Der Geist der Bejahung von Per Leo

"Wenn Christen politisch nicht neutral sein wollen, werden sie lernen müssen, strategisch zu denken" - es gilt das gesprochene Wort

1.

Das Büchlein Mit Rechten reden, dem ich Ihre Einladung verdanke, teilt mit Klassikern wie Der Untergang des Abendlandes oder Die Unfähigkeit zu trauern die zweifelhafte Ehre, den Diskurs um eine Floskel bereichert zu haben. Völlig losgelöst vom Text schweben die drei Wörter seines Titels schwerelos durch die Ödnis einer Debatte, die sich hartnäckig weigert, einem verwickelten Problem anders beizukommen als durch eine plumpe Alternative: Müssen wir mit Rechten reden – oder sie bekämpfen? Als ob das eine das andere ausschlösse! Als ob nicht beides längst stattfände, ohne dass irgendjemand um Erlaubnis gefragt worden wäre. Seit die organisierte Rechte wieder zu einem Machtfaktor geworden ist, haben Politiker, Journalisten und Wissenschaftler kaum eine andere Wahl, als mit ihren Vertretern, Anhängern und Hinterleuten zu reden. Und die Parlamentsdebatten, Talkshows und Interviews verweisen ja nur an exponiertem Ort auf etwas, das Tag für Tag unzählige Male auch ganz beiläufig geschieht. Ob in den sozialen Medien, ob in Vereinen, Gewerkschaften und Kirchengemeinden, ob auf Familienfeiern, im Büro und selbst im Freundeskreis: Der mal um Abgrenzung, mal um Verständnis bemühte, oft gehässige, meist frustrierende, fast immer anstrengende Umgang mit Leuten, die fundamental anders denken und fühlen als man selbst, ist zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Ob dieses Reden stattfindet, hat die Wirklichkeit längst entschieden. Umso dringlicher stellen sich dafür andere Fragen: Wie miteinander reden? Wann? Mit wem? Unter welchen Umständen? Zu welchem Zweck? Mit welchen Erwartungen? Zu welchen Bedingungen? Mit welchen Chancen und Risiken? Und nicht zuletzt: Wer? Bin ich selbst überhaupt bereit, solche Gespräche zu führen? Oder will ich es lieber anderen überlassen? Diese Fragen zeugen weniger von Moral als von Klugheit, einer Tugend, ohne die man auf Dauer keinen Konflikt unbeschadet überstehen wird.

Und klug sollten wir sein, denn unsere Zeit ist auf eine so kämpferische Weise politisch, wie wir es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Ob wir es wollen oder nicht, wir werden uns daran gewöhnen müssen, Politik über das sonst übliche Maß hinaus auch als Kampf zu betrachten. Wie er zu führen ist, welche Gefahren er birgt, nach welchen Kriterien sich sein Erfolg bemisst, scheinen mir Schlüsselfragen unserer Zeit zu sein. Dagegen stellt uns das Reden mit Rechten vor eher taktische Probleme. Nicht unwichtig, aber vor der Taktik kommt die Strategie. Lenins klassische Frage »Was tun?« wäre sinnlos, hätte man nicht zuvor Carl Schmitts strategische Maxime befolgt: Erkenne die Lage! Am Ende werden Sie für sich selbst entscheiden müssen, inwiefern es auch für Christen geboten sein mag, in Metaphern und Begriffen des Kampfes über das eigene Engagement nachzudenken. Damit es aber überhaupt etwas zu entscheiden gibt, will ich Ihnen nun meine Sicht auf die politische Lage darstellen. Zu diesem Zweck werde ich drei Sätze interpretieren, die vom vielfachen Gebrauch so abgeschliffen sind, dass man ihre kantige Klugheit kaum noch bemerkt.  

Der erste Satz stammt von Karl Marx, der Hegels Behauptung, die weltgeschichtlichen Tatsachen ereigneten sich immer zweimal, bekanntlich so glossierte: Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce. Weil ich Ihnen also gleich zu Beginn meines Vortrags einen großen Atheisten zumute, dürfen Sie sich dann im Mittelteil bei einem großen Katholiken entspannen, dessen berühmtester Satz schon so manches Phrasenschwein gefüllt hat. Die Rede ist vom sog. Diktum des Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Der letzte Satz, auf den mein Argument am Ende zuläuft, mag Christen wiederum irritieren, denn sein Urheber war zwar kein Atheist, dafür aber ein Meister des blutigsten aller Handwerke. Und so heißt denn auch das einzige Werk, das der chinesische General Sun Tzu hinterlassen hat: Die Kunst des Krieges. Von den vielen funkelnden Aphorismen, die dieser zweieinhalbtausend Jahre alte Urtext des strategischen Denkens enthält, lautet der meistzitierte: Jede Kriegsführung beruht auf Täuschung.

 

2.

Marx’ Satz ist nicht geschichtsphilosophisch gemeint. Anders als Hegel und viele seiner Epigonen denkt Marx hier nicht über die Ähnlichkeit von historischen Ereignissen nach. Er stellt nur fest, dass es in politisch unsicheren Lagen das Bedürfnis gibt, sich mit Hilfe weltgeschichtlicher Analogien Orientierung zu verschaffen. Gerade in Umbruchzeiten, so Marx, neigten die Lebenden dazu, sich von den großen Toten der Vergangenheit »Namen, Schlachtparole, Kostüm« zu leihen, um in »dieser altehrwürdigen Verkleidung« das verstörend Neue ins milde Licht einer vertrauten Geschichte zu tauchen. Der Satz hat eine psychologische Pointe, und sie ist von schwarzer Ironie. Während nämlich die Totenerweckung in manchen Fällen dazu diene, »die neuen Kämpfe zu verherrlichen« und eine im Hier und Jetzt »gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben«, so bedeute sie in anderen genau das Gegenteil: eine Flucht vor der Wirklichkeit in den Abklatsch eines historischen Dramas. »So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789 bis 1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und römisches Kaisertum«; dagegen »wusste die Revolution von 1848 nicht besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793 bis 1795 zu parodieren.« Und am Ende dieser Parodie steht eben jene »lumpige Farce«, von der Marx am Anfang seines Textes spricht. Der Staatsstreich, mit dem Louis Bonaparte 1851 das Zwischenspiel der II. Republik beendete, ist ein lächerliches Zitat des 18. Brumaire 1799, als Louis’ Onkel Napoleon die Staatsgewalt an sich gerissen hatte, um in einem Parforceritt sondergleichen Europa die letzten Reste des Mittelalters auszutreiben.

Wenn Marx hier eine Wahrheit über die Geschichtsbedürftigkeit politischer Zeiten ausspricht, dann heißt das auch: über uns. Meine Schriftstellerkollegin Katja Petrowskaja hat die Zeit des Nationalsozialismus, oder wie es in ihrer sowjetischen Heimat hieß: des Hitlerfaschismus, und des Zweiten Weltkriegs einmal »unsere Antike« genannt. Womit gemeint war, dass wir uns die Geschichten aus dieser Zeit immer wieder aufs Neue erzählen, im Kino, im Fernsehen, in der Wissenschaft, in Gesprächen, und nicht zuletzt natürlich in der Literatur, so wie Katja und ich es in unseren Büchern auf ganz unterschiedliche Weise getan hatten. Das war 2014. Aber seitdem hat sich die Lage dramatisch verändert. Inzwischen erzählen wir uns diese Geschichten nicht mehr. Wir spielen sie nach, oder um es mit Marx zu sagen: Wir leihen uns Namen, Schlachtparolen und Kostüme der 1930er Jahre, um die Kämpfe unserer Gegenwart in die Kulissen der späten Weimarer Republik und damit vor den Horizont des Nationalsozialismus zu stellen.

Ich nenne stellvertretend für viele den Aktionskünstler Philipp Ruch, der 2018,  nachdem er sämtliche Ausgaben der linksliberalen Weltbühne von 1932 gelesen hatte, meinte feststellen zu müssen, dass »Weimar brennend aktuell« ist. In einem kurz darauf veröffentlichten Redemanuskript las sich das dann so: »Ich fürchte, dass unsere Gesellschaft unterspült werden kann, wie es schon einmal in nur vier Jahren, zwischen 1928 und 1932, geschehen ist. […] Warum tolerieren wir Demokratiefeinde? […] Diese Politik gipfelte schon einmal im Appeasement von 1938 […]. Der Fehler, die eigene Faulheit zur Friedensliebe umzudekorieren, darf uns nicht noch einmal unterlaufen. Es wird niemals demokratisch oder tolerant sein, demokratiefeindliche Umtriebe [wie auf] auf den Straßen von Chemnitz zu dulden […]. Wir glauben, dem Kampf mit Toleranz zu entkommen. […]. [Aber] den Kampf werden wir kämpfen müssen. Oder wie Churchill es ausdrückte: ›Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande. Sie haben die Schande gewählt und werden den Krieg bekommen.‹« Ruch ist für diese und ähnliche Äußerungen vielfach kritisiert worden, aber meines Erachtens aus den falschen Gründen. Kritik verdienen diese Sätze nicht, weil sie extrem sind. Im Gegenteil, in der karikaturhaften Überzeichnung drücken sie nicht nur eine weit verbreitete Meinung mit wünschenswerter Klarheit aus, sie sprechen auch ein tatsächlich existierendes Problem an, nämlich die Frage, wie sich eine auf Toleranz gegründete Demokratie angesichts ihrer Gefährdung verhalten soll. Kritik verdient Ruch, weil er das Problem, das er mit dramatischen Worten beschwört, durch die historische Analogie gleich wieder verschleiert. Statt es ernst zu nehmen und sich für den postulierten Kampf geistig zu rüsten, parodiert er die Zeitgeschichte, indem er sich Churchills Zigarre in den Mundwinkel schiebt und uns zuraunt: Ihr wisst doch, wie Stalin, Roosevelt und ich das Übel, das euch heute wieder bedroht, seinerzeit aus der Welt schaffen mussten, weil zuvor andere versagt hatten. Also zieht die richtigen Schlüsse aus der Geschichte!  

Na gut – aber welche? Um die Frage ernsthaft zu beantworten, müsste man die Situation von 1932 ja mit unserer Situation vergleichen. Das aber ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die nicht umsonst in das Gebiet der Geschichtswissenschaft fällt. Weil alle Erkenntnis auf Vergleichen beruht, kann der Vergleich mit der Vergangenheit durchaus helfen, die eigene Zeit besser zu verstehen. Aber politisch ist er stumm. Wer politisch handeln will, muss sich für das eine und gegen das andere entscheiden. Genau dazu aber kann das historische Vergleichen nicht anleiten, denn es wird immer nur zeigen, dass die Vergangenheit der Gegenwart in bestimmten Hinsichten ähnlich ist, während sie sich in anderen Hinsichten von ihr unterscheidet. Weil er ein Mittel zur Differenzierung ist, wird uns dieser Vergleich nie sagen, was zu tun ist. Es führt kein direkter Weg vom Wissen zum Handeln. Das gilt für die Klimaforschung genauso wie für die Geschichtswissenschaft. Wer auch nur die Grundzüge der politischen Situation von 1932 kennt, der weiß, wie unsinnig die Behauptung ist, die Demokratie hätte, um sich zu retten, ihren Feinden nur intoleranter entgegentreten müssen. Als hätten im Reichstag nicht zwei antiparlamentarische Parteien eine Sperrmehrheit gehabt; als hätte der latente Krieg, den ihre Feinde gegeneinander führten, die Republik nicht erpressbar gemacht; als wäre die Mehrheit der Deutschen nicht längst bereit für Alternativen zur liberalen Ordnung gewesen. Die Frage lautete am Ende von Weimar nicht mehr: Demokratie oder Diktatur? Sondern: Staat oder Bürgerkrieg? Revolution von links oder von rechts? Diktatur der Eliten oder Diktatur mit Massenbasis? Die parlamentarische Demokratie war 1932 verloren, wohl aber hätte Hitler verhindert werden können, nur nicht durch Intoleranz, sondern durch die Verweigerung der Macht. Schon diese kleine Skizze zeigt, dass der Lage von 1932 kaum Rat für die Gegenwart zu entnehmen ist. Nein, dieser Rekurs auf die Geschichte ist doppelt blind: Durch die reflexhafte Beschwörung von Weimar lenkt er von der Kompliziertheit der eigenen Lage ab, und durch die Weigerung, einer komplexen Vergangenheit gerecht zu werden, kann er in dieser nichts erkennen als eine Projektion der eigenen Haltung.

 

3.

Apropos. Genauso beliebt wie der Weimarvergleich ist derzeit die Phrase, im Antifaschismus der Gegenwart, dem sog. Kampf gegen rechts, gehe es vor allem darum, gegenüber den Feinden der Demokratie »Haltung zu zeigen«, sie aus dem Diskurs auszugrenzen und als Personen zu ächten. »Kein’ Millimeter nach rechts!« – unter dem fanatischen Jubel seiner Fans hat ein singender Demokrat das Motto der Haltungsdemonstranten kürzlich auf den Punkt gebracht. Ein merkwürdiger Kampf ist das, in dem man die eigene Gesinnung wie einen Sieg bejubelt, während man den Gegner, statt sich mit ihm zu messen, selbstherrlich des Feldes verweist.  

Dass die Demokratie nicht von demokratischen Posen lebt, kann ein genauerer Blick auf das Böckenförde-Diktum zeigen. Allerdings wird er auch zeigen, wie verwickelt das Problem ist, das Ruch ins Rampenlicht gezerrt hat, nur um es dann frivol zu ignorieren. Isoliert betrachtet, ist Böckenfördes Satz so trivial, dass man fast alles in ihn hineinlesen kann. Zu den missverständlichen Lesarten gehört daher auch die Behauptung, er habe die Bürger dazu aufgefordert, den freiheitlichen Staat, sofern er es aus eigenen Mitteln nicht vermag, engagiert gegen seine Feinde zu verteidigen. Doch um Wehrhaftigkeit ging es ihm nicht. Im Gegenteil. Böckenfördes Satz ist nicht normativ, er ist historisch und analytisch gemeint. Er sagt nicht, dass die Demokratie eine gute Staatsform ist, die von ihren Bürgern beschützt werden muss. Er sagt, dass die Geschichte uns in sie hineingestellt hat, und es nun darum gehen muss, unter ihren Bedingungen möglichst gut miteinander auszukommen. Welche Bedingungen sind das? Nicht ohne Grund versieht Böckenförde unseren Staat mit zwei Adjektiven, er nennt ihn freiheitlich und säkularisiert. Anders als das Attribut »freiheitlich-demokratisch«, das auf das Komplementärverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat verweist, stehen »freiheitlich« und »säkularisiert« in einem Spannungsverhältnis – zumindest aus der Perspektive des Autors. Der spricht nämlich nicht nur als Theoretiker der Demokratie, er spricht auch als Katholik. Und als solcher spricht er im Bewusstsein eines welthistorischen Verlustes.

Als Böckenförde 1964 die Entstehung des modernen Staates als Ergebnis der Säkularisation deutete, da war das 2. Vatikanische Konzil noch nicht beendet. Wie alle Katholiken stand auch er vor dem Epochenproblem, wie sich der absolute Wahrheitsanspruch seiner Kirche zur religiösen Neutralität seines Staates verhalten soll. Aus den Kämpfen zwischen geistlicher und weltlicher Macht war der moderne Staat als Sieger hervorgegangen; wo einst die eine Kirche alle Fürsten legitimierte, da bot nun der eine Staat allen Religionen Schutz. Aber was wir heute als Errungenschaft feiern, das stellte die Katholiken damals vor ein Dilemma: Wie können wir einen Staat bejahen, der Gesetze zulässt, die unseren Glaubenswahrheiten fundamental widersprechen? Böckenförde löste das Dilemma der Kirche, indem er es in ein Dilemma des Staates verwandelte.

Wir brauchen, sagte Böckenförde sinngemäß, diesen Staat nicht; wir können unter einem Bundeskanzler genauso Christen sein wie unter einem König, unter Hitler genauso wie unter Ulbricht, in Rom genauso wie in der Wüste. Aber der demokratische Staat braucht uns. Er unterwirft sich unserem Wahrheitsanspruch nicht, aber dass er uns nicht verfolgt, sondern schützt, das können wir ihm vergelten, indem wir helfen, seinen Bestand zu sichern. Der demokratische Staat braucht zu seinem Gelingen Bürger, die sich an ihn gebunden fühlen. Aber eben dieses Gelingen kann dieser Staat selbst nicht garantieren. Er kann, etwa durch politische Bildung, das Seinige dazu beitragen. Doch er wird immer auf Kräfte angewiesen sein, über die er nicht verfügt. Was Demokratie bedeutet, wird in der Praxis gelernt, in den Familien, den Vereinen, den Kommunen, den Gewerkschaften, den Parteien, und nicht zuletzt in den Kirchen.

Sogar gerade in den Kirchen! Lange bevor es Parteien und Interessenverbände im heutigen Sinn gab, hatte der moderne Staat ja seine Form gefunden, nicht weil er sich gegen die Kirche stellte, sondern über die Konfessionen, die einander im Namen ihrer Glaubenswahrheiten blutig bekämpften. Es waren die post-reformatorischen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, aus denen zugleich das Gewaltmonopol des Staates und die Freiheitsrechte seiner Bürger, darunter an erster Stelle die Religionsfreiheit, hervorgegangen sind. Ich gewähre euch, sagte der nun souveräne Herrscher, Freiheit, aber ich verbiete euch den Krieg. Doch das ist eine juristische Fiktion. In Wirklichkeit liegt es nicht allein in der Macht des Staates, den Bürgerkrieg zu verhindern. Er kann den Frieden nicht erzwingen, ohne selbst in den Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er die Bevölkerung herausgeführt hat. Wenn seine Bürger die Eintracht nicht auch aus eigener Kraft wahren, dann zerfällt der freiheitliche Staat entweder im Bürgerkrieg oder er verfällt in die Diktatur. Das ist sein Dilemma.

Dass die größte Gefahr nicht von Feindseligkeit gegen die Demokratie ausgeht, sondern von der Feindschaft in der Demokratie, hatte Böckenförde in zwei Aufsätzen ausformuliert, die einige Jahre zuvor in der Zeitschrift Hochland erschienen waren. Hier spricht er ausdrücklich als Katholik zu Katholiken. Im Vorfeld des großen Konzils wirbt er in seiner Kirche für die Demokratie. Und das tut er nicht, indem er wie aus einem Katalog ihre Vorzüge aufzählt, sondern indem er seinen Brüdern und Schwestern ins Gewissen redet. Macht euch klar, sagt er ihnen, dass der demokratische Staat, gerade weil er seinen Bürgern keinen Glauben und keine Weltanschauung vorschreibt, besonders gefährdet ist; und mit ihm sind wir es auch. Die innere Vielfalt, um deretwillen er existiert, ist seine größte Stärke – und zugleich ist sie seine Achillesferse. Denn wenn unterschiedliche Gruppen mit der gleichen Unbedingtheit an ihre je eigene Wahrheit glauben, dann ist der Streit unvermeidlich. Jeder grundsätzliche Streit aber tendiert zur Eskalation. Es geht ja nicht um Reiseziele oder Musikgeschmack, sondern um existentielle Fragen des Lebens und Zusammenlebens. In genau solchen Fragen lag der Ausgangspunkt der religiösen und der weltanschaulichen Kriege, die im Gefolge von Reformation und Revolution Parteien wie Staaten bis in die jüngste Vergangenheit gegeneinander aufgebracht haben. Die Moderne hat das Individuum aus den tradierten Bindungen befreit, mit der Freiheit kam die Vielfalt des Glaubens, die unorganisierte Pluralität aber trägt in sich den Keim des Krieges. Darum, um des Staates als Friedensordnung willen, fordert Böckenförde die Katholiken auf, sich loyal auch zu Gesetzen zu verhalten, die den eigenen Überzeugungen widersprechen, für die eigenen Überzeugungen politisch zu kämpfen, aber dabei im Gegner keinen Feind, sondern immer auch einen Partner zu sehen. Das Minimum dieses »demokratischen Ethos« geht auf das Ende der Religionskriege zurück, es lautet: Toleranz.

Was aber tun, wenn der andere sich uns gegenüber intolerant verhält? Wenn er sich nicht mehr im partnerschaftlichen Geist streiten will? Wenn der Dissens ihm zum Vorwand für Feindschaft wird? Wenn eine Partei kein alternatives Programm anbietet, sondern sich selbst als Alternative zu allen anderen? Wenn Intellektuelle zum »geistigen Bürgerkrieg« aufrufen und »den Riss in der Gesellschaft vertiefen« wollen? Ruch sagt: Seien wir intolerant gegen die Intoleranten, bekämpfen wir den Feind, bevor es zu spät ist! Dagegen wendet Böckenförde ein: Toleranz ist kein Luxus, wenn wir uns, und sei es unter der Fahne der Demokratie, als Feinde bekämpfen, dann ist es schon zu spät! Was also tun, wenn der Ernstfall bereits eingetreten ist? Demokratie ist auf Dauer ohne Toleranz nicht zu haben. Aber heißt das denn nicht, dass der Intolerante, indem er den Toleranten zur Intoleranz zwingt, das Ende der Demokratie erzwingen kann? Nein. Allerdings hat Böckenförde uns nur in das Dilemma hineingeführt, den Ausweg müssen uns andere zeigen. Und hinausgehen müssen wir ohnehin selbst.

 

4.

Als Joachim Gauck kürzlich eine Ausweitung der Toleranzzone nach rechts forderte, da folgte die Empörung auf dem Fuße. Dabei wußte er als historisch gebildeter Theologe genau, wovon er sprach. Und vermutlich wusste er auch, dass es heute kaum noch jemand begreift. Wenn derzeit von »Toleranz« die Rede ist, geht es fast immer um das Lob oder den Tadel von Verständnis. Geboten erscheint es dieser Redeweise, andere Lebensformen und fremde Kulturen in ihrer Eigenart zu bejahen, gefährlich und naiv dagegen, mitfühlend auf die angeblichen »Sorgen und Nöte« derer zu hören, die sich von der AfD mobilisieren lassen. Unter dem Dekcmantel eines entleerten Begriffs meint dieser Diskurs, wenn er von Toleranz spricht, eigentlich Moral: Du sollst tolerieren, was achtenswert, du sollst nicht tolerieren, was missachtenswert ist. Dabei heißt Toleranz nicht ohne Grund wörtlich: Duldung. Wer duldet, erträgt etwas. Ich toleriere es also, obwohl ich es ablehne, ja vielleicht sogar missachte. Und wenn die Toleranz Teil meines Ethos geworden ist, sogar weil ich es ablehne. Der Begriff der Toleranz hat aber zwei Seiten. Wenn ich ertrage, was ich ablehne, heißt das ja auch, dass ich es nicht akzeptiere. Tolerieren muss ich die Existenz des anderen. Seinem Geltungs- und Machtpruch kann ich dagegen vehement widersprechen. Die Toleranz beendet die Feindschaft unter Bürgern. Aber genau dadurch ermöglicht sie ihren Konflikt. Die Konflikte diesseits des Bürgerkriegs finden gerade nicht außerhalb, sie finden in der Toleranzzone statt. Und zwar auch dann, wenn die eine Seite die Toleranz aufgekündigt hat und für ihren Willen absolute Geltung beansprucht. Die Intoleranz des anderen zwingt mich durchaus nicht dazu, meinerseits intolerant zu werden. Vielmehr stellt sie meine Toleranz auf die Probe. Ich kann den Intoleranten tolerieren und mich zugleich seinem Geltungs- und Machtanspruch widersetzen.

Über Geltungsansprüche wird im Diskurs entschieden, über Machtansprüche im Kampf. Lassen wir den Diskurs, das vielbeschworene Reden mit Rechten, noch für einen Moment beiseite; konzentrieren wir uns zunächst auf das Gegenteil des Redens, den Kampf, den Rechtspopulismus und Neue Rechte der Republik angesagt haben. Von rechter Seite wird dieser Kampf ohne Zweifel in einem kriegerischen Geist geführt. Er basiert auf einer einseitigen Aufkündigung des Vertrauens in die Institutionen unseres Staates und der Störung des Konsenses, der ihn trägt. Sobald aber der andere alle Positionen außer der eigenen mit einem Generalverdacht belegt, gebietet es die Klugheit, auch ihm das Vertrauen zu entziehen. Noch vor jeder ideologischen Auseinandersetzung sind damit die Bedingungen für einen normalen Umgang nicht mehr gegeben. Mit Politikern der AfD gibt es in der Regel keinen kollegialen Austausch; mit Intellektuellen der Neuen Rechten keine produktive Debatte; ja, selbst das Gespräch unter Freunden kann verstummen, wenn der eine den anderen als Anhänger eines »Systems« betrachtet, das er als Ganzes ablehnt. Aber die Sprachlosigkeit darf nicht mit Beziehungslosigkeit verwechselt werden. Im Kampf ist die Beziehung zum anderen keineswegs beendet, sie hat nur ihren Charakter verändert.

Wem der Kampf angesagt wurde, der befindet sich, ob er will oder nicht, in einer strategischen Beziehung. Weil mein Schaden der Nutzen des Gegners und mein Nutzen sein Schaden ist, sind unsere Handlungen und Schicksale untrennbar miteinander verbunden. Im gleichen Maße, in dem das Wort des anderen vom Misstrauen entwertet ist, gewinnt nun die Prognose seines Verhaltens an Bedeutung. Und das gilt für beide Seiten. Weil die Gegner einander nicht vertrauen können, müssen sie möglichst viel übereinander wissen. In einer strategischen Situation tritt daher an die Stelle der kommunikativen Interaktion die wechselseitige Beobachtung. Viel stärker als in sozialen Beziehungen sind Gegner darauf angewiesen, sich ein Bild voneinander zu machen. Der Imperativ der strategischen Beziehung lautet: Du musst deinen Gegner besser kennen als er Dich. Oder anders formuliert: Je weniger der Gegner dich durchschaut, desto größer ist dein Spielraum. Oder mit Sun Tzu: Jede Kriegsführung beruht auf Täuschung.

Wer im Kampf steht, wird darum gut daran tun, nicht dem Bild zu vertrauen, das er sich vom Gegner macht. Vielmehr wird er sein eigenes Verhalten auf das Bild abstimmen, das der Gegner einerseits von ihm, andererseits von sich selbst hat. Was sieht nun dieser Gegner, wenn er auf den Rest der Gesellschaft blickt? Er sieht die demokratischen Posen des »Kampfs gegen rechts«, die Namen, Schlachtparolen und Kostüme eines Antifaschismus, der mit den Gespenstern von 1932 ringt. Und welches Bild vermittelt er von sich selbst, um Anhang und Solidarität zu mobilisieren? Das Bild einer Rechten, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Ideologisch knüpfen die sog. Neuen Rechten an die nationalistische Rechte der Weimarer Republik an, aber strategisch ist ihr Ausgangspunkt die Lage des Jahres 1946. Anders als all die Idioten, die sich bis heute Namen, Schlachtparolen und Kostüme der Nazis borgen, haben Leute wie Armin Mohler, Alain de Benoist und Götz Kubitschek kapiert, dass sie Namen, Schlachtparolen und Kostüme brauchen, die sie als Gegner nicht nur des Liberalismus, sondern auch der Nazis erscheinen lassen. Im Zentrum ihres Selbstbildes steht daher nicht die Diktatur, sondern, im Gegenteil, der bürgerlich-konservative Widerstand: Edgar Julius Jung, Graf Stauffenberg, Sophie Scholl, die Wende von 1989. Und im gleichen Sinn propagieren sie nicht mehr den Wertunterschied von Rassen, sondern die Verschiedenheit gleichwertiger Völker, nicht mehr die Saalschlacht mit dem politischen Feind, sondern die Subversion einer kulturellen Hegemonie, die alles »Patriotische« und »Konservative« unterdrückt.

Nun kann man diesem Selbstbild natürlich mit dem Besteck der Ideologiekritik zu Leibe rücken und rufen: Alles Lug und Trug! Aber was nützt es, wenn die Demokratie die sophistischen Methoden, mit Hilfe des Scheins zu mobilisieren, zulässt? Der Populismus etwa ist ja nicht das Gegenteil, sondern eine Möglichkeit der Demokratie. Darum haben diese Methoden auch in einer funktionierenden Demokratie durchaus ihren Platz, in der Ausnahmesituation des Wahlkampfs nämlich, auf die dann allerdings wieder die Normalsituation der Debatten, Verhandlungen und Kompromisse folgt. Dagegen wird in der Attacke von rechts der Wahlkampf quasi auf Dauer gestellt. Ist die Demokratie aber zum reinen Machtkampf entartet, dann ist alles Schein, und der Schein ist alles. Dann erschöpft sich Politik in Mobilisierung, über deren Erfolg nicht entscheidet, was ich tatsächlich leiste und in Wahrheit bin, sondern als was ich meinen Anhängern erscheine.

Und als was erscheint dieser Gegner seinem Anhang? Als Kämpfer gegen ein System, das ihn andauernd entlarven will. Und genau darum will er entlarvt werden! Es ist ein hilfloses Unterfangen, einem Gegner die Maske vom Gesicht zu reißen, der genau das erwartet, weil er die Macht um ihrer selbst willen sucht und darum gar nichts anderes als Masken hat. Das rechte Maskenspiel rechnet mit den Erwartungen und Reflexen einer Umwelt, an die es sich äußerst geschmeidig angepasst hat. In diesem Spiel erscheint unser Gegner mit einer feindseligen Maske, aber jedes Mal, wenn wir sie ihm herunterreißen, erscheint dahinter eine freundliche und das heißt: eine unserer Masken! Hinter der Maske des Faschisten erscheint die Maske des Demokraten, hinter der Maske des Rebellen die des Bürgers, hinter der Maske Mussolinis die Stauffenbergs, hinter der Maske des Täters die des Opfers, hinter der Maske des nationalen Sozialisten die des libertären Freigeistes, hinter der Maske des Antisemiten die des anti-islamischen Israelfreundes, hinter der Maske des Islamfeindes die des Feministen, hinter der Maske des Rassisten die des Völkerpluralisten, hinter der Maske des Menschenfeindes die des Christen. Ich bin der wahre Demokrat, ruft dieser Gegner seinem Anhang zu. Ich bin der wahre Pluralist. Ich bin der wahre Christ. Und dass die anderen es nicht sind, das beweist ihr undemokratisches, autoritäres, unchristliches Verhalten. Und wenn wir dann schreien: So sind wir nicht! Dann antwortet er: Du bist, als was du uns erscheinst. Und wenn wir, wie auf der Frankfurter Buchmesse 2017 geschehen, sein Podium mit dem Schlachtruf: »Nazis raus!« niederbrüllen – was brüllt er dann zurück? »Nazis raus!« Man wird den subversiven Aberwitz dieser Szene nicht begreifen, wenn man nicht auch all die Handys sieht, die sie filmten, auf dass sie noch am selben Abend in rechten Netzwerken tausendfach zirkulierten. Ob diese Leute »Faschisten« sind oder nicht, wird strategisch irrelevant, sobald sie den Kampf gegen die Antifa im Gewand des Nazifeindes führen und den Kampf gegen die Verfassung im Namen des Grundgesetzes – und so für sich werben. Ganz ohne Worte, denn die Bilder, die sie als gewitzte Opfer einer verbiesterten Intoleranz zeigen, sprechen für sich. Und sie haben nur einen Zweck: die Behauptung, wir befänden uns längst in einer Art von Bürgerkrieg, durch andauernde Wiederholung solange wahr erscheinen zu lassen, bis sie irgendwann wahr geworden ist. Dieser Gegner will uns in die Falle der Feindschaft locken. Um als Feind der Demokratie entlarvt zu werden, spielt er mit ihren Masken.

 

5.

Wie darauf reagieren? Indem wir den Gegner täuschen? Das wäre allemal besser als eine Selbsttäuschung, die der Gegner längst mit Erfolg ausbeutet. Am besten aber wäre es, wenn er sich in uns täuschte. Dazu müssten wir uns aber endlich auf uns selbst besinnen. Die autoritäre Rechte hat immer schon vom Kampf um des Kampfes willen gelebt. Sie hat keine Wahl, und genau das ist ihre größte Schwäche. Wir dagegen können uns entscheiden. Wir können uns auch mit dem Kampf identifizieren und durch die Verneinung eines Gegners, der nur die Verneinung kennt, nicht nur zu seinem Spiegelbild werden, sondern auch zu einem Zerrbild unserer selbst. Wenn wir uns im Namen von »Vielfalt und Toleranz« mit ermüdender Monotonie und in erschreckender Homogenität intolerant zeigen, dann sind wir nicht das, was wir zu sein behaupten, dafür entsprechen wir genau dem Bild, das der Gegner von uns propagiert. Aber wir können den Kampf auch annehmen, indem wir ihn nicht führen. Oder zumindest nicht so, wie der Gegner es gerne hätte. Ihm steht die Toleranz nicht zu Gebote, uns schon. Wir können uns zum Beispiel dafür einsetzen, dass rechte Verlage sich unversehrt auf der Buchmesse präsentieren können, weil wir wissen, dass eine Meinungsfreiheit, die nicht auch für sie gilt, nichts wert ist. Und wir können wissen, dass der Geist der Intoleranz, von dem sich der Gegner ernährt, ansteckend ist. Das Schicksal der Toleranz entscheidet sich ja nicht daran, ob wir uns mit den Höckes und Kubitscheks aufs Podium setzen (es sprechen tatsächlich gute Gründe dagegen), sondern ob wir die Vorstellung eines unpolitischen Sachbuchs verhindern, nur weil dessen Autor öffentlich mit Kubitscheks Frau aufgetreten ist und sich zudem kritisch zu Merkels Flüchtlingspolitik geäußert hat.  

Weil sie auf dem Vertrauen in die eigene Stärke beruht, ist diese Toleranz nicht im Geringsten naiv. Worin liegt diese Stärke? Nicht in der Verneinung der Verneinung, im Widerstand gegen den Widerstand. Sondern in der Freiheit, die Bühne der Bürgerkriegsfarce zu verlassen, um die tatsächlich »gegebenen Aufgaben«, von denen Marx spricht, kraftvoll anzupacken. Probleme lösen kann aber nur, wer die Macht nicht um ihrer selbst willen sucht, sondern um etwas zu verwirklichen. Dieses Etwas kann für den einen dieses, für den anderen jenes bedeuten, darum kann um die Verwirklichung auch gerungen werden. Aber nur wenn wir ein solches Etwas haben, wenn wir nicht in Posen des Drohens, Warnens und Verachtens erstarren, wenn wir nicht demonstrativ bekennen, wogegen, sondern durch gelebte Praxis zeigen, wofür wir sind, erst dann unterscheiden wir uns wirklich von diesem Gegner. Und erst wenn wir anziehende Alternativen zur abstoßenden Alternative anzubieten haben, können wir um ihre Anhänger, statt sie passiv-aggressiv zu belehren, auch glaubwürdig werben.

Der pastorale Zwilling des Kampfs gegen die rechten Verführer ist der Kampf um die Seelen der Verführten. Rechtspopulismus schadet der Seele – unter diesem Motto griff der Evangelische Kirchenkreis Berlin Stadtmitte 2017 in den Bundestagswahlkampf ein. Aber dass das Innerste eines Menschen, sein Glauben, sein Gewissen, seine Suche nach inner- oder außerweltlicher Erlösung niemals zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung werden darf: Auch dieses Postulat wurde mit guten Gründen formuliert, nachdem es in den religiösen Bürgerkriegen so eklatant verletzt worden war. Wo die Rettung der Seelen im demokratischen Kampf tabu sein muss, da ist das Werben um die Köpfe und Herzen seine Essenz. Wer für etwas kämpft, der muss nicht mahnen, warnen und drohen, weil er weiß, dass seiner Sache prinzipiell auch jene zustimmen können, die nicht für sie entflammt sind. Wohin sich das Herz politisch neigt, hat viel mit Zufall zu tun. Aber wer wollte widersprechen, wenn Konservative sich für die Erneuerung des republikanischen Gemeinsinns einsetzen, Liberale für Freiheit und Wohlstand, Linke für Solidarität mit den Marginalisierten und Diskriminierten, Grüne für einen nachhaltigen Stoffwechsel mit der Natur, Regierungspolitiker für staatliche Gerechtigkeit, Christen für universelle Barmherzigkeit?

Für die je eigene Sache zu werben wäre die eine Weise, den Kampf gegen rechts anzunehmen, ohne ihn zu führen, und so auch einen Weg zu finden, (wieder) mit Rechten zu reden. Die andere bestünde darin, unseren rechten Brüdern und Schwestern ein Angebot zu machen, das für sie gleichermaßen verlockend wie erschreckend wäre. Du kannst, könnten wir jedem einzelnen von ihnen sagen, mit uns ringen und versuchen, dich gegen uns durchzusetzen, aber dazu musst du den Kampf aufgeben, der nur von der Verneinung lebt. Weil es an diese Bedingung gebunden ist, wäre das Angebot nicht naiv. Im Gegenteil, es wäre sogar strategisch klug. Wir sollten versuchen, unser Dilemma in das Dilemma des Gegners zu verwandeln, indem wir ihn nicht entlarven, sondern in Lagen bringen, in denen er sich zeigen muss. Handle, so könnte die politische Maxime lauten, stets so, dass der Gegner sich nicht mehr über die Verneinung und Täuschung aller anderen definiert, sondern durch die Bejahung dessen, was er will. Und wenn er den Rassismus will? Dann soll er es sagen. Aber wenn er seinen Rassismus als Ethnopluralismus ausgibt? Dann soll er sagen, was daraus folgt. Und wenn er sagt: Daraus folgt, dass ein Türke niemals ein Deutscher werden kann? Dann können wir sagen: Ich toleriere deine Ideologie, aber um keinen Preis der Welt werde ich ihre Konsequenzen akzeptieren. Und wir können ihn fragen: Was genau unterscheidet dich eigentlich noch von der NPD? Weil die Frage nicht rhetorisch ist, müssen wir die Antwort ihm überlassen. Umzingle deinen Feind, heißt es bei Sun Tzu, nie ganz. Sorge stets für eine Lücke, durch die er entkommen kann.

Per Leo

Diesen Artikel teilen: