Europa wählen. Demokratie stärken!

Impulsreferat von Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren,


auch von mir ein herzliches Willkommen! Ich begrüße Sie persönlich und im Namen der Landesregierung von Rheinland-Pfalz sehr herzlich hier in Mainz.

Ich freue mich sehr, dass das ZdK für diese Vollversammlung, in der es um nichts weniger geht als die Zukunft Europas, die Zukunft unserer Kirche und die zukünftige Perspektive des ZdK, Mainz als Tagungsort ausgewählt hat.

Ein Zufall ist das sicher nicht, denn die Geschichte des Laienkatholizismus ist mit Mainz ganz eng verknüpft.

1848 fand der erste Katholikentag hier statt, es folgten fünf weitere. Auch für den Jubiläums-Katholikentag 1998 war Mainz Gastgeber. Und vor wenigen Tagen, am 29. April, wurde hier der diesjährige „Tag der Diakonin“ gefeiert.
Mainz ist also ein guter Ort für mutige Schritte in die Zukunft!
Und natürlich: Wo könnte man besser für ein starkes demokratisches, weltoffenes Europa werben als in Rheinland-Pfalz? Frei die Grenzen zu Frankreich, Belgien und Luxemburg zu überqueren, ist bei uns gelebter Alltag.

Dass wir in Frieden und Wohlstand in einem geeinten Europa ohne Grenzen leben, ist alles andere als selbstverständlich. Das erleben wir gerade. Wenn wir die Errungenschaft eines geeinten Europas bewahren wollen, müssen wir dafür einstehen und kämpfen!

Vom 23. bis 26. Mai 2019 finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. In Deutschland wird am 26. Mai gewählt, in Rheinland-Pfalz in Verbindung mit der Kommunalwahl.

Ich bin von Natur aus ein optimistischer Mensch und neige gewiss nicht zu apokalyptischen Übertreibungen. Aber ich sage ganz bewusst: Diese Wahl ist eine Schicksalswahl für unseren Kontinent!

340 Millionen Bürger und Bürgerinnen sind aufgerufen, zu entscheiden, ob wir weiter den Weg eines geeinten, solidarischen und freien Europa gehen oder ob Nationalisten und Populisten mit ihrem Kurs der Abschottung über die weitere Entwicklung der europäischen Gemeinschaft maßgeblich bestimmen. Die Wähler und Wählerinnen – also auch wir, die wir hier zusammensitzen – werden darüber entscheiden, ob die Europa-Parlamentarier weiter nach Lösungen suchen sollen, die für möglichst viele Menschen gut sind, oder ob diejenigen den Ton angeben, die laut schreien: „wir zuerst“!

Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind gewaltig. Ich nenne nur drei:

- Global operierende Konzerne und Digitalunternehmen geben immer mehr den Takt vor, dem die Menschen in ihren Arbeitsfeldern angeblich folgen müssen.
- Einst mühsam ausgehandelte internationale Verträge verlieren rasant an Geltung, ebenso schwindet die ebenfalls mühsam aufgebaute Autorität internationaler Einrichtungen wie der Vereinten Nationen.
- Kooperation und Kompromisse, die ganze Kunst der Diplomatie erscheinen in den Augen autoritärer Herrscher nur noch als Schwäche.
Friede bleibt in immer mehr Krisen und Kriegen ein ferner Traum, weil die politisch Handelnden dieses Ziel aufgegeben haben.

Friedenssicherung, Klimawandel, Armutsbekämpfung, Migration, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung – bei all diesen weltweiten Herausforderungen werden die Europäischen Staaten nur dann ein gewichtiges Wort mitreden können, wenn sie es mit gemeinsamer Stimme tun. Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt!

Die Menschen in Europa wissen das.
Die Zustimmung zu Europa ist auf einem Höchststand: 62 Prozent der EU-Bürger und Bürgerinnen sahen im vergangenen Jahr die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU positiv, das ist der höchste gemessene Wert in den letzten 25 Jahren. In Deutschland sind es sogar 81 Prozent!1

Andererseits schickt sich mit Großbritannien zum ersten Mal ein Land in der EU an, die Gemeinschaft zu verlassen. Die antieuropäischen Kräfte haben sich durchgesetzt – meines Erachtens mit gezielter Falschinformation vor dem Brexit-Referendum.

Ich bedaure das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Gemeinschaft zutiefst. Nicht nur die Bürger und Bürgerinnen in Großbritannien werden massive Nachteile dadurch haben, es ist ein Rückschlag für die gesamte EU!

Leider nicht nur in Großbritannien, auch in anderen Ländern erleben wir, dass trotz hoher prinzipieller Zustimmung viele Menschen die EU eher als Problem denn als Lösung sehen. Es ist höchst bedenklich, dass in immer mehr Mitgliedstaaten antieuropäische Kräfte an Einfluss gewinnen und in Teilen auch Regierungsverantwortung tragen. Ich nenne nur Ungarn, Polen und Italien.

Der europäische Einigungsprozess ist ganz offenkundig in der Krise. Nicht nur das Wie der Zusammenarbeit, sondern auch die gemeinsame Wertebasis steht unter Druck.

Auch innerhalb der Mitgliedstaaten gibt es offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine freiheitliche Demokratie ist und wo die Grenzen einer offenen Gesellschaft sind.

Die Gründe dafür sind vielfältig, wir werden darüber gleich in der Diskussion noch eingehender sprechen. Zu berücksichtigen ist sicherlich, dass die postkommunistischen Staaten einen
1 Vgl. www.europarl.europa.eu/germany/de/presse-veranstaltungen/eurobarometer-september-2018.
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unabhängigen Nationalstaat, eine Zivilgesellschaft, eine marktwirtschaftliche Ordnung und demokratische Strukturen auf einen Schlag aufbauen mussten.

Zu betrachten ist ferner die spezifische Geschichte jedes Landes, zu der oft auch die Erfahrung gehörte, dass im neuen Markt die alten Profiteure wieder zu den Gewinnern zählten und die Solidarität innerhalb des Landes auf der Strecke blieb. Hier muss man sehr genau hinschauen, um sich ein Urteil über die Verhältnisse zu bilden.

Die Konsequenz aber ist eindeutig: Auch innereuropäisch gilt offensichtlich, was wir international schon länger feststellen, leider: Die Bejahung von Demokratie geht nicht notwendigerweise mit Rechtsstaatlichkeit, nicht-autoritärer Regierung und der Bejahung der europäischen Werte von Freiheit und Gleichheit einher. Wenn man ehrlich ist, haben wir noch keinen Königsweg gefunden, wie die Europäische Gemeinschaft ihre in der Grundrechte-Charta niedergelegte Wertegrundlage nach innen hin durchsetzt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat deshalb recht, wenn er sagt:
„Unser Kontinent steht an einem Scheidepunkt, an dem wir gemeinsam in politischer und kultureller Hinsicht die Ausgestaltung unserer Zivilisation in einer sich verändernden Welt neu erfinden müssen.“2

Doch was heißt es, die europäische Zivilisation neu zu erfinden?

Wer die Antwort sucht, der sollte kurz zurückschauen.

Ein vereintes Europa ist zu allererst und vor allem anderen eine große, ja eine großartige Idee. Europa ist ein Versprechen, das über den Gräbern von Millionen von Toten zweier Kriege gegeben wurde:

- Nie wieder Krieg.
- Alle Menschen haben den Anspruch auf die gleiche Würde.
- Alle Bürger und Bürgerinnen sind gleich vor dem Gesetz und können am Gemeinwohl in gleicher Weise teilhaben, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Herkunft.
- Jeder und jede hat das Recht auf Meinungsfreiheit, es gibt eine freie Presse.
- Wo einer nicht mehr weiterkommt, greift die Solidarität der Gemeinschaft.

„Alle Menschen werden Brüder“ (wir ergänzen natürlich die „Schwestern“) – diese Zeile aus der Europahymne ist die Kurzformel für die europäische Idee!

Die Idee von Europa als einem großen Friedensprojekt hat in unserer Gegenwart nichts von ihrer Aktualität verloren. Im Gegenteil: In einer Zeit, in der die Welt immer mehr aus den Fugen gerät, in der unser Planet immer mehr Schaden nimmt, in der immer mehr Menschen auf der Flucht sind und neue Mauern errichtet werden, zeigt sich, dass die Werte Europas ein notwendiger Einspruch sind gegen die erbarmungslose Logik eines schrankenlosen Marktes und gegen den Zynismus nationaler Egoismen.

2 Zitiert nach: www.elysee.fr/emmanuel-macron/2019/03/04/fur-einen-neubeginn-in-europa.de

Unsere Werte ergreifen Partei für das Wohl der Einzelnen, sind eine Selbstverpflichtung zu Solidarität und Mitmenschlichkeit.

In ihrer Ausrichtung auf den einzelnen Menschen, in der Sorge für die Schwachen, in der Forderung nach Solidarität und Bewahrung der Schöpfung entsprechen sie zutiefst den Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens. Es sind unsere gemeinsamen Werte als Christen und als Demokraten, um die es derzeit geht. Deshalb können Christen und Christinnen auch nicht schweigen, wenn Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität innerhalb der Europäischen Union auf dem Spiel stehen!

Ich habe mich am Montag gefreut, in dem gemeinsamen Aufruf zur Europawahl von Evangelischer und Katholischer Kirche den klaren Satz zu finden, dass nur ein geeintes Europa Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit bietet.

Und natürlich freue ich mich über die Europainitiative des ZdK, die sagt: Europa stimmt!

Diese Initiative zeigt, dass in den Diözesen, in den Verbänden und überall ganz viele Christen und Christinnen für ein freies, demokratisches und solidarisches Europa eintreten! Das ist auch die Botschaft dieser Vollversammlung in Mainz!

Liebe Kollegen und Kolleginnen,

wir müssen als Demokraten und als Christen die europäische Idee wieder so erzählen, dass sie begeistert, dass Menschen wieder Lust und Freude haben davon zu erzählen. Vom Feuer vergangener Zeiten nur zu hören ist etwas anderes, als das Feuer selbst zu spüren. Ich bin überzeugt, dass das gelingen kann. Weil ein vereintes Europa ohne Feindschaft und Grenzen eine großartige Idee ist. „Pulse of Europe“ macht es uns vor.

Mir persönlich ist es ein besonderes Anliegen, junge Menschen für Europa zu begeistern.

Das kann am besten gelingen, wenn es persönlich erlebt wird. Ich mache mich dafür stark, dass jeder Jugendliche in Rheinland-Pfalz die Möglichkeit bekommt – und auch nutzt --, während seiner Schul- oder Studienzeit einen längeren Aufenthalt in einem anderen europäischen Mitgliedstaat zu machen. „Erasmus“ (seit 2014 eigentlich „Erasmus plus“) ist eine gute Erfindung von Europa. Ein grenzenfreies Europa ist für die meisten jungen Leute heute wie das Wasser für den Fisch. Das ist wunderbar und das soll auch so bleiben!

Im Blick auf diese jungen Leute bin ich für mich ganz klar: ich will unseren Enkeln ein Europa hinterlassen, das Frieden und Freiheit bewahrt, das soziale Gerechtigkeit anstrebt und wirtschaftlichen Erfolg ebenso bietet wie lebenswerte Umweltbedingungen.

Das kann freilich nur gelingen, wenn die Menschen das Gefühl haben: Europa ist nicht nur eine Idee, sondern ist auch die „Solidarität der Tat“, wie Robert Schuman das so trefflich genannt hat.

Wie schwer das ist, dem selbstgesetzten Maßstab zu genügen, wird an keiner Stelle so deutlich wie beim Umgang mit Flüchtlingen. Natürlich stimmt es, wenn ein Schriftsteller wie Navid Kermani darauf besteht, dass die europäische Idee nicht nationalstaatlich, sondern universal ist, dass sie keine festgefügten geographischen Grenzen kennt und„nicht einfach in Gibraltar oder in Irland, an den Grenzen Polens oder Bulgariens aufhören“ kann.3

Die Tatsache, dass 2018 im zentralen Mittelmeer im Schnitt jeden Tag sechs Menschen ertrunken sind bei dem Versuch, Europa zu erreichen, ist himmelschreiend und überhaupt nicht hinzunehmen.

Es muss unbedingt gelingen, zu einem solidarischen und vor allem humanitären gemeinsamen europäischen Asylsystem zu gelangen!

Der berechtigte Wunsch nach Sicherheit durch Sicherung der europäischen Außengrenzen und die Prinzipien der Humanität müssen einen anderen Ausgleich finden!
Auch muss Europa in noch stärkerem Maße zu einem gerechteren und sozialeren Europa für seine Bürger und Bürgerinnen werden.

Aus der Geschichte verständlich, aber viel zu lange haben wir in der EU vor allem Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den Vordergrund gestellt und die sozialen Fragen vernachlässigt.
Um nicht missverstanden zu werden: Probleme wie Ausbeutung, Lohndumping und Steuervermeidung sind keine Erfindungen aus Brüssel. Es gab sie vor der EU und es würde sie – noch dazu in einem globalen Wettbewerb – auch ohne Brüssel geben.

Für ein geeintes Europa zu werben heißt, den Menschen klarzumachen, dass Brüssel einen Unterschied macht hin zu mehr Gerechtigkeit. Menschen müssen in ganz Europa viel stärker spüren, dass sie in einem sozialen Europa leben, das ihnen Wohlstand und Sicherheit bietet.

Wer ein demokratisches und weltoffenes Europa will, muss also dafür sorgen, dass sich das Versprechen der europäischen Idee nicht nur für wenige, sondern für möglichst viele erfüllt.

Wir brauchen dazu den Mut und die Entschlossenheit, die Strukturen der EU so weiterzuentwickeln, dass die Menschen das Vertrauen in die Prozesse der Europäischen Union zurückgewinnen.

Denn nur eine starke, demokratische und soziale EU kann eine echte Antwort auf die „America-First“-Doktrin von Trump geben und auf den chinesischen Staatskapitalismus, der Wohlstand ohne Freiheit und Demokratie schafft.

Nur ein starkes und geeintes Europa kann Friedenskraft in der Welt sein, kann einen europäischen Mindestlohn durchsetzen und wirksame Maßnahmen gegen Ausbeutung ergreifen.

Nationale Abschottung hat nichts, rein gar nichts anzubieten! Das müssen wir immer wieder klarmachen!
Liebe Kollegen und Kolleginnen, liebe Mitchristen,
Lassen Sie uns die Tage bis zur Europawahl nutzen, intensiv für ein geeintes Europa zu werben. Es ist gut, dass es viele Initiativen gibt, die sich für dafür einsetzen. Ein Beispiel hierfür

3 Vgl. Navid Kermani, Europa im Jahr 2032: Eine Vorschau auf das nächste Jubiläum (als pdf online).

ist „Make a cross“ (https://make-a-cross.com) – ein Projekt, das von mir persönlich unterstützt wird.
Für Pessimismus ist kein Grund, wenn man sich immer wieder klarmacht, welch große, ja welthistorische Leistung mit der Europäischen Union bereits erreicht wurde.

Papst Franziskus hat in seiner Ansprache bei der Verleihung des Karlspreises gesagt:
„Die Kreativität, der Geist, die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen, gehören zur Seele Europas.“4,
Vertrauen wir diesem Geist! Gehen Sie am 26. Mai zur Wahl und fordern Sie andere dazu auf! Wir brauchen die Stimme der Christen und Christinnen für ein starkes und freies, für ein demokratisches und weltoffenes Europa!
Ich danke Ihnen.

4 w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/may/documents/papa-francesco_20160506_premio-carlo-magno.html

Malu Dreyer Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz

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