Warum kirchliche Verwaltungsgerichte?
Impulsvortrag Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrter Herr Präsident Professor Sternberg,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich bedanke mich sehr für die Einladung, heute vor Ihnen zu sprechen, und für Ihre Bereitschaft, mir etwa zwanzig Minuten lang zuzuhören. Sie wollen sich erneut mit dem Thema einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Kirche befassen - einem Thema, das den deutschen Katholizismus, und nicht nur den deutschen, seit dem Zweiten Vaticanum, also seit mehr als fünfzig Jahren beschäftigt. Und Sie haben sich mit mir gewissermaßen einen externen Gutachter eingeladen. Extern nicht im Sinne der Kirchen- oder gar der Glaubensfremdheit; ich bin Katholik wie wir alle, und ich bin es gerne und phasenweise auch mit Überzeugung. Extern aber deshalb, weil ich qua professione Verwaltungsrichter bin, und auch dies gerne und zumeist mit Überzeugung. Allerdings bin ich nicht im kirchlichen Verwaltungsrecht groß geworden, sondern im staatlichen Verwaltungsrecht. Was könnte ich Ihnen dann aber zum Thema einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit sagen? Nun, Kontrast schärft das Bild. Er lässt Unterschiede deutlicher hervortreten und lässt bestimmte Problemlagen vielleicht schärfer sehen. Lassen Sie mich insofern einige Punkte hervorheben, die mir wichtig erscheinen.
Zuvor aber liegt mir an zwei Klarstellungen. Die eine: Ich will Ihre Zeit nicht damit vertun, dass ich Ihnen das organisatorische Konzept einer innerkirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit vorstelle und erläutere, wie es ja schon die Gemeinsame Synode 1975 erarbeitet und beschlossen hat und wie man es so oder doch im Wesentlichen so schon morgen ins Werk setzen könnte, wenn man in der Bischofskonferenz und im Vatikan denn wollte. Sie kennen das alle, und wer es gerade nicht präsent hat, sei auf das großartige Werk von Bischof Dominicus Meier oder auf meinen eigenen kleinen Beitrag in der jüngsten Ausgabe der „Salzkörner“ verwiesen, der den Vorteil hat, dass er sich in zehn Minuten lesen lässt.
Die andere Klarstellung betrifft die aktuelle Debatte: Die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit ist kein Instrument zur Bewältigung des Missbrauchsskandals, der zur Zeit das öffentliche Bild von der Kirche beherrscht. Natürlich besteht insofern ein gewisser Zusammenhang, als der Missbrauchsskandal die Kirche in sämtlichen Hierarchieebenen erheblich verunsichert hat und damit geneigter macht, sich auch über ihre Organisationsstruktur vertiefte Gedanken zu machen. Der Skandal macht reformbereit. Und es besteht die Hoffnung, dass die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit diese Reformbereitschaft an einer prominenten Stelle allgemein sichtbar dokumentieren und damit ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewinnen würde. All dies sei zugestanden. Inhaltlich aber hat eine Verwaltungsgerichtsbarkeit nichts mit den Missbrauchsfällen zu tun. Sie ist vor allem keine Straf- oder Disziplinargerichtsbarkeit. Sie käme allenfalls ins Spiel, sollte ein Pfarrer seines Pfarramts enthoben oder in eine andere Pfarre versetzt werden, etwa weil sein Ansehen in der Gemeinde gelitten hat, und dann auch nur gewissermaßen negativ, weil der Pfarrer die Berechtigung der Maßnahme bestreiten und vor das kirchliche Verwaltungsgericht ziehen könnte, um trotz allem bleiben zu dürfen, wo er ist. Mir liegt viel daran, unmissverständlich zu betonen, dass die Forderung nach einer innerkirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre Berechtigung in sich trägt, und zwar ganz unabhängig von der derzeitigen sittlichen Lage der Kirche, und dass diese Forderung unverändert begründet und unverändert dringlich bleibt, auch wenn sich die Wogen der öffentlichen Empörung über die Missbrauchsfälle wieder geglättet haben sollten.
Ich sagte eingangs, dass die Idee einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit auf das Zweite Vaticanum zurückgeht. Wir wissen alle, dass dieses Konzil das Heilsversprechen Christi in unsere Zeit hinein neu formuliert und die Kirche damit in die Moderne, in unsere Zeit hineingeführt hat. In unserem Zusammenhang sind zwei Grundgedanken des Konzils wichtig. Zum einen hat es die Idee der Gleichheit und der Freiheit aller Gläubigen betont. Und zum anderen hat es das Bild der Kirche dynamisch gezeichnet, als Kirche auf dem Weg, als Kirche in Bewegung, in beständiger Fortentwicklung auf den Herrn hin. Gestatten Sie, dass ich bei diesem sehr grundsätzlichen Punkt noch etwas verweile. Hier liegt nämlich nicht nur die Wurzel der kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern zugleich deren grundlegender Unterschied zur staatlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Jede Gerichtsbarkeit dient dem Rechtsschutz. Jede Verwaltungsgerichtsbarkeit dient dem Schutz der Rechte des jeweiligen Klägers gegenüber der Verwaltung. Demzufolge dient eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Schutz der innerkirchlichen Rechte des klagenden Gläubigen gegenüber der kirchlichen Verwaltung, also gegenüber dem Pfarramt, dem Dekanat, dem bischöflichen Ordinariat. Voraussetzung alles dessen ist, dass der jeweilige Kläger überhaupt eigene Rechte gegenüber der Verwaltung hat, dass solche Rechte in einem Gesetzbuch verbrieft sind, so dass er sich darauf berufen kann. Im Staat ist das der Fall; so sind im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Grundrechte aller Bürger verbrieft. Seit dem Zweiten Vaticanum ist das aber auch in der Kirche der Fall. Das Konzil hat die Gleichheit und die Freiheit aller Gläubigen betont, und Papst Johannes Paul II. hat 1983 das Gesetzbuch der Kirche - das Codex Iuris Canonici - erlassen, in welchem ein ganz ähnlicher Strauß von Grundrechten allen Gläubigen gewährleistet wird.
Und doch liegt es in der Kirche ganz anders als im staatlichen Recht. Im Staat sind die Grundrechte von den Bürgern erkämpft, sie sind einer zuvor absolutistisch regierenden Obrigkeit abgetrotzt worden, als Ergebnis der beiden großen bürgerlichen Revolutionen in Amerika und in Frankreich zum Ende des 18. Jahrhunderts. Ihr Kernanliegen ist deshalb bis heute konfrontativ und defensiv: Sie drängen den staatlichen Einfluss zurück, halten eine bürgerschaftliche Sphäre staatsfrei. Der staatliche Jurist bezeichnet sie deshalb kurz als staatsgerichtete Abwehrrechte. Dem liegt ein Bild zugrunde, in welchem sich Staat und Bürger gegenüberstehen, und die Grundrechte markieren die Grenzlinie; Freiheit in diesem Sinne meint Staatsfreiheit, Freiheit vom Staat. Anders liegt es nur bei den politischen Mitwirkungsrechten: der Demonstrationsfreiheit, der Parteienfreiheit, dem Wahlrecht. Hier geht es um die politische Teilhabe im Staat, um die Verfassung des Staates als Demokratie. Darauf sei hier nur am Rande hingewiesen.
Das Bild der kirchlichen Grundrechte unterscheidet sich hiervon grundlegend. Die kirchlichen Grundrechte wollen dem einzelnen Christgläubigen keinen kirchenfreien Raum sichern. Es geht ihnen nicht um Freiheit des Gläubigen von der Kirche, sondern um die Freiheit des Gläubigen in der Kirche. Sie zeichnen kein Bild, in dem der Gläubige einer kirchlichen Obrigkeit konfrontativ gegenübersteht, und sie markieren demzufolge auch keine Grenzlinie zwischen zwei prinzipiell geschiedenen Sphären. Es geht weder um ein „Gegenüber“, noch geht es um ein „Gegenüber-Stehen“. Es geht vielmehr um ein „Miteinander“, und es geht um ein „Miteinander-Gehen“. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das Zweite Vaticanum für unser Thema zwei Grundgedanken formuliert hat: das der Grundrechte des Gläubigen und das einer dynamischen Sichtweise, welche die Kirche als „Kirche auf dem Wege“ sieht. Dem liegt ein Bild vom Menschen zugrunde, welches den Menschen als allemal fehlsam begreift. Keiner von uns weiß abschließend um das Heil; wir sind Suchende, wir sollen uns bemühen, wir sind immer unterwegs. In die Rechtssprache übersetzt, heißt dies: Erstens, wir haben das Recht auf den Irrtum, schon weil Irren menschlich und unvermeidlich ist. Zweitens, wir haben die Pflicht zu suchen, uns um Wahrheit und Heil zu bemühen. Und drittens, wir haben die dazu nötigen Rechte: uns in die Gemeinschaft der Kirche einzubringen, am Weg der Kirche als deren gleichberechtigtes Glied teilzuhaben. Das ist der Grundgedanke und der Sinn der innerkirchlichen Grundrechte: jeden Gläubigen mit den Befugnissen auszustatten, die ihn in den Stand setzen, am Weg der Kirche gleichberechtigt teilzuhaben.
Natürlich erscheint das im Alltag dann nicht selten in recht kleiner Münze: Eine Lektorin wehrt sich dagegen, dass der neue Pfarrer sie überhaupt nicht mehr zum Dienst am Ambo einteilt; ein Pfarrgemeinderat beschwert sich, dass das Ordinariat unter Berufung auf Belange des kirchlichen Denkmalschutzes keine Genehmigung zum Einbau einer Heizung in das Kirchengebäude erteilt; eine Wohngemeinschaft junger Ordensbrüder möchte die Anerkennung als klösterlicher Konvent; ein Pfarrer verlangt Erstattung von Reisekosten, welche ihm aus Anlass eines Jugendferienlagers entstanden sind; eine Gemeindereferentin möchte bezahlten Urlaub, um ihre Ausbildung abzuschließen; und vieles andere mehr. Immer geht es um Dürfen und Müssen, das auch in der Kirche rechtlich geregelt und geordnet ist. Es geht aber im Kleinen wie im Großen niemals um ein Gegeneinander, sondern stets um ein geordnetes Miteinander. Ein Kirchengericht kann hier Wege weisen, Streitende versöhnen, Widerstreitendes zusammenführen. Natürlich stehen sich in einem Prozess Prozessparteien gegenüber; aber das ist den Spielregeln des Prozesses geschuldet, der den Streitenden bestimmte Rollen zuweist, um ein geordnetes, faires und transparentes Verfahren zu ermöglichen. Wenn dies gut und obendrein klug gemacht wird, liegt Segen darin.
Das Kirchenrecht kennt zahlreiche derartige Verwaltungsmaßnahmen, und es sieht auch durchaus vor, dass sich der jeweils Betroffene dagegen beschweren darf - übrigens nicht nur Kirchenmitglieder, sondern auch Kirchenfremde, sofern sie denn von Maßnahmen der Kirchenverwaltung betroffen sind. Das Kirchenrecht unterscheidet also zwischen einer kirchlichen Exekutive und einer kirchlichen Judikative; es legt damit die klassische Lehre von der Gewaltenteilung zugrunde. Allerdings bleibt es bei einer Unterscheidung der drei Funktionen stehen und schreitet nur unvollständig zu einer auch organisatorischen Trennung dieser Funktionen fort: Auf der Ebene der Diözese vereinigt nämlich der Diözesanbischof sowohl die exekutive als auch die judikative Funktion in seiner Person. Natürlich könnte er nicht alles und jedes selbst erledigen; er muss deshalb delegieren. Verwaltungssachen delegiert er an seinen Generalvikar, dem das Ordinariat zuarbeitet; das sieht das Kirchengesetz vor. Ob er aber auch Justizsachen an einen Gerichtsvikar und damit an ein kirchliches Gericht delegiert, stellt ihm das Kirchenrecht frei (vgl. can. 1400 § 2). Jeder Diözesanbischof könnte deshalb schon heute für seinen Bereich ein kirchliches Verwaltungsgericht einrichten; lediglich für die Installation eines Obergerichts für ganz Deutschland bräuchte die Bischofskonferenz die Genehmigung des Vatikan (can. 1439 § 2).
Ein solches Verwaltungsgericht wäre für alle Verwaltungsstreitsachen zuständig, deren Entscheidung sich der Bischof nicht vorbehält (vgl. can. 1420 § 2, can. 1439 § 3). Hier nun taucht das zweite Grundproblem der kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit auf, auf das ich hinweisen wollte. Eine Gerichtsbarkeit muss nach allgemeinen und gleichmäßig gehandhabten Regeln verfahren, will sie anders nicht die Idee der Rechtsgleichheit verfehlen. Damit vertrüge es sich nicht, dürfte der Bischof jede beliebige Sache wieder an sich ziehen. Was sich der Bischof vorbehält, muss deshalb allgemein bestimmt sein und sollte innerhalb der deutschen Kirchenprovinz auch für alle Bistümer gleich geregelt werden. Es kommt hinzu, dass für diesen Vorbehaltsbereich auch ein sachlicher Grund angeführt werden muss, der seinerseits im Kirchenrecht wurzelt. Dieser Grund ist im Sakrament der Weihe zu suchen, durch welche Bischöfe, Priester und Diakone aus dem Kreis der Gläubigen herausgehoben und zu geistlichen Amtsträgern bestellt werden (can. 1008). Was so Geweihten vorbehalten ist, dürfen, ja müssen sie der Zuständigkeit eines Gerichts entziehen, in dem auch Nichtgeweihte mitwirken. Dazu zählen jedenfalls Fragen des Gottesdienstes, der Verkündigung und der Spendung der Sakramente.
Ob es um Gottesdienst oder Sakramente geht, lässt sich ziemlich eindeutig feststellen. Je weiter aber der Vorbehaltsbereich gezogen wird, desto schwieriger wird die Sache. So wird etwa darum gestritten, ob auch Fragen des „nihil obstat“ in die Zuständigkeit eines kirchlichen Verwaltungsgerichts fallen oder aber hiervon ausgenommen bleiben sollen, ob also ein Theologieprofessor, dem der Bischof das „nihil obstat“ verweigert, das kirchliche Verwaltungsgericht soll anrufen dürfen oder nicht. Die Frage wurde von Anbeginn an kontrovers diskutiert; nach dem Entwurf für eine kirchliche Verwaltungsgerichtsordnung, den die Würzburger Synode 1975 verabschiedet hat, sollen Lehrstreitigkeiten dem Bischof vorbehalten sein. Ich will hier in der Sache nicht Stellung beziehen. Der Fall kann aber illustrieren, wie ein kirchliches Verwaltungsgericht vermutlich damit umgehen würde. In der staatlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit haben wir gründliche Erfahrungen mit derartigen Konstellationen gewinnen können, auf die wir hier zurückgreifen können. Deren Ertrag lässt sich schlagwortartig etwa wie folgt zusammenfassen. Auszugehen ist von der schlichten Tatsache, dass niemand den Theologieprofessor an einer Klage hindern kann, auf die hin der Bischof vom Gericht zur Erteilung des „nihil obstat“ verpflichtet werden soll. Fraglich ist nur, wie das Gericht damit umgeht: Weist es die Klage a limine ab, allein deshalb, weil es um das „nihil obstat“ geht? Oder prüft es immerhin, ob der Bischof tatsächlich inhaltliche Einwände gegen die theologische Lehre des Professors geltend macht? Es könnte ja sein, dass die Verweigerung des „nihil obstat“ nur vorgeschoben ist, um ganz andere Einwände gegen den Professor zu bemänteln. Derartiges ist zwar gottseidank sehr selten, aber völlig auszuschließen ist es nicht - und, vor allem, der Professor könnte publikumswirksam behaupten, in seinem Falle liege ein derartiger Missbrauch der bischöflichen Befugnis vor, und eine kirchenfeindliche Presse könnte es aufgreifen und das Ansehen des Bischofs beschädigen. Deshalb würden wir staatlichen Gerichte eine derartige Klage annehmen und prüfen, ob das „nihil obstat“ auf sachliche Gründe zurückzuführen ist; wir würden freilich zu diesen Gründen selbst nicht inhaltlich Stellung nehmen, denn dies betrifft ja gerade den bischöflichen Vorbehalt. Ich sage voraus, dass ein innerkirchliches Verwaltungsgericht im Prinzip ebenso vorgehen würde, und ich halte das für sachgerecht.
Ich halte es obendrein auch für klug. Damit bin ich bei meinem letzten Punkt angelangt: Was spricht eigentlich dafür, eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit einzurichten? Weshalb wäre das klug? Drei Bemerkungen sollen das Bild abrunden:
Der erste Vorzug liegt auf der Hand: Jede Verwaltungsgerichtsbarkeit entlastet die Verwaltung. Das würde auch für die Kirche gelten. Das gilt natürlich zunächst einmal für den Bischof selbst: Er wird von der Arbeitslast und von der Verantwortung in oft eher alltäglichen Streitsachen entlastet, die mit seinem eigentlichen Heilsauftrag nichts oder nur am Rande zu tun haben. Rein quantitativ mag das nicht sehr ins Gewicht fallen; auch in größeren Diözesen ist nicht mit einem großen Geschäftsanfall zu rechnen, auch wenn die Erfahrungen der evangelischen Kirchengerichte lehren, dass ein Kirchengericht durchaus zu tun hätte. In der Sache dürfte diese Entlastung jedem Bischof willkommen sein. Bedeutsamer aber ist der Vorteil für die bischöfliche Verwaltung, den Generalvikar und das Ordinariat. Kirchliche Verwaltungsgerichte dürften für die Ordinariate denselben Vorteil bieten, den die staatlichen Gerichte für die staatliche Verwaltung bieten und der für diese nachgerade unverzichtbar geworden ist: Ihre Rechtsprechung bietet Gleichmäßigkeit, Rationalität, Konstanz und verleiht der Verwaltung damit Stetigkeit, Verlässlichkeit und ein höheres Maß an Selbstgewissheit und Trittsicherheit. Routinen werden durch unabhängige Prüfung und Billigung abgesichert; das erleichtert die künftige Verwaltungsarbeit schon dadurch, dass das Rad nicht bei jedem Fall neu erfunden werden muss.
Damit verbindet sich der zweite Vorzug. Hier schauen wir auf das Kirchenvolk und auf die allgemeine Öffentlichkeit. Wenn Streitfragen durch unabhängige Gerichte einer Lösung zugeführt und, wenn sie sich nicht schlichten lassen, nach Recht und Gesetz entschieden werden, so bietet schon dies allein ein Mehr an Legitimität und Vertrauen. Das liegt zum einen am gerichtlichen Verfahren: an dem kontradiktorischen Arrangement zweier Streitparteien, die um das bessere Argument ringen, und an der Autorität des streitentscheidenden Dritten, der beiden Parteien gegenüber unabhängig ist; an der Diskursivität der Lösungssuche, die allein auf das rationale Argument setzt und jede Irrationalität, jeden Machtspruch und jede Willkür fernhält; und an der Transparenz und nach Möglichkeit Öffentlichkeit dieses Verfahrens, das sich der allgemeinen Aufmerksamkeit und Kontrolle bereitwillig öffnet. Es liegt aber zum anderen daran, dass die Lösung und Entscheidung des Streitfalles sich allein an rechtlichen Maßstäben ausrichtet, die nicht erst aus Anlass dieses Streits, sondern mit allgemeinem Anspruch bereits zuvor von einer hierzu besonders legitimierten Stelle: dem Papst oder anderen kirchlichen Gesetzgebern gesetzt worden sind. Das Mehr an Legitimität und Vertrauen, das hieraus erwächst, stärkt die Kirche insgesamt, und sie ist darauf gerade in unseren Tagen mehr denn je angewiesen.
Der dritte Vorzug betrifft das Kirchenrecht als rechtliche Ordnung der Kirche. Verwaltungsgerichte behandeln nicht nur einzelne Streitfälle. In der Kette der Einzelfälle bilden sie eine Rechtsprechungslinie aus. Das bietet Stetigkeit und Verlässlichkeit; davon war schon die Rede. Vor allem aber vertieft es die Rechtserkenntnis. Gerade ein Streit um das Recht veranlasst das Gericht, den historischen Wurzeln des anzuwendenden Rechtssatzes genauer als bislang nachzuspüren, nach seinem Sinn zu fragen und die Auswirkungen zu bedenken, die jede der vielleicht in Betracht kommenden Auslegungen nach sich zieht. Das Kirchenrecht wird so wissenschaftlich durchdrungen, und zwar nicht in akademischer Abstraktheit, sondern am konkreten praktischen Fall. Kirchenrecht wird so lebendig und dynamisch; es lebt wie die Kirche selbst: Es ist auf dem Weg. Das alles kann freilich nur eine eigenständige Kirchengerichtsbarkeit leisten; denn sie erfüllt die hierfür entscheidende Voraussetzung der Professionalität. Natürlich müssen die Gerichte dann so besetzt sein, dass diese Voraussetzung auch tatsächlich erfüllt werden kann. Nötig ist eine Mitwirkung von Klerikern, aber zugleich eine Mitwirkung von Laien, und zwar mit gleichem Stimmrecht; ebenso nötig ist aber eine Mitwirkung gelehrter Juristen des kirchlichen und gegebenenfalls des staatlichen Rechts. Maßgebend für solche Besetzungsfragen sollte jedenfalls nicht das Kriterium von Macht und Einfluss bestimmter Gruppen sein, sondern die fachliche Expertise für das Recht.
Meine Damen und Herren: Ich stehe am Ende. Gerade die katholische Kirche war und ist prononciert rechtlich verfasste Kirche. Das war sie schon seit dem Mittelalter, es ist unverändert einer ihrer Markenkerne. Es birgt vielleicht die Gefahr einer übermäßigen Verrechtlichung; das sollte stets bewusst sein. Es bietet aber vor allem die Chance der Rechtlichkeit. Dazu gehört eine Pflege des Kirchenrechts, auch des kirchlichen Verwaltungsrechts, durch unabhängige Kirchengerichte. Es ist Zeit, diese Chance zu ergreifen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert Präsident des Bundesverwaltungsgerichts