Konsequenzen aus der MHG-Studie für strukturelle Änderungen in der katholischen Kirche

Impuls von Pater Klaus Mertes SJ im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

1. Opferperspektive

„Wenn in einer Seelsorgeeinheit mit ca. 7.000 KatholikInnen 10 % zum Sonntagsgottesdienst gehen, so sind unter ihnen statistisch … 84 MitchristInnen, die zwischen 0 und 14 Jahren sexuellen Kindesmissbrauch erlebt haben. Nehmen wir die Frauen und Männer hinzu, die nach dem 14. Lebensjahr sexuelle Gewalt erlebt haben, so müssen wir damit rechnen, dass in jeder Versammlung von mehr als vier ChristInnen EIN Opfer sexueller Gewalt anwesend ist … Opfer sexueller Gewalt achten meist sehr aufmerksam darauf, ob eine christliche Gemeinde sie ausgrenzt oder als zugehörig ansieht …“ Eine Frau schreibt, die normalen Gottesdienstbesucher schauten „immer auf Problemlagen außerhalb ihrer Kreise … Ich warte darauf, dass in den Gottesdiensten zur Sprache kommt, dass Opfer von Kindesmissbrauch mitten in der Gemeinde sind.[1]

Die kirchliche Sprache im Umgang mit Missbrauch grenzt oft aus. Das kann schon mit der Problemdefinition beginnen. Wenn die Missbrauchskrise als Glaubwürdigkeitskrise definiert wird, sind wir schon wieder bei der Institution und nicht bei den Betroffenen. Ich bestreite nicht, dass es die Glaubwürdigkeitskrise gibt. Aber sie wird nicht überwunden werden, wenn das Ziel bloß die Wiederherstellung von Glaubwürdigkeit ist.

Die Frage, die über die Perspektive der Institution hinausführt, lautet: Was hören wir von den Betroffenen – und was brauchen sie? Die Frage lässt sich nicht paternalistisch von oben her beantworten, zumal Betroffene keine in sich geschlossene Gruppe sind. Von vielen Betroffenen höre ich den Wunsch nach seelsorglichen Kompetenzzentren, auch übrigens für Betroffene aus dem gesellschaftlichen und familiären Bereich. Manche suchen Vernetzung mit anderen Betroffenen; die ist angesichts der nachvollziehbaren Diskretionsbedürfnisse von anderen Betroffenen nicht immer leicht zu vermitteln. Wieder andere brauchen unkomplizierte, unbürokratische Hilfe, andere wiederum möchten ihre Erfahrungen in den kirchlichen und gesellschaftlichen Diskurs einbringen, andere wiederum engagieren sich politisch. All das wären auch Themen für eine bundesweite, unabhängige und niedrigschwellige Anlaufstelle für Betroffene, wie die MHG-Studie sie vorschlägt.

Ich stelle die Opferperspektive nicht antagonistisch gegen die Institutionsperspektive. Aus den Opferberichten fällt vielmehr auch ein Licht auf die Institution, so dass diese sich selbst in diesem Licht sieht. Das betrifft dann auch den Blick auf die Strukturen, in denen der Missbrauch stattfindet und die ihn begünstigten. Betroffene erzählen mir zum Beispiel, wie sie den Zusammenhang von kirchlichen Machtstrukturen oder auch von kirchlicher Sexualmoral mit dem erfahrenen Missbrauch sehen. Ich muss nicht in jedem Punkt mit ihren Einschätzungen übereinstimmen, aber ich muss die Rückmeldung an mich heran- und mich von ihr herausfordern lassen. Geschieht dies, dann ist der selbstkritische Blick nicht einfach ein Rückfall in die narzisstische Institutionsperspektive. Es gibt einen Blick auf die eigene Institution, der keine Abwendung von den Opfern ist.


2. Verantwortlichkeit der Bischöfe

Als die Jugendlichen des Canisius-Kollegs im Jahre 2010 durch die Stadt fuhren und das Bild ihrer Schule als „Schule des Grauens“ auf den Zeitungen betitelt sahen, tat ihnen das weh. Sie wollten auf die Straße vor das Kolleg gehen und dagegen protestieren. In einer Schulversammlung klärten wir dann folgendes Prinzip: Wer Machtmissbrauch in einer Institution aufklären will, muss bereit sein, den Preis der Stigmatisierung, der Brandmarkung der Institution zahlen. Das taten die Jugendlichen dann auch solidarisch, bis heute, und die von Ettal, vom Aloisius-Kolleg in Bonn und von den Regensburger Domspatzen ebenfalls.

Etwas Ähnliches leisten seit Jahren die vielen Gläubigen in der Kirche, die nicht die geringste Verantwortung tragen für das Institutionsversagen, das ja auf Ebene der Leitung liegt. Dasselbe gilt auch für ganz viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche, nicht zuletzt für die, die als in den letzten Jahren als Missbrauchs- und Präventionsbeauftragte für die Kirche die Kohlen aus dem Feuer geholt und Kärrnerarbeit geleistet. Doch die Bereitschaft, die Stigmatisierung solidarisch mitzutragen, kommt an ihr Ende. Ich kann das nachvollziehen. Eine Präventionsbeauftragte sagte mir kürzlich: „Ich bilde die ehrenamtlichen Kommunionmütter in Prävention aus, und dann kommen die Pfarrer und machen was sie wollen.“ Wer sich täglich auf der Ebene abmüht und dann absurde Interviews von Nuntien in der Herder-Korrespondenz[2] oder von römischen Kardinälen, wie gestern bei KNA[3] referiert, lesen muss, den packen eben irgendwann auch Trauer und Zorn. Immer mehr Gläubige ertragen das vereinnahmende „Wir“ aus dem Munde von Bischöfen nicht mehr.

Das Institutionsversagen ist ein Versagen der Verantwortlichen in der Institution, und es ist zugleich auch ein Versagen der Institution selbst. Das Problem, das gerade den Verantwortlichen so schwer zu vermitteln ist, lautet: Sie agieren in Strukturen, in denen die Aufarbeitung auch beim besten Willen letztlich nicht gelingen kann. Wir stehen eben vor einem Strukturproblem. Solange die Bischöfe bis hin zum Papst in diesen Strukturen arbeiten, steigert sich die Glaubwürdigkeitskrise permanent in dem Maße, in dem sie in eben diesen Strukturen bearbeitet wird. Münchhausen kann sich nicht an den eigenen Haaren aus der Grube herausziehen. Noch hat sich die Kirchenleitung an diesem Punkt nicht zum Offenbarungseid durchringen können. So lange das aber so ist, wird sie in dem Maße die Kontrolle über die Aufklärungsprozesse weiter verlieren, je mehr sie versucht die Kontrolle in der Hand zu halten.

Das Ganze wirkt, gerade in den Wochen vor und nach der Veröffentlichung der MHG-Studie wie rasende Talfahrt nach unten. Die Kirche gefährdet, solange sie Dynamik hinter dieser Talfahrt nicht begreift, letztlich ihre eigene Institutionalität. Wenn sich in der Gesellschaft der Eindruck verfestigt, dass die Kirchenleitung nicht in der Lage ist, die Einhaltung elementarer Standards von Anstand und Sitte gerade auch beim eigenen leitenden Personal einzufordern und durchzusetzen, dann ist der Sinn ihrer institutionellen Verfasstheit und damit auch ihr Selbstbestimmungsrecht in Frage gestellt. Irgendwann wird der Staat reagieren müssen – und das ausgerechnet in Zeiten der Individualisierung und des Populismus, wo die Politik eigentlich dringend gesellschaftliche Partner bräuchte, die sich als gemeinwohlorientierte Akteure verstehen.

Es macht deswegen übrigens auch umgekehrt keinen Sinn, nun die Verantwortung für die Aufarbeitung einfach an den Staat oder an staatliche Behörden zu delegieren. Straftaten müssen im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt und geahndet werden. Das ist doch völlig klar, und es ist traurig genug, dass man diese Selbstverständlichkeit immer wieder wiederholen muss. Doch die weitere institutionelle Aufarbeitung ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung noch nicht zu Ende. Für die bedarf es der Kooperation mit externen Partnern, auch mit staatlichen – wobei Externität allein noch nicht Qualität sichert. Inzwischen gibt es auch viel Expertise im Inneren der Kirche, die bei der Beurteilung der Qualität von möglichen externen Partnern zur Beratung hinzugezogen werden kann.


3. Unabhängigkeit

Im Juni dieses Jahres fand in Berlin das Hearing des Unabhängigen Beauftragten der Bunderegierung zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in den Kirchen statt. Das entscheidende Stichwort, das den ganzen Tag durchzog, lautete: „Unabhängige Aufarbeitung.“ Nur Personen, Kommissionen und Instanzen, die entsprechend mandatiert sind, können glaubwürdig aufarbeiten. Zur Mandatierung müssen die Bischöfe bereit sein. Das setzt die Bereitschaft voraus, Macht zu teilen und Kontrolle abzugeben. Und dies auf mehreren Ebenen.

- Monarchische Strukturen sind nicht geeignet zur Selbstaufklärung und -korrektur. Deswegen ist die Forderung nach dem Aufbau einer kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, die auch die Orden mit einschließt, die richtige Forderung zur richtigen Zeit. Ausgearbeitete Vorschläge dazu liegen vor. Der Aufbau einer unabhängigen Gerichtsbarkeit geht einher mit einer Gewaltenteilung, die diesen Namen verdient. Diese entscheidet sich nicht zuletzt an der Frage, durch wen Richter und Richterinnen eingesetzt würden. Das erfordert eine Selbstbindung der bischöflichen Macht. Niemand kann die Bischöfe zwingen – sie müssen es selbst wollen und tun. Es ist zu wenig, wenn die Bischöfe vor zwei Tagen in Fulda formulierten, sie wollten das Thema „in den Blick nehmen“.

- Partizipative Strukturen stärken Schutz. Beispiel: 1983 wurde ein Priester – ein Jesuit – als Geistlicher Leiter der KSJ an die Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg versetzt. Der Geistliche trat vor die Gruppenleiter und sagte sinngemäß, er habe sein Amt von oben, durch Weihe empfangen, und deswegen verstehe er es nicht als Wahlamt. Daraufhin wählte ihn die Stadtgruppe ab. Der Provinzial musste den Mitbruder abziehen. 2010 tauchte der Pater in den Missbrauchsberichten als Täter auf. Partizipative Strukturen schützen also. Warum ist es nicht möglich, Pfarrgemeinderäten ein echtes Partizipationsrecht bei der Besetzung von Pfarrerstellen einzuräumen, das nicht nur eine Anhörung ermöglicht, sondern auch ein Veto-Recht verleiht? Warum ist es nicht möglich, dasselbe Prinzip auf die Besetzung von Bischofsstühlen anzuwenden und entsprechend das Geheimverfahren durch Domkapitel bei Bischofswahlen zu öffnen?[4] Schließlich: Eine Selbstbindung des Bischofs, wie sie im kirchlichen Vermögensrecht schon gang und gäbe ist, könnte auch in Bezug auf die Arbeit der Diözesan-Synodalräte vollzogen worden, indem der Bischof auf den Vorbehalt seines Veto-Rechtes verzichtet.

- Unter dem Stichwort „Verantwortung gegenüber Betroffenen“  stellt die MHG-Studie auch das Verfahren der „Anerkennungszahlungen“ in Frage. Ich weiß, wie schwierig das Terrain ist. Ein Zeichen gegenüber den Betroffenen wäre es vielleicht, noch einmal neu zu durchdenken, ob die Kirche nicht doch einen grundsätzlichen Verzicht auf die Einrede der Verjährung bei zivilrechtlichen Ansprüchen aussprechen könnte, selbst wenn solche Ansprüche gerade bei Institutionsversagen gerichtlich schwer nachweisbar und feststellbar sind. Ein anderes Modell könnte das der österreichischen unabhängigen Aufarbeitungskommission. Sie ist mit Kompetenzen ausgestattet, die auch die Bischöfe verpflichten.

- Direkte Akteneinsicht war ein weiterer zentraler Punkt in der öffentlichen Debatte um die MHG-Studie. Die Frage, die dahinter steht, lautet: Wie kann eine unabhängige Aufarbeitung so aufgestellt sein kann, dass ihre Glaubwürdigkeit unter Wahrung der rechtsstaatlich geltenden Personenschutzrechte aller Beteiligten gesichert. Diese Frage muss im Dialog mit der Politik geklärt werden, nicht nur im Gespräch mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung. Außerdem könnten die deutschen Bischöfe bei der anstehenden Synode im Februar darauf hinwirken, dass das Geheimarchiv für Missbrauchsakten kirchenrechtlich abgeschafft wird und der Schutz von Anvertrauten im Kirchenrecht verankert wird.

„Es wäre eine Illusion zu glauben, man könnte den herrschenden Klerikalismus überwinden, ohne das Kirchenrecht in zentralen Punkten zu ändern, den absolutistischen Jurisdiktionsprimat des Papstes eingeschlossen. Es wäre eine Illusion zu glauben, man könnte die männerbündischen Seiten kirchlicher Machtstrukturen überwinden, ohne den Pflichtzölibat aufzugeben und auch Frauen zum Priestertum zuzulassen. Es wäre eine Illusion zu glauben, man könne die Tabuisierung von Homosexualität überwinden, ohne insgesamt die Sexualmoral der Kirche zu revidieren. Alle diese seit langem kritisierten Missstände müssen freilich nicht nur aufgrund des Missbrauchsskandals beseitigt werden, sondern auch, weil sie der befreienden Reich-Gottes-Botschaft des Evangeliums widersprechen.“[5]  Ich zitiere Gerhard Kruip zustimmend vor allem auch wegen des letzten Satzes. Es besteht in der gegenwärtigen Institutionskrise die Versuchung, die genannten großen Themen bloß aus der Perspektive des Krisenmanagements zu betrachten. Aber es geht doch um die konstruktive Frage, wie das Evangelium heute gedeutet und gelebt werden soll. Nicht nur der Missbrauch verdunkelt das Evangelium, sondern auch das angstgetriebene Krisenmanagement, das ja letztlich nichts anderes ist als die Fortsetzung der narzisstischen Institutionsperspektive in den Prozess der Aufarbeitung hinein. Auch hier gilt das Prinzip: Institutionellen Narzissmus kann man nur überwinden, wenn es der Institution um mehr geht als um sich selbst.

Pater Klaus Mertes SJ Direktor des Kollegs St. Blasien
 


[1]  Erika Kerstner, Ökumenische Initiative gottes-suche.de, in: „Kinder haben Rechte“, Arbeitshilfe der DBK zum europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch am 18. November, 10/2016, S.20
[2] Nuntius Eterovic in HK 11/2018
[3] Laut Kardinal Müller können Laien Bischöfe nicht verurteilen: Die Missbrauchsaufarbeitung ist in vollem Gang. Wie soll man mit Bischöfen umgehen, die Missbrauch vertuscht haben, ist eine Frage. Sie können jedenfalls nicht innerkirchlich durch Laien gerichtet werden, meint Gerhard Ludwig Kardinal Müller. Zu den Diskussionen um entsprechende Pläne der US-Bischöfe sagte der frühere Leiter der Glaubenskongregation im Interview mit der kanadischen LifeSite-News (Mittwoch Ortszeit): „Die Lösung sehe ich nicht darin, dass nun die Laien das Heft in die Hand nehmen, weil es die Bischöfe nicht aus eigener Kraft schafften.“ Missstände ließen sich nicht überwinden, indem man die „hierarchisch-sakramentale Verfassung der Kirche auf den Kopf“ stelle. / Wenn ein Bischof seiner Verantwortung nicht gerecht werde, so könne er innerkirchlich vom Papst zur Rechenschaft gezogen werden, so Müller. „Mit Lynchjustiz und einer allgemeinen Verdächtigung“ komme man nicht weiter. Bischöfe seien keine weisungsgebundenen Mitarbeiter des Papstes. Allerdings, so der deutsche Kardinal, sei jetzt „die Stunde eine guten Zusammenarbeit zur Überwindung der Krise und nicht der Polarisierung und Kompromittierung.“ Momentan fehle es an vertrauensbildenden Maßnahmen. / Zu dem vieldiskutierten Fall von Ex-Kardinal Theodore McCarrick wollte sich Müller nicht explizit äußern. Als er selbst Präfekt der Glaubenskongregation war (2012-2017), habe ihm „niemand von der ganzen Problematik mitgeteilt.“ Dass aber McCarrick „mit seinem Clan und geschützt von einer Homo-Lobby mafiös sein Unwesen in der Kirche treiben konnte, hänge „mit einer Unterschätzung der moralischen Verwerflichkeit homosexueller Praxis unter Erwachsenen zusammen“, sagte Müller./ Den Ursprung der gesamten Krise sieht der deutsche Kardinal daher „in einer Verweltlichung der Kirche und in einer Reduzierung des Priesters auf einen Funktionär“. Wenn Bischöfe nicht mehr als unbequeme Mahner und Leute von gestern dastehen wollen, müssten die „schnellstmöglich die Wahrheit des Dogmas und die Prinzipien der Moral zu unerreichbaren Ideen und Normen erklären, die nicht mehr mit ihrer Lebenswirklichkeit übereinstimmen.“ In diesem „Ungeist“ werde die Offenbarung in Glaube und Moral „an die Welt ohne Gott“ angepasst, so dass sie „einem Leben nach den eigenen Lüsten und Bedürfnissen nicht mehr im Wege steht.“ (KNA, 22.11.2018)
[4] Rom hat ja – Beispiel Wien – gegen den Willen der örtlichen Gremien Bischöfe eingesetzt, die sich später als Missbrauchstäter entpuppten.
[5] Gerhard Kruip, Betroffenheit und Reue reichen nicht, in: Herder Korrespondenz 11/2018, S.16

 

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