Werkstattgespräch "Begegnung mit dem ANDEREN in Dichtung und Kirche"
Eröffnungsrede von Prof. Dr. Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Sehr geehrte Damen und Herren,
auch ich möchte Sie herzlich zu diesem Werkstattgespräch begrüßen. Ich freue mich sehr, dass Sie der Einladung der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) nach Siegburg gefolgt sind und wir heute hier zusammenkommen. "Begegnung mit dem Anderen in Dichtung und Kirche", so lautet die Überschrift der vor uns liegenden drei Tage. Sie werden geprägt sein durch den Dialog über die Beziehung von Literatur und Theologie, von den Gottesdiensten in der Abteikirche und vom Erleben von Literatur hier vor Ort.
Wir wollen dies tun in einer ehemaligen Abtei, wo seit 1000 Jahren Arbeit mit Texten eingeübt ist. Es hat eine gewisse Tragik, sich klarzumachen, dass hier nach so langer Zeit ein Kloster nicht mehr zu halten ist. Auch Himmerod in der Eifel, ein Ort, der von Bernhard von Clairvaux ausgesucht wurde, schließt ebenso wie Kloster Weingarten und andere, die europäische Kultur und Theologie geprägt haben. Die Schließung von Klöstern ist etwas das wehtut, aber in der Gegenwart scheinen wir nicht mehr genügend Menschen zu finden, die diese Lebensform für sich angemessen finden. Mit Texten wurde hier sorgfältig über Jahrhunderte gearbeitet und Literatur geprägt. Doch es gibt heute neue tastende Versuche, sich auf anderen Wegen mit Texten zu beschäftigen, Wege zu neuen Formen und zu neuen Sprachweisen zu kommen.
Den Dialog zwischen Kunst und Kirche zu suchen, ist ein beständiges Anliegen des ZdK, das wir mit der Deutschen Bischofkonferenz teilen. Ein wichtiger Anstoß für die künstlerischen Werkstattgespräche ging 1979 von der Tagung "Kirche, Wirklichkeit und Kunst" in Bonn aus, bei der auf Initiative des Zentralkomitees katholische Laien, Bischöfe, Wissenschaftler und Künstler wie Josef Beuys und Heinrich Böll ein gemeinsames Gespräch begannen, das vielfach weitergeführt wurde. Da war 1994 eine große Tagung in Berlin mit vielen Künstlern aus unterschiedlichen Disziplinen. Es setzte sich nicht zuletzt in den Werkstattgesprächen fort, so etwa 1997 in Kopenhagen zur bildenden Kunst, 1998 das "Treffen in Telgte" zur Literatur, 2002 auf Schloss Hirschberg zur Musik, 2010 in Weingarten zum Theater und 2013 zur Architektur in Maria Laach.
Und nun stehen wir am Beginn eines neuen Werkstattgesprächs, bei dem wir uns auf Literatur konzentrieren. Ich möchte zu Beginn einen Lyriker zu Wort kommen lassen, dessen Texte mich in den vergangenen Monaten bewegt haben.
Wo fange ich an,
wohin mit den Augen,
den Blick aufzuheben
zu deinem Morgen
zu nehmen den Weg,
wo führt er mich hin,
hinaus aus der Irre?
Noch singe ich nicht,
ein Stammler der Liebe,
ich bitte dich,
lass mich sehen den Weg
und singen dein Lied.
Ein Gebet von Uwe Kolbe, der mit diesem Gedicht seinen neuen Lyrikband "Psalmen" eröffnet. Es seien, so sagt er selber, die Psalmen eines Heiden, der Gott verpasst habe – "Ketzerpsalmen".
Die Gegenwartsliteratur hat uns in der letzten Zeit viele Texte des Arbeitens am Wort angesichts der Suche nach Gott geschenkt. Ich sage bewusst geschenkt, denn ich glaube, es ist eine Gabe, dass die Gottesfrage, die Gotteszweifel Autorinnen und Autoren offenbar nicht loslassen und sie einen sprachlichen Ausdruck dafür suchen. Lassen Sie mich wenige weitere Beispiele benennen:
"Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, da ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben." So Emmanuel Carrère in "Das Reich Gottes", in dem er die Geschichte von Paulus und Lukas schreibt und mit seiner eigenen Biographie verbindet.
Ich habe den Eindruck, es gibt sogar ein neues Interesse an den Absonderlichkeiten, dem Fremden, dem Schwer-zu-Kategorisierendem in der Religion. So hat sich beispielsweise Sibylle Lewitscharoff kürzlich mit Blättern, mit Skizzen und Texten von Clemens Brentano beschäftigt. Wie er lange am Bett der kranken Nonne Anna Katharina Emmerick saß und ihre Visionen neu aufgeschrieben / erdichtet hat – in einer Mélange dazwischen. Sibylle Lewitscharoff hat sich mit einem solchen Blatt beschäftigt und mutmaßt darüber, was denn Brentanos Beweggründe gewesen seien, wie Emmericks Weg in die religiöse Verzückung gegangen ist und wie sich Brentano damit beschäftigt hat.
Erwähnen möchte ich auch Ralf Rothmann, dem 2013 der Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken verliehen wurde und der in seiner Dankrede sagte: "Christ, in der innigsten Bedeutung des Wortes, kann man immer nur werden wollen, darin liegt ja das Heil dieser Religion. Und so ist es mit der Literatur. Niemand, der es wirklich ernst meint, hält sich für einen Dichter, trotz aller Bücher und Preise nicht. Man kann es immer nur werden wollen, und jede Zeile, die man zu schreiben unternimmt, ist ein neuer Versuch in die Richtung. Auch seine Frage "Gibt es jemanden, der grandioser gescheitert ist als Jesus?" habe ich noch im Ohr.
Viele Romane, Gedichte, Prosatexte von Autorinnen und Autoren könnte man nennen, insbesondere auch von den hier Anwesenden. Von Mangel an Transzendenz oder Naserümpfen angesichts religiöser Fragen in der zeitgenössischen Literatur keine Spur. Viele Autoren nehmen das Wagnis auf sich, von Gott zu reden und zu schreiben. Religion ist nicht das zentrale Thema der deutschen Gegenwartsliteratur, aber es lassen sich viele Spuren des Religiösen finden – etwa in Form von Reflexionen der eigenen und fremder Religiosität, literarische Anknüpfungen an biblische Geschichten und Formen, christliche und andere religiöse Traditionen als Inspirationsquellen, zur Sprache bringen von Erfahrungen im Raum der Kirche, mystische Betrachtungen.
Georg Langenhorst spricht von einer neuen Unbefangenheit, einer neuen Nähe von Literatur und Religion. Darüber werden wir zu sprechen haben. Und auch, obwohl ich sonst sehr vorsichtig bin, wenn man von Renaissance der Religion spricht, empfinde ich das doch mit Blick auf die Gegenwartsliteratur durchaus als nachvollziehbar. Allerdings nicht im Sinne eines affirmativen Sprechens oder einer christlichen Literatur, sondern vielmehr im Modus des Tastens, des Zweifelns, des Suchens. Des Suchens angesichts von Erfahrungen, die Grenzen überschreiten und übersteigen. Und doch scheint mir ein solches Tasten die angemessenste Form zu sein, religiöse Erfahrung, die Hoffnung auf Transzendenz überhaupt in Worte zu fassen.
Und ich glaube diese Vorsicht vor der zu raschen, zu eindeutigen Formulierung, dass ist es doch, das viele Autoren bewegt, wenn sie vor einem leeren Blatt sitzen und schreiben. Schon der über 50 Jahre alten Text von Maria Luise Kaschnitz bringt die Vorsicht im Sprechen über Gott zum Ausdruck. Das Gedicht, das sie ’65 veröffentlichte, gehört zu ihren berühmtesten
Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzige Richtige
Geschweige denn von der Liebe.
Versuche. Gesuche. Mißlungen
Ungenaue Beschreibung
Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.
Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung
Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich daß
Dieser offene Schluss, dieses offene Ende, das hat mich immer fasziniert an diesem Text. Und ich glaube, er sagt auch etwas über das Schreiben. Viele weitere Texte könnte man nennen, die versuchen, darüber zu sprechen, wovon Augustinus gesagt hat: "Wenn du es begriffen hast, ist es nicht Gott." Eine unglaubliche Anmaßung, ein unglaubliches Unternehmen, dafür neue Begriffe zu finden.
Nun wird der Kirche, den Theologinnen und Theologen, den Klerikern und Laien im kirchlichen Dienst schon lange und immer wieder vorgeworfen, dass sie gerade nicht angemessen von Gott sprechen. Ein populärer Buchtitel formuliert drastisch "Der Jargon der Betroffenheit: Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt" – das ist ein bisschen drastisch formuliert, und ich weiß auch nicht, ob es so stimmt. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch Heinrich Böll erwähnen, der schon 1971 einen Dokumentarfilm mit dem Titel "Die Sprache der kirchlichen Würdenträger" für den WDR produziert hat. Er analysiert und kommentiert darin kirchliche Reden und Texte und rechnet mit deren Ausdruckslosigkeit ab: "Vielleicht ist es die Fertigkeit, die Glätte, die die Sprache der kirchlichen Würdenträger so nichtssagend macht. Sie sind nicht bewegt und nicht bewegbar." Auch wenn es fast schon eine Tradition gibt, auf diese Weise vom theologisch-kirchlichen Reden zu sprechen, befürchte ich doch, dass da etwas ist, das gerade heute trifft.
Arnold Stadler, von dem schon die Rede war, hat sich mit kirchlicher Gebetssprache beschäftigt. Die Genauigkeit mit der Arnold Stadler Psalmen und andere Texte übersetzt, ist vorbildlich. Er lässt sich einmal über die erste Ministrantenantwort des Stufengebets der alten Messe aus "Ad Deum, qui laetificat juventutem meam" (= Psalm 43,4). In allen unseren liturgischen Übersetzungen steht "Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf" und er besteht auf der Lesung "Gott, der meine Jugend erfreut". Und er stellt seine Betrachtungen darüber an, wie der Unterschied ist, ob er meine Jugend erfreut oder mich erfüllt von Jugend an. Solche Genauigkeit, wie wir sie in den Psalmenübersetzungen Arnold Stadlers finden, macht deutlich, dass wir uns häufiger der Kompetenz und der Sensibilität von Literaten bedienen sollten oder sie fragen und beauftragen sollten, wenn es um die Formulierung von Gebetstexten geht. Es ist nämlich keineswegs einfach, Orationen zu formulieren.
Ich habe den Eindruck, dass die tradierte christliche Sprache, die für viele Menschen lange Zeit entscheidendes Deutungsmuster war, sich immer weniger mit ihren religiösen Erfahrungen verbindet, sie nicht mehr zu ihnen passt und so auch immer weniger Verwendung findet. Und zugleich sehe ich bewegende Literatur, der das zur Sprache bringen religiöser Erfahrungen in ihrer Weise offensichtlich gelingt. "Literatur ist für mich ein Medium, das keine Antworten geben muss, sondern Fragen offen halten darf", so hat Andreas Meier formuliert. Vielleicht kann das auch für Theologie und Kirche ein Schlüssel zu einer neuen Gottesrede sein, in der sie an die großen Traditionen der negativen Theologie und der Mystik anknüpfen können.
Vielleicht sind es gerade die Sprachen der Kunst, die am ehesten geeignet sind, das ganz andere dessen zu benennen, worauf die religiös-Musikalischen (um sie mal so zu nennen) ihre Hoffnung setzen und ihr Leben bauen. In den offenen Zeichen der Kunst sind die Bedeutungen so erweitert, dass sie eben mehr sagen, als die Worte bezeichnen. Der heftige Streit übrigens um Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" an einer Berliner Hauswand hat ganz deutlich gemacht, wie offene Bedeutungen funktionieren. Ich bin im Grunde sehr froh, dass hier einmal ein Gedicht zum Thema des öffentlichen Diskurses geworden ist, dass man über einen lyrischen Text streitet. Man macht sich öffentlich Gedanken darüber, wie konkrete Poesie funktioniert und was da eigentlich zu lesen ist. Eine solche Lyrik spricht in Zeichen, die über den Alltagsgebrauch hinausgehen, weil sie mehr sagen als das, was an der Oberfläche zu finden ist, die Nachdenken und Empfinden anregen. Das ist die tägliche Arbeit der Künstler, auch derjenigen, deren Material die Sprache ist.
Ich möchte mich zum Abschluss dem Dank meines Vorredners anschließen: er gilt Ihnen, Herr Kardinal Marx, lieber Reinhard, der Deutschen Bischofskonferenz als Kooperationspartner. Aber der Dank gilt ganz besonders Ihnen, die Sie hier heute zusammengekommen sind. Unser Austausch lebt von der Verschiedenheit der Erfahrungen und der Expertise, die Sie hier einbringen. Uns erwarten Beratungen und Gespräche, Diskussionen, in den Vorträgen, in diesen öffentlichen Diskussionen und Gesprächen. Ich freue mich sehr darauf, freue mich, dass Sie da sind, und wünsche der Tagung einen guten Verlauf.
Prof. Dr. Thomas Sternberg | Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken