Historische Perspektiven Impulsvortrag von Prof. Dr. Thomas Großbölting
beim Symposium „Anstrengende Vielfalt. Kirche in der pluralen Gesellschaft – historische Perspektiven“ - es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
auch von meiner Seite begrüße ich Sie herzlich!
Ich bedanke mich für die freundliche Einführung bei Ihnen, Frau Jarrasch,
Herrn Wissing für die Einladung hier zu sprechen
Herrn Winkler, dem Organisator, für die Geduld und Ausdauer im Vorfeld!
„Anstrengende Vielfalt. Kirche in der pluralen Gesellschaft“ – so haben Sie den heutigen und den morgigen Tag überschrieben, und sich damit zweifelsohne einen der ebenso drängendsten wie spannendsten Prozesse aktuell wie auch der kommenden Jahre vorgenommen. Wenn Sie einen Blick in den Mailverkehr werfen, den wir vor unserem Treffen hatten, dann sehen Sie rasch, wie vielfältig und aufgeladen das Thema ist:
Die Tagungsregie hat nicht weniger vorgesehen als einen historisch-analytischen Zugang, der nicht nur klärt, wie sich der Verlust der gesellschaftlichen Dominanz der Kirchen vollzog, dabei Bruchstellen, Kontinuitäten, aber auch Integrationsdefizite und Integrationsleistungen benennt, nebenbei analysiert, für wen die Kirchen heute sprechen können und dann abschließend klärt, ob Deutschland noch ein – in Anführungszeichen „christliches Land“ sei. Und all das, meine Damen und Herren, nicht nur in Abstimmung zu Pater Mertes, der stärker in Gegenwart und Zukunft schauen wird, sondern vor allem
in 20 Minuten! Chapeaux!
Ich will dieser Frage nicht ausweichen, gebe Ihnen aber zunächst nur eine ganz geraffte
Antwort:
Der Megatrend im religiösen Feld Deutschland ist der der Säkularisierung: Für immer weniger Menschen ist das Leben mit einer Transzendenz attraktiv. Das ist erstaunlich und läuft doppelt gegen den Trend:
- Weltweit trifft dieses nicht zu, Religion ist im Boom, und das sowohl in der islamischen wie auch in der christlichen Welt.
- Das ist mit Blick auf die deutsche Situation auch deshalb erstaunlich, weil es angesichts der Abnahme von Religion in den bisherigen Formen nur wenig oder nur bescheidene Ansätze von Pluralisierung gibt. Kurz gesagt: Die großen Anbieter – Katholiken und Protestanten – schwächeln, daneben kommt aber wenig Neues. Das heißt: Die spezifische Konstellation in Deutschland führt dazu, dass insgesamt die Attraktivität religiöser Lebensentwürfe als geringer eingestuft wird.
- In den kirchlichen Großgemeinschaften haben wir den Megatrend der Entkirchlichung, speziell seit Ende der 1960er Jahre. Die beiden Großkirchen stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber und wirken phlegmatisch. Der Veränderungsdruck wird erst dann größer und unausweislich, wenn die Kirchensteuereinnahmen wegbrechen. Zum Glück gehört die Abgrenzung gegenüber dem religiös Anderen wie zum Beispiel gegenüber den Muslimen nicht zu dieser Strategie.
- Das bundesdeutsche System als Ganzes ist schlecht dafür ausgestattet, stärkere religiöse Pluralität zu integrieren. Zu stark ist nicht unbedingt die gesetzliche, wohl aber die politisch-praktische Bindung an die beiden Großkirchen. Was „richtige Religion“ ist, ist im common sense stark vom Christentum geprägt – und dies zieht zugleich eine gläserne Decke ein, die den Islam und seine Gemeinschaften anders behandelt. Der Staat steht diesem Problem recht hilflos gegenüber, aktive Religionspolitik gibt es kaum.
All diese Punkte ließen sich weiter ausbuchstabieren. Damit wäre aber die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Pluralität nicht wirklich aus einer historischen Perspektive beantwortet.
Um die Größe der Fragen angemessen in den Blick zu nehmen, Ihnen auf diese Weise etwas Neues, Anregendes, einen Impuls eben zu präsentieren, gestatten Sie mir einen geschichtswissenschaftlichen Taschenspielertrick:
Wir gehen zunächst ganz weit zurück – 200 bis 250 Jahre. Und wir abstrahieren stark: Um den Preis, dass wir viele Details aus dem Blick verlieren, gewinnen wir auf diese Weise dennoch einen Blick fürs große Ganze: Ich möchte Ihnen vorführen, wie sich seit circa Ende des 18. Jahrhunderts: die Form der Vergesellschaftung von Religion - also die ganz spezielle Organisationsform Kirche, ausgebildet hat, in der und um die wir heute ringen und streiten
Die alte, die vormoderne Kirche – ich fasse das ganz grob zusammen – spielte sich wesentlich in der Interaktion der Pfarrgemeinde ab und damit in der Gesellschaft der Anwesenden. Hier gingen die soziale Differenzierung, die weltliche und die ökonomische Machtverteilung Hand in Hand, mit der religiösen Form. Nur wer katholisch war, gehörte im Dorf dazu. Und
wer im Dorf dazugehörte, war katholisch. Mess- und Abendmahlfeiern, Kirchenzucht, Kirchenstuhlwesen, Prozessionen und Bruderschaften und vieles mehr standen für diese Verbindung von sozialer Inklusion, sozialer Stratifikation und pfarrgemeindlich gestalteter Frömmigkeit. Individualität war nicht wichtig: Nicht die Bekehrung, sondern das Hineingeborenwerden in eine Religionsgemeinschaft war der normale Modus der Existenz. Das entsprach der Praxis und dem Denken einer geburtsständischen Ordnung. Cuius regio, eius religio – die Konsensformel des Westfälischen Friedens fasste diesen Zustand noch einmal in politische Dimensionen.
Ab dem 19. Jahrhundert wird das anders. Gesellschaft entsteht anders, konstituiert sich anders: Die Orte, die Medien und die Modi ändern sich frappant im Vergleich zum Ancien Regime:
1. Die Raumstruktur der Gesellschaft verschob sich, weil sich die Gesellschaft immer weniger lokal vernetzte, sondern immer mehr überregional wie auch in politischen und ökonomischen Handlungszusammenhängen vollzog. Die Nation wird in vielen Dimensionen gleichbedeutend mit Gesellschaft.
2. Nicht mehr die Kommunikation unter Anwesenden dominierte, sondern die Massenmediale Kommunikation gewann zunehmend an Bedeutung. Post, Reisen, Zeitung – um nur wenige Stichworte für diese Medienrevolution zu benennen.
3. Dann die Modi: Integrationsprozesse verschoben sich von verherrschafteten und korporativ geordneten sozialen Einheiten – da bin ich reingeboren! - zu solchen, die sich organisationsförmig gestalteten: Ich bin prinzipiell freiwillig dabei und, wenn ich mich der Organisation anschließe, habe ich bestimmte Regeln zu befolgen und Überzeugungen zu teilen.
Für das Christentum und seine Zuordnung zur Gesellschaft änderte sich damit vieles, wenn nicht gar alles: Mit dem Reichsdeputationshauptschluss fiel nicht nur die bisherige Finanzund Machtgrundlage weg, sondern der Katholizismus erfand sich auch als Sozialform und in seiner Hinordnung zur Gesellschaft neu.
Drei Punkte auf drei verschiedenen Ebenen will ich hier benennen:
Religion wird zur Privatsache, indem sich der Staat davon prinzipiell absetzt. Der Katholizismus erfindet sich in dieser Situation neu als Familienreligion und damit als eine Bastion gegen die Moderne. Die Betonung der Familie ist zunächst als Kompensation für verlorene Sicherheit, Einheit und Orientierung gedacht und verspricht, die Gemeinschaft gegen die moderne Gesellschaft und ihre Anonymität stark zu halten. Für den Mann wurde der Beruf zum ersten Medium der sozialen Inklusion, für die Frau die Familie und – eng damit verbunden – die Religion. Religion und Kirche wird hier zum Spezialgebiet. Zugleich setzt die Feminisierung des Christentums hier ein, ohne dass sie sich organisatorischmachtpolitisch weiter niederschlägt.
Für den oder die Einzelne wird Religion jetzt tendenziell zur Identitätssache. Wer nicht mehr hineingeboren ist in den Zusammenhang, der kann sich entscheiden, dafür oder dagegen. Teilnahme an Gottesdiensten oder sonstige Formen der Gottesverehrung taugen ab dem Moment als überaus brauchbares Element für die Gestaltung moderner Individualität, wenn sie als Entscheidung betrachtet wird.
Hier liegt auch der Kern dafür, dass Religion nun als soziale Bewegung und systemsprengend funktionieren kann: Die Greta Thunbergs des 19. Jahrhunderts, deren einsamer Schulstreik bis hin zu einer weltumspannenden Bewegung avancierte, waren oftmals religiös motivierte Menschen.
Umgekehrt beginnt die Organisation nun, die Mitgliedschaft zu dramatisieren. Es braucht die ständige Abfrage. Die Häufigkeit von religiöser Kommunikation wird zur Kernfrage für die Reproduktion von Religion als eines sozialen Systems. Entscheidung dafür und Engagement in diese Richtung müssen immer wieder abgefragt und inszeniert werden. Was glaubt Du? Wer bist Du? Mit wem verkehrst Du? Und so weiter und so fort. Gottesverehrung und Abendmahlfeier werden jetzt beobachtet mit Blick auf Frequenz und Teilnehmerzahlen. In den 1950er Jahren ist es die sogenannte Mischehendebatte – wen heiratest Du? - , die diese Tendenz noch mal aufscheinen lässt.
Von der Sozialform her gestaltete sich Religion nun als Organisation. Prägend waren der Verein und die soziale Bewegung. Vergesellschaftung als Gnadenanstalt verband sich mit professionalisierten Expertenrollen und einer sakral überhöhten Hierarchie. Rom wurde zum Zentrum der Lehrautorität, das Nuntiaturwesen zu einem den modernen Regierungen nachgebildeten Berichts- und Überwachungsinstrument. Die Wiederzulassung des Jesuitenordens 1814 war der spektakuläre Beginn einer Politik der Privilegien und Gnadenmittel, mit der sich die römische Kirche seit dem 19. Jahrhundert verstärkt als von Christus eingesetzte, alleinige Mittlerin zwischen den sündigen Seelen und Gott zur Sichtbarkeit brachte. Die Dogmen päpstlicher Unfehlbarkeit beispielsweise sind dann vor allem Dramatisierung, die Respezifizierung von Mitgliedschaft: Wenn Du katholisch bist, dann gehört dieser Glaube an die Infallibilität zwingend in Deinen Kopf!
Der große Trend des ausgehenden 18., des 19. und des 20. Jahrhunderts bis in sein letztes Viertel hinein ist nicht die Pluralisierung, sondern das Gegenteil: Es herrscht das soziale Prinzip der Uniformität, der Standardisierung und damit verbunden der Rationalisierung.
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Damit steht die Kirche nicht alleine, sondern ist vielmehr eingebunden in einen säkularen und umfassenden Trend. Idealbild für den oder die Katholikin ist es, ein Glied in der acies bene ordinata zu sein, in der „wohlgeordneten Schlachtreihe“ der Gläubigen also, die dann nicht nur auf dem Katholikentag national, sondern auch in der Fronleichnamsprozession lokal vorgeführt wird. Das ist die Welt der Moderne und Hochmoderne. In dieser bewegen wir uns bis heute – und haben doch eine immer stärkere Ahnung davon, dass sich diese so nicht hält!
Das war der erste Schritt dazu, meine Damen und Herren, die Medaille zu wenden. Sie sitzen ja nicht in einem historischen Proseminar, Wir handeln uns mit der systemtheoretischen
Beschreibung einen tendenziell konservativen, da auf den gegenwärtigen Wandel nicht gut vorbereiteten und vor allem nicht politisch argumentierenden Zugriff ein. Und generell gilt,
dass die Vergangenheit "nicht klug für ein andermal macht, wohl aber – so Jacob Burckhardt – „weise für immer".
Welche Form von Weisheit steckt in diesem historischen Rückblick für heute und speziell für die Frage nach dem Umgang mit Vielfalt und Pluralität?
- Die erste Einsicht ist ebenso banal wie grundlegend: Christentum und auch das Christentum in seiner katholischen Variante ist wandelbar. Ungeachtet von Pfadabhängigkeiten und im Katholizismus so hochgeschätzter Tradition gilt es, den Formen- und Variantenreichtum, den die Geschichte und aktuelle Vorbilder bieten, tatsächlich auch kreativ zu nutzen und in diesem Sinne auch beherzt an der Veränderung zu arbeiten.
- Die zweite Einsicht nimmt das religiöse Feld als Ganzes in den Blick: Löst man sich von der spezifisch deutschen oder – eigentlich muss man das noch enger fassen – altbundesrepublikanischen Variante der christlichen Meistererzählung, dann scheint rasch durch, dass die Pluralität von religiösen Optionen als der „religionsgeschichtliche Normalfall erscheint. Die Idee von sich ausschließenden religiösen Optionen ist das Ergebnis eines langen europäischen Prozesses der Normatisierung religiöser Dynamik durch die europäischen Theologien und Kirchen. „Auf das Ganze gesehen ist die Auffassung der religiösen Welt als Konkurrenz einander ausschließender Religionen darin ein artifizieller Sonderfall“. Die Situation
vor der Konfessionalisierung, in der der Einzelne ganz selbstverständlich Formen der Magie und der Volksfrömmigkeit mischte mit den pastoralen Angeboten des katholischen Pfarrers, finden sich heute in den religiös viel pluraleren und vitaleren Vereinigten Staaten wieder: Der Religionssoziologe Peter Berger trug dieses Beispiel immer wieder vor: Natürlich betet die wiedergeborene fundamentalistische Christin für ihren Mann in der festen Überzeugung, damit eine direkte Heilshandlung Gottes zu bewirken – und zugleich schickt sie doch nach einem Arzt, der mit ganz profanen medizinischen Mitteln der Gesundheit auf die Sprünge hilft. Heute sind Theologen wie Michael Seewald und andere dabei, die denkerischen und dogmatischen Voraussetzungen dafür zu prüfen und weiterzudenken, wie die Religionsgemeinschaft ein höheres Maß an Ambiguitätstoleranz aufbauen kann.
- Ein dritter Punkt buchstabiert diese Folgerung aus für den Katholizismus – und leitet her, was viele von uns unterschwellig immer schon ahnen: Die besondere Zuspitzung auf das Amt und die Hierarchie, die Formulierung und das Durchpraktizieren von Unvereinbarkeitsbeschlüssen – also allen in allem die Vergesellschaftung von Religion als Organisation, die Geschlossenheit will und deshalb ihren Mitgliedern Regelbefolgung abverlangt, ist eine Form von Vergesellschaftung, in der Moderne erfolgreich war, dieses aber in Zukunft nicht mehr sein wird. Katholizismus heute ist ungemein plural – und das wird sich nicht mehr in eine neue alte Geschlossenheit bringen lassen. Klerikalismus ist nicht das einzige, aber ein wichtiges Stichwort im Zusammenhang
mit dem Missbrauchsskandal. Es ist nicht allein, aber auch die Ausgestaltung und die sakrale Überhöhung des Amtes in der Sozialform Organisation, die die sexuellen Übergriffe und Gewalttaten mit ermöglicht haben.
Das ist nur ein Aspekt davon, dass es um ein Comeback der Kirche, so der ostdeutsche Religionsphilosoph Eberhard Tiefensee, nicht mehr gehen kann, sondern nur um „die anderen“. Die Vorstellung, dass der Kirche Menschen verloren gehen, ist der falsche Ansatz in den Gegenden, wo die wenigsten je dazugehörten. Das bedeutet aber auch, dass wir uns von einer Fixierung auf statistische Parameter lösen müssen. Zahlen lügen nicht, ja das stimmt, aber sie lügen vor allem deshalb nicht, weil sie auch nicht viel erzählen, sondern ihrerseits gedeutet werden müssen.
Mit einer ganz grundsätzlichen Bemerkung möchte ich schließen, der sich noch einmal stärker wegbewegt aus den so gewohnten Denkbahnen:
- Bleibt man im Gehäuse der Systemtheorie, dann sieht man einen fortschreitenden Prozess der funktionalen Differenzierung, der sehr folgenreich ist: Es gibt valide Hinweise darauf, dass in allen reichen Ländern dieser Welt, in denen die Sozialordnung ausreichend Sicherheit und Planbarkeit des Lebens garantiert, praktizierte Religion stetig abnimmt. Diese Gesellschaften haben immer weniger Anlässe, in denen Menschen zwingende Gründe für religiöse Sinnbildung in den jeweils überkommenen sozialen Gestaltungen sehen. Theoretisch gibt es einen naheliegenden Schluss: Religion ist kein universales, sprich: kein per se immerwährendes, sondern ein historisches, eventuell auch zeitlich begrenztes Phänomen. Für die Religionsgemeinschaften wirft das weitreichende Fragen auf: Auf welche Problemlagen wird künftig mit religiöser Sinnbildung reagiert werden? Und wie nutzen das die Religionsgemeinschaften für ihre eigene Form der Vergesellschaftung und Systembildung?
Prof. Dr. Thomas Großbölting