten und nach denen sie sich bückte, des Sprunges hin auf Gott, dessen Wege sie oft nicht verstanden hat, etwa beim frühen Tod ihres Mannes, eines Vertrauens, das sie auch nicht aufgibt, als sie aus ihrem Schloss verstoßen wird und unter den lebensfeindlichen Einfluss eines dämonischen Priesters gerät, bis sie ausgebrannt und erschöpft mit 24 Jahren stirbt.

Die heilige Elisabeth hat in ihrem Leben Ungewöhnliches, Großes voll Vertrauen gewagt, in der Gesellschaft, mit den Menschen an ihrer Seite und vor allem mit Gott. In diesem glaubensvollen Sprung hat sie erfahren, dass ihr Vertrauen auf Gott sie trägt, auch und gerade in dunklen Stunden ihres Lebens.

In ihrem Leben aber wird auch deutlich, wohin uns dieses Vertrauen auf Gott führt: zu den Menschen, mit denen wir zusammenleben, die Gott uns auf unseren Lebens- und Glaubensweg führt und in denen er uns begegnet – gerade auch in denen, mit denen wir uns schwer tun, die oftmals quer zu unseren Denk- und Lebensweisen stehen, aber von denen wir – und das möchte ich gerade aus meiner Berliner Erfahrung sagen – oft sehr viel lernen können, auch in Lebens- und Glaubensfragen und in Gotteserfahrungen und Nicht-Erfahrungen. Deshalb ziehen wir uns nicht in die katholische Blase zurück und in der Kirche nicht in die Blase der Gleichgesinnten.

Ich möchte Sie um eines bitten: Seien Sie in Ihrem Reden, Arbeiten und Wirken immer ein lebendiges Zeichen für das Vertrauen, das so viele Christen in Deutschland auf Gott setzen. Ich hoffe, dass wir zusammen den Menschen von der Hoffnung auf Gott erzählen und von der Erfahrung, auf diesen Gott zu bauen und aus diesem Vertrauen sich für das Leben der Menschen und der Gesellschaft zu engagieren.

Wie wichtig und wie Kraft schenkend dieses mutige, vertrauensvolle Sich-fallen-lassen in Gott hinein ist, ist mir kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie bei einem Besuch einer Zirkus-Veranstaltung, zu der ich eingeladen war, deutlich geworden. Zwei russische Artisten wagten hoch oben in der Kuppel Sprünge, bei denen uns allen der Atem stockte. Später beim Abendessen mit ihnen fragte ich sie, was das Schwierigste bei ihrem Sport und ihrer Kunst sei. Ihre knappe Antwort lautete: „Das Sich-fallen-lassen.“ Und auf meinen erstaunten Blick hin erläuterten sie: „Bei jedem Sprung muss sich auf ein Zeichen  des Fängers hin der springende Artist geradlinig fallen lassen, gegen alle Versuchung, dem Fänger im Sprung gleichsam etwas entgegen zu kommen, indem er ihm etwa die Hände etwas näher bringt. Der Fänger kann nur fangen, wenn der Springer gleichmäßig, gleichsam unbewegt sich fallen lässt und er ihn in einer sicheren Bahn greifen kann. Sonst ist der Sprung verloren.“ Ein wunderbares Bild für unser Gottvertrauen, für die Gnade und die Herausforderung unseres Vertrauens auf einen guten Gott, den Gott, der uns sicher in seinen Armen auffängt.

Liebe Schwestern und Brüder im Zentralkomitee, Sie werden hier in Berlin viele Tagungen abhalten und Kongresse, sie werden strukturelle Überlegungen anstellen und gesellschaftlich hoffentlich in tiefe und lebendige Kommunikation eintreten. Die katholische Kirche in Berlin mit ihren und mit den ihr verbundenen Einrichtungen, insbesondere auch mit ihrer Hochschule für Sozialwesen und mit dem Zentralinstitut für Katholische Theologie an der Humboldt Universität, mit ihren Orten der Caritas, mit ihren Gemeinden, Gemeinschaften und Verbänden, auch mit ihrem Bischof, wir sind gerne bereit, mit Ihnen zusammen diesen Weg hier in Berlin zu gehen. Wir freuen uns auf Sie! Hier können wir manches blaue Wunder erleben. Sie wissen schon, wie ich das meine.

Erzbischof Dr. Heiner Koch

Diesen Artikel teilen: