Gerechte Pflege in einer sorgenden Gesellschaft – Zur Zukunft der Pflegearbeit in Deutschland
Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Wir leben in einer Gesellschaft, in der autonome Lebensführung, Übernahme von Eigenverantwortung und individuelle Leistungsfähigkeit einen hohen Stellenwert haben. Daher fällt es vielen Menschen schwer, Hilfe anzunehmen, wenn sie hilfebedürftig werden, oder sich vorzustellen, einmal über lange Zeit gebrechlich und pflegebedürftig zu werden. Die Erfahrung, den Alltag nicht mehr selbstständig bewältigen zu können und bei einfachen körperlichen Aktivitäten auf Hilfe angewiesen zu sein, erfüllt viele mit Scham. Zudem fällt es vielen Menschen nicht leicht einzugestehen, dass man von einer Aufgabe überfordert ist. Das gilt auch für Angehörige, die an der Aufgabe, ein stark hilfebedürftiges Familienmitglied dauerhaft zu pflegen, zu zerbrechen drohen. Gerade in unserer älter werdenden Gesellschaft sollten allen Bürgerinnen und Bürgern Dienstleistungen zur Verfügung stehen, die pflegende Angehörige unterstützen oder familiäre Pflegearbeit ersetzen.
Die Praxis, dass Menschen unterstützungsbedürftige ältere Menschen pflegen, denen sie nicht familiär verbunden sind, entstand in der christlichen Tradition tätiger Nächstenliebe. Die Kirchen waren lange Zeit alleinige Trägerinnen von Pflegeeinrichtungen unterschiedlichster Prägung. Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelte sich die Altenpflege zu einem eigenständigen Berufszweig, der in den letzten dreißig Jahren schnell gewachsen ist. Den Prozess, dass Pflege in Deutschland teilweise zu einer professionell erbrachten sozialen Dienstleistung wurde, hat die Pflegeversicherung nochmals beschleunigt.
Deren Einführung vor gut zwanzig Jahren war auch aus christlich-sozialethischer Sicht die richtige Antwort auf den starken Anstieg von Pflegebedürftigkeit in der Gesellschaft. Zur Begründung hieß es in dem damals verabschiedeten Pflegegesetz: "Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe." (heute: SGB XI, § 8.1). Mit dieser Aussage verzichtet der Staat darauf, weiterhin auf die für ihn scheinbar einfache Lösung zu setzen, dass die Aufgabe der Pflege fast vollständig von den Familien der Pflegebedürftigen – in der Praxis vor allem von ihren Töchtern und Schwiegertöchtern – übernommen wird. Er verpflichtet die Gesellschaft und sich selbst darauf, gute Alternativen zur familiären Pflege zu entwickeln und gestaltet die Rahmenbedingungen für die Übernahme wechselseitiger solidarischer Verpflichtungen der Bürgerinnen und Bürger. Durch die Pflegeversicherung sollen zu Pflegende vor Armut und pflegende Angehörige vor Überforderung geschützt sowie in ihren Aufgaben unterstützt werden. Dazu werden ihnen finan-zielle Unterstützung und entlastende Dienstleistungen zugänglich gemacht.
Aus christlich-sozialethischer Sicht ist zu betonen, dass eine solche professionelle und institutionell abgesicherte Unterstützung von hilfebedürftigen Menschen und deren gemeinsame Finanzierung ebenso dem christlichen Menschenbild entsprechen wie die Annahme der eigenen Verletzlichkeit und die Inanspruchnahme solcher Hilfen durch Einzelne. Es widerspräche hingegen diesem Menschenbild, wenn Menschen, die Hilfe annehmen, nur als gesellschaftliche Belastung und gesamtwirtschaftlicher Kostenfaktor wahrgenommen werden. Die Pflege ist nicht nur eine Aufgabe der Familie, sondern der Gesellschaft insgesamt!
Die 1995 beschlossenen Grundstrukturen der Pflegeversicherung sind bis heute weiterhin gültig. Dies betrifft u. a. den Grundsatz "häusliche vor stationärer Versorgung" sowie die Begrenzung der Leistungen aus der Pflegeversicherung nach dem Teilkostendeckungsprinzip, so dass nur ein Teil der anfallenden Kosten für einen Pflegebedürftigen gedeckt sind. Viele Pflegende, die einen stark hilfebedürftigen Angehörigen dauerhaft pflegen, drohen an dieser Aufgabe zu zerbrechen. Zugleich sind viele professionelle Pflegekräfte in der ambulanten und stationären Pflege durch unattraktive Arbeitsbedingungen, die zu geringe Personalausstattung und den großen Fachkräftemangel im Pflegebereich überlastet. Um die Autonomie der Pflegebedürftigen zu stärken und den Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung hinauszuzögern, müssen frühe Hilfen, präventive Angebote und unterstützende, haushaltsnahe Dienstleistungen weiter ausgebaut werden. Angesichts der bereits heute offensichtlichen Probleme, dem Pflegebedarf zu entsprechen, der aktuell schon sehr hohen Belastungen der Pflegenden und der demographisch bedingten Zunahme der Pflegebedürftigen, stellt sich die Frage, ob die Grundstrukturen des deutschen Pflegesystems auch in Zukunft noch tragfähig sein werden. Es braucht grundlegende Veränderungen und Reformen im Pflegesystem in Deutschland, um das Pflegerisiko dauerhaft verlässlich abzusichern und die Lasten generationengerecht zu verteilen. Ein wichtiger Schritt dazu ist die "Konzertierte Aktion Pflege", in der aktuell die pflegepolitischen Reformbestrebungen auf Bundesebene gebündelt und verstärkt werden.
Die heutige Situation in der Altenpflege und die genannten Herausforderungen werfen die grundlegende Frage auf, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen und welchen Stellenwert die Sorgearbeit darin haben soll. Zu einer öffentlichen Debatte darüber wollen wir als Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) beitragen. Dabei nehmen wir in dieser Erklärung insbesondere die in der Altenpflege tätigen Menschen in den Blick. Das sind sowohl in der familiären Pflege als auch bei den in der Pflege Erwerbstätigen überwiegend Frauen. Ohne eine deutliche Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Pflege auch für Männer attraktiv macht, wird es in Zukunft nicht möglich sein, allen Pflegebedürftigen gute Pflege zu garantieren.
Angehörigenpflege
Mit dem Vorrang der häuslichen vor der stationären Pflege setzt die deutsche Pflegepolitik auf die Pflegefähigkeit und -bereitschaft der Familien: bei Paaren im Rentenalter insbesondere auf den hohen Einsatz des nicht pflegebedürftigen Partners, bei der Pflege der Elterngeneration vor allem auf die Pflegearbeit der Töchter und Schwiegertöchter. Tatsächlich wurden fast drei Viertel der 2,9 Mio. Pflegebedürftigen, die Ende 2015 Leistungen der Pflegeversicherung erhielten, zuhause gepflegt. Bei fast der Hälfte aller Leistungsempfänger war überhaupt keine professionelle Pflegekraft, also auch kein ambulanter Pflegedienst involviert.[1] Hinzu kommen die vielen Pflegebedürftigen, die keine Leistungen der Pflegeversicherung beziehen; sie werden fast alle von ihren Angehörigen versorgt.
Die verbreitete Angehörigenpflege ist ein eindrückliches Zeichen dafür, wie lebendig die Sorgebereitschaft und familiäre Solidarität in unserer Gesellschaft sind. Unzählige Familienmitglieder schränken sich in ihrem Alltag ein und übernehmen Pflegearbeit, um dem Wunsch des nahestehenden Pflegebedürftigen, in seiner vertrauten Umgebung zu verbleiben, entsprechen zu können. Viele Erwachsene wissen sich ihren Eltern sehr verpflichtet. Sie wollen ihren Müttern und Vätern etwas von dem "zurückgeben", was sie in ihrer Kindheit und Jugend an Zuwendung, Unterstützung und liebevoller Begleitung erfahren haben. Pflegearbeit kann, wenn sie von den Pflegebedürftigen und den Pflegenden gewünscht ist und unter guten Rahmenbedingungen stattfindet, als bereichernd sowie als Chance familiärer Vertrautheit und Kommunikation erfahren werden. Aus christlicher Sicht gehört es zu einer lebenswerten Gesellschaft, dass Menschen Pflegeaufgaben für ihnen Nahestehende übernehmen und dass sie darin unterstützt und gefördert werden.
Wenn der Pflege- und Betreuungsbedarf hoch ist, sind mit der Angehörigenpflege auch erhebliche Belastungen verbunden. Diese steigen zumeist mit der Zeit. Sehr viele pflegende Angehörige berichten, dass die Pflege und der sich verschlechternde Gesundheitszustand des Gepflegten sie bedrückt und überfordert. Nicht wenige leiden an chronischen Krankheiten. Erfordert die Pflege einen Vollzeiteinsatz, geraten viele Angehörige in soziale Isolation und sehen sich häufig jeder Möglichkeit beraubt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die häusliche Pflege sowie die oft damit verbundene Reduktion oder Unterbrechung der Erwerbstätigkeit führen für die pflegenden Angehörigen auch zu zusätzlichen Kosten und finanziellen Einbußen. Häufig ist der Pflegeaufwand zu hoch, um Angehörigenpflege und Erwerbstätigkeit zu kombinieren. In anderen Fällen scheitert die Vereinbarkeit daran, dass keine passgenaue Teilzeitlösung möglich ist. Ein dauerhafter Ausstieg aus der Erwerbsarbeit kann langfristig zu Arbeitslosigkeit auch nach der Pflegephase und zu (Alters-)Armut führen. Das Pflegegeld, das nur als Anerkennung und nicht als Entgelt für die geleistete Pflegearbeit konzipiert ist und zudem beim Bezug von Pflegesachleistungen reduziert wird, reicht bei weitem nicht zur Existenzsicherung. Es gibt pflegende Angehörige, die arm sind, weil sie pflegen. Ohne andere Einkommen sind Angehörige, die im Vollzeiteinsatz familiäre Pflege übernommen haben, auf Sozialleistungen angewiesen. Auch das künftige Alterseinkommen der Pflegenden sinkt. Denn Pflegezeiten werden fast immer schlechter angerechnet als Kindererziehungszeiten, d. h. geringer als Erwerbszeiten mit einem Durchschnittsverdienst.
Pflegende Angehörige können somit nicht nur als "der größte Pflegedienst der Nation" betrachtet werden, sondern auch als ein unbezahlter "Pflegedienst", der oft sich selbst überlassen bleibt. Schließlich werden nicht wenige gesetzlich vorgesehene Unterstützungsangebote (z. B. Tages-, Kurzzeit- oder Verhinderungspflege sowie Beratungsmöglichkeiten) in ländlichen Regionen zu wenig angeboten oder sie erreichen viele pflegende Angehörige nicht, weil diese sich mit den administrativen Anforderungen bei der Beantragung von Leistungen schwertun oder von dem damit verbundenen Aufwand abgeschreckt werden. Andere Entlastungen (z. B. durch haushaltsnahe Dienstleistungen) können sich viele Angehörige nicht leisten. Wer weder auf ein verlässliches Netzwerk familiärer und freundschaftlicher Unterstützung zurückgreifen noch Dienstleistungen erwerben kann, droht völlig überfordert zu werden.
Unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen stößt der Vorrang der häuslichen vor der stationären Pflege immer deutlicher an Grenzen. Daher stellt sich die Frage, wie zukunftsfähig ein so stark auf familiärer Versorgung basierendes Pflegesystem heute noch ist. In der Gesellschaft wächst der Bedarf an Pflegearbeit seit Jahrzehnten – ein Trend, der zumindest in den nächsten 30 Jahren weiter anhalten wird. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt absolut und im Verhältnis zu den Generationen der Erwerbstätigen weiter an. Gleichzeitig sind Familien heute oft weniger als früher in der Lage, die notwendige Pflegearbeit selbst zu leisten. Diese Entwicklung wird sich in Zukunft weiter verstärken: Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte nimmt kontinuierlich zu und die räumliche Distanz zwischen den Eltern und ihren erwachsenen Kindern wird größer. Zugleich nehmen immer mehr Frauen am Erwerbsleben teil, während erwerbstätige Männer nur langsam mehr Sorgearbeit übernehmen. Vollzeitstellen, in denen – wie vielfach gewollt – möglichst viele Frauen und Männer erwerbstätig sein sollen, lassen ohne angemessene Entlastung kaum Zeit für Sorgeaufgaben, geschweige denn für eine zeitintensive (Beteiligung an der) Angehörigenpflege. Die Digitalisierung bietet im häuslichen Bereich Entlastungsmöglichkeiten, etwa bei der Suche nach adäquaten Pflegedienstleistern über Onlineplattformen sowie durch die digitale Koordinierung unterschiedlicher Hilfeleistungen. Der Einsatz anderer Technologien (u. a. Sensoren, sprachgesteuerte persönliche Assistenten) könnte in Zukunft den Pflegebedürftigen bei der Bewältigung ihres Alltags helfen und vielleicht die Zeiten reduzieren, die ein Pflegender in der Wohnung des Pflegebedürftigen anwesend sein muss. Abgesehen von ethischen Fragen werden aber auch diese Hilfsmittel die sinkende Fähigkeit der Familien, die notwendige Pflegearbeit selbst zu leisten, nicht vollständig kompensieren können. Ohne geeignete politische Maßnahmen dürfte sich daher in den nächsten Jahren an der hier skizzierten Problemdiagnose der Angehörigenpflege wenig ändern. Ein Pflegesystem, das vorrangig auf häuslicher Pflege basiert, verschleiert einen Großteil der privat getragenen Lasten, insofern die Pflegearbeit für die pflegenden Angehörigen häufig mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Einschränkungen sozialer Kontakte und finanziellen Nachteilen verbunden sind. Dies verhindert eine gerechte gesellschaftliche Verteilung der finanziellen und sozialen Lasten von Pflege.
Hinzu kommt, dass die Rede von einem Vorrang der häuslichen vor der stationären Pflege suggeriert, es gebe nur diese beiden Pflegeformen. Durch die Verbreitung der Tagespflege sowie neuer Wohnformen mit verschiedenen Graden der Unterstützung und der Pflegedienstleistung (u. a. Mehrgenerationenhäuser, ambulant betreute Wohn-Pflege-Gemeinschaften, stationäre Wohngruppen) gibt es in steigendem Maße in einigen Regionen ein zunehmendes Ineinandergreifen von Hilfen, so dass die vermeintliche Dualität zwischen häuslicher und stationärer Pflege bereits heute aufgebrochen ist. In den neuen Wohnformen, die wohnortnah ambulante und stationäre Pflege kombinieren, werden Pflegebedürftige gemeinsam von professionellen Pflegekräften betreut und bleiben zugleich sozial in vertraute familiäre und nachbarschaftliche Zusammenhänge eingebunden. In einer Zeit, in der die Single-Haushalte zunehmen und die Familie weniger präsent ist als früher, wird diese Möglichkeit zum Verbleib im vertrauten Umfeld (wie z. B. Stadtviertel, Verein, Kirchengemeinde) für die Betroffenen umso wichtiger. Die Verfügbarkeit dieser Angebote hängt jedoch sehr vom Wohnort der pflegebedürftigen Personen ab. In ländlichen Gebieten ist sie vielfach noch völlig unzureichend.
Dass die häusliche Pflege trotz der damit verbundenen hohen Belastungen so weit verbreitet und ihr Anteil an allen Pflegeformen in den letzten zehn Jahren wieder gestiegen ist[2], liegt nicht nur an einer lebendigen familiären Solidarität, sondern auch an einigen anderen, weniger positiven Faktoren. Aufgrund von unzureichender Personalausstattung, aber auch von Qualitätsmängeln in einzelnen Einrichtungen und ihrer sachlich unbegründeten Verallgemeinerung in der öffentlichen Darstellung, haben Pflegeheime heute ein Imageproblem. Zu diesem negativen Bild gehören auch die hohen Zuzahlungen der Pflegebedürftigen bzw. der Angehörigen[3]. Zudem hat das eigene Haus bei der Generation derer, die heute aus Altersgründen pflegebedürftig werden, einen sehr hohen symbolischen Wert. Oft existieren ein großer sozialer Druck und die Furcht der Angehörigen, als Personen zu gelten, die ihre eigene Mutter oder den eigenen Vater herzlos ins Heim "abschieben". Viele Pflegebedürftige begreifen die eigenen vier Wänden als einen Schutzraum selbstbestimmten Lebens, befürchten, dass es ihnen in einem Heim oder in einer Wohngruppe viel schlechter gehen wird, und wehren sich gegen einen Umzug. So möchten die meisten Menschen im Alter in ihrer eigenen Wohnung bleiben und ziehen Hilfsangebote zu Hause einer Unterbringung im Pflegeheim vor. Auch bei Krankheit oder Behinderung muss ein möglichst weitgehend selbstbestimmtes Leben gewährleistet sein. Bei Entscheidungen über die Form der Pflege kommt den Wünschen der Pflegebedürftigen ein hohes Gewicht zu. Allerdings wäre manche pflegebedürftige Person, die ambulant gepflegt wird, in einer stationären Einrichtung oder in einer der neuen Wohnformen besser aufgehoben. Manches Mal erfolgt auch der Wechsel aus der eigenen Wohnung in ein Heim oder in eine Wohngruppe zu spät. Von der Pflege überforderte Angehörige sind eine häufige Folge, Pflegefehler eine andere.
Gerade in kirchlichen Kontexten können bei Entscheidungen über die Form der Pflege starke, sachlich nicht angemessene Werturteile ins Spiel kommen: Angehörigenpflege wird dann als die beste Form bewertet, sich um die eigenen Eltern zu "kümmern". Pflegeformen, die stark auf die professionelle Versorgung in einem Heim oder in einer Wohngruppe setzen, werden als Ausdruck von Hartherzigkeit oder zumindest als Notlösung dargestellt. Dem vierten Gebot, Vater und Mutter zu ehren, kann aber auch gerecht werden, wer sich in einer oft schwierigen Abstimmung mit dem zu Pflegenden gegen eine familiäre Pflege zuhause und für eine Pflege in einem guten Pflegeheim oder in einer Wohngruppe entscheidet. Durch häufige Besuche kann ein enger Kontakt gehalten und die Qualität der Pflege beobachtet werden. Oft nehmen beide Seiten regelmäßige Besuche der Angehörigen, bei denen Zeit für gemeinsame Aktivitäten und Austausch ist, als besonders bereichernd wahr.
Pflege durch sog. Live-In-Pflegekräfte
Heute greifen viele Familienmitglieder aus mittleren und oberen Einkommensschichten, die von den Lasten häuslicher Pflege überfordert sind oder sich kaum in der Pflege ihrer (Schwieger-) Eltern engagieren können bzw. wollen, auf eine Möglichkeit zurück, die es vor 30 Jahren noch nicht gab: den Einsatz von Haushaltshilfen bzw. Pflegekräften aus Mittel- und Osteuropa, die Pflegebedürftige in deren Privathaushalt nicht nur pflegen, versorgen und betreuen, sondern auch bei ihnen wohnen ("live in"). Die weite Verbreitung dieser sog. 24-Stunden-Pflege – Schätzungen schwanken zwischen 100.000 und 600.000 Pflegehaushalten in Deutschland – verdeutlicht, dass das primär auf häuslicher Pflege basierende Pflegesystem an seine Grenzen stößt.
Ein großer Teil der fast immer weiblichen Pflegekräfte wird über Netzwerke persönlicher Kontakte aus Polen oder auch aus anderen mittel- und osteuropäischen Staaten angeworben; diese arbeiten dann häufig "schwarz". Viele Live-In-Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten werden aber auch von Agenturen in Deutschland und deren Partnerunternehmen in Mittel- und Osteuropa vermittelt. Dabei werden die meisten Vermittlungsagenturen dem eigenen, öffentlich erhobenen Anspruch auf ein legales Arbeits- oder Auftragsverhältnis ihrer Pflegekräfte nicht gerecht.[4] Mit Verlässlichkeit kommt ein legales Beschäftigungsverhältnis nur zustande, wenn Pflegebedürftige oder Angehörige die Live-In-Pflegekraft selbst einstellen und das Beschäftigungsverhältnis offiziell anmelden. In beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (Deutscher Caritasverband und Diakonie Deutschland) sind Modellprojekte der Vermittlung mittel- und osteuropäischer ArbeitnehmerInnen entstanden, bei denen die Angehörigen mit Pflegeverantwortung auch darin unterstützt werden, die in diesem Fall entstehenden Arbeitgeberpflichten (u. a. Anmeldung bei der Sozialversicherung, Lohnabrechnung) zu erfüllen.[5]
Auch aus ethischer Sicht ist die extreme Ausdehnung der Arbeitszeit das zentrale Problem der sog. 24-Stunden-Pflege. ArbeitnehmerInnen verpflichten sich, den Weisungen ihrer ArbeitgeberInnen zu folgen. Ethisch vertretbar ist dies nur, weil dieses Weisungsrecht auf die Arbeitszeit beschränkt ist. In der Freizeit sind die ArbeitnehmerInnen frei, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Wann aber hat eine Arbeitnehmerin in der sog. 24-Stunden-Pflege Freizeit? Die ständige häusliche Präsenz der Live-In-Pflegekräfte wird häufig so ausgenutzt, dass sie gar keine oder nur sehr wenig Zeit haben, in der sie weder pflegerische oder hauswirtschaftliche Aufgaben erledigen noch Bereitschaftsdienst haben. Zu einer enormen Belastung wird dieser Dauereinsatz, wenn die pflegebedürftige Person eine bereits fortgeschrittene Demenz hat, sehr viele Hilfestellungen benötigt oder häufig zu einem nächtlichen Einsatz ruft. Zugleich bedeutet die Tätigkeit als Live-In-Pflegekraft für viele Arbeitnehmerinnen, dass sie oft schmerzlich mehrere Wochen oder sogar Monate von der eigenen Familie getrennt sind und dass die dort anfallenden Betreuungs-, Pflege- und Haushaltsaufgaben von anderen, meistens den weiblichen Familienangehörigen übernommen werden müssen.
Häufig ist der Wechsel in ein Heim oder in eine Wohngruppe die Alternative zur Pflege durch eine Live-In-Pflegekraft. Das Angebot der sog. 24-Stunden-Pflege stellt insofern die Angehörigen vor die Frage, auf welche Formen der Beschäftigung sie sich als Arbeitgeber einlassen wollen, um dem Wunsch des pflegebedürftigen Familienmitglieds nach häuslicher Pflege noch entsprechen zu können. Gehören dazu auch "Schwarzarbeit" und andere Formen unerlaubter Beschäftigung? Will man eine Arbeitnehmerin beschäftigen, die (beinahe) rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche im Einsatz ist? Aus ethischer und arbeitsrechtlicher Sicht ist diese Form der Pflege problematisch. Deshalb sollten die Angehörigen diese nur dann erwägen, wenn einige Mindestvoraussetzungen erfüllt sind. Durch eigene Beteiligung an der Pflege und durch Einbezug anderer Dienstleistungen müssen sie der Live-In-Pflegekraft vor allem ausreichend freie Zeit (ohne Tätigkeiten und ohne Bereitschaft) garantieren können. Als menschenrechtlich garantiertes Minimum gilt, dass Erwerbstätige einmal in der Woche 24 Stunden am Stück frei haben.
Die beiden bereits erwähnten Modellprojekte der kirchlichen Wohlfahrtsverbände haben den Vorteil, dass sie die Pflegekräfte als Arbeitnehmerinnen in Deutschland beschäftigen und ihnen bessere Arbeitsbedingungen bieten als die meisten Agenturen. Gerade mit Blick auf das zentrale Problem der Arbeitszeit sind diese Initiativen aber auch in den Wohlfahrtsverbänden umstritten. Hier gibt es noch viel Diskussionsbedarf.
Pflege durch professionelle Pflegekräfte
Bei ambulanten Pflegediensten, in Heimen und teilstationären Einrichtungen sowie in Wohngruppen und bei anderen neuen Mischformen ambulanter und stationärer Pflege waren Ende 2015 über 1 Mio. Personen beschäftigt, knapp 13 % von ihnen in Minijobs und 57 % auf sozialversicherungspflichtigen Teilzeitstellen.[6] In den letzten 12 Jahren ist die Beschäftigung im Pflegesektor um 45 % gestiegen.[7] Trotzdem gibt es bereits heute einen akuten Personal-, vor allem einen Fachkräftemangel in der Pflege. Aufgrund des demographischen Wandels dürfte sich dieser selbst bei intensiven Rekrutierungs- und Ausbildungsanstrengungen erheblich verschärfen. In der Pflege spitzt sich die besondere Problematik der mehrheitlich von Frauen ausgeübten personenbezogenen Dienstleistungen in den Bereichen der Sozialen Arbeit, der haushaltsnahen Dienstleistungen, der Gesundheit und Pflege sowie in der Erziehung zu. Trotz anhaltenden Wachstums – bis 2030 dürften hier ein Viertel bis ein Drittel aller Erwerbstätigen arbeiten – wird diesen Dienstleistungen nach wie vor nicht die gleiche berufliche Anerkennung wie den männlich dominierten Industrietätigkeiten zuteil. Umso bedeutsamer für die Zukunft der Arbeit, insbesondere auch für die dauerhafte Überwindung des Pflegefachkräftemangels, ist der Ausbau dieser Dienstleistungen in hoher Qualität. Dies bedeutet konkret die Gewährleistung standardisierter Ausbildungswege (die zu spezifischen Tätigkeiten qualifizieren), auskömmliche Löhne und soziale Sicherheit, attraktive Arbeitsbedingungen sowie gute Weiterbildungsmöglichkeiten.[8] Einen solchen Weg wird das deutsche Pflegesystem nur einschlagen, wenn die Interessenvertretung der professionellen Pflegekräfte gestärkt und zugkräftig wird.
Für AltenpflegerInnen ist kennzeichnend, dass sie hoch motiviert sind und es ihnen vor allem anderen um das Wohl der zu pflegenden Personen geht. Die meisten von ihnen geben an, dass sie von den menschlichen Erfahrungen, die sie in der pflegerischen Interaktion mit den Pflegebedürftigen machen, begeistert sind.[9] Trotzdem sind die Bedingungen, unter denen Altenpflege geleistet wird, wenig attraktiv. Das liegt nicht nur an der häufig schlechten Bezahlung und ungünstigen Arbeitszeiten, wie z. B. geteilten Diensten. Das größte Problem ist vielmehr die zu knappe Personalbemessung, die zu einer enormen Arbeitsverdichtung führt. Diese bedingt, dass die Pflegekräfte gelegentlich Abstriche an der Qualität der einzelnen Hilfestellungen und Behandlungsschritte machen, zwingt sie aber vor allem dazu, den Kommunikationsaspekt der Pflege auf ein Minimum zu reduzieren. Dieser nach wie vor ungebrochene Trend zur "Minutenpflege" widerspricht dem Charakter der Pflege, die grundlegend ein von Zuwendung und Achtsamkeit bestimmtes Kommunikationsgeschehen ist, in das die einzelnen Tätigkeiten eingebunden sind.
Besondere Herausforderungen sind mit der Digitalisierung der Pflege verbunden. Zu den Chancen gehört, dass die entsprechenden technischen Innovationen die Dokumentation pflegerischer Leistungen vereinfachen. Darüber hinaus können sie die Vernetzung, den komplexen Informationstransfer und den Zugang zu wichtigen Informationen sowie die Arbeitsorganisation der Pflegekräfte erleichtern. Assistenzsysteme können die körperlichen Belastungen der Pflegenden, neue Sensoren den Zeitaufwand in der Aufsicht (bei Demenz, Hilfe nach Stürzen) reduzieren. Der zukünftige Einsatz von Robotiksystemen hat das Potential, die Pflegenden bei einfachen Routinetätigkeiten zu entlasten und die Sicherheit der Pflegebedürftigen zu erhöhen. Zu den Risiken gehören eine starke Fremdsteuerung, Technisierung und rationalisierende Zerstückelung der Pflege, mangelhafter Datenschutz, insbesondere die Störung der Privatsphäre von Pflegebedürftigen sowie die lückenlose Kontrolle der Pflegenden und anderer Dienstleister. Eine besondere Gefahr liegt darin, dass die neuen technischen Möglichkeiten die direkte Kommunikation zwischen der pflegebedürftigen und der pflegenden Person weiter reduzieren; dann würden noch mehr Pflegebedürftige vereinsamen und der ganzheitliche Charakter der Pflege, für den physische Nähe und Zuwendung entscheidend sind, ginge verloren. Daher sollten technologisch erzielte Effizienzgewinne nicht zur Kostenreduktion, sondern für eine höhere Qualität in der Pflege genutzt werden. Einem solchen positiven Einsatz der digitalen Technologien steht jedoch der anhaltend hohe Kostendruck in der Pflege entgegen, der in den letzten 20 Jahren nicht nur zu Personaleinsparungen und steigendem Zeitdruck führte, sondern auch zum vermehrten Einsatz geringer qualifizierter und daher schlechter bezahlter Hilfskräfte. Die stärkere Arbeitsteilung und partielle Deprofessionalisierung der Pflege, die damit einhergehen, verhindern in zahlreichen Einrichtungen und bei vielen Pflegediensten die Umsetzung eines ganzheitlichen Konzeptes von Pflege. Diese Entwicklung, die zu knappe Personalausstattung und bei manchem Pflegedienstleister auch Mängel der Organisation und des Managements schaden einerseits vielen Pflegebedürftigen, die eine schlechtere Pflege erhalten, als ihnen zusteht. Andererseits belasten diese Defizite auch die Pflegekräfte, die dazu gezwungen werden, anders zu arbeiten als es ihren professionellen Vorstellungen von guter Pflege entspricht.
Das zentrale Problem der professionellen Pflege ist der hohe Druck, Kosten zu sparen. Dieser Druck lastet im deutschen Pflegesystem auf allen Pflegedienstleistern. Dieser geht unter den gegebenen Bedingungen auch darauf zurück, dass die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen einen erheblichen Teil der Kosten selbst übernehmen müssen. Insbesondere die Pflegeheime stehen in einem Wettbewerb, in dem sie u. a. über die Höhe privater Zuzahlungen für Unterbringung, Verpflegung und Investitionen konkurrieren. Dabei stehen Einrichtungen in öffentlicher und frei-gemeinnütziger Trägerschaft in einem harten Wettbewerb auch mit solchen privaten Anbietern, deren Geldgeber Altenpflegeinrichtungen als Renditeobjekt betrachten. Für alle wächst der Zwang zu unternehmerischem Handeln im Sinne einer Ressourceneffizienz. Verschärft wird die Kostenkonkurrenz in der stationären Pflege auch noch durch eine wenig einleuchtende Besonderheit: Für die Kosten der medizinischen Behandlungspflege kommt hier, anders als in der ambulanten Pflege, die Pflege- und nicht die Krankenversicherung auf. Umso stärker ist der Spardruck, den die Pflegekassen an die stationären Einrichtungen weitergeben.
Erfreulicherweise verfolgt der Gesetzgeber mit den zuletzt verabschiedeten Pflege(personal)stärkungsgesetzen u. a. das Ziel, Wettbewerbsstrategien zu unterbinden, die geringere Zuzahlungen dadurch erreichen wollen, dass sie den Pflegekräften niedrigere Gehälter zahlen. Bestehen bleibt aber noch das Risiko, dass Träger versuchen, durch eine zu geringe Personalausstattung Kostenvorteile zu erzielen. Umso bedeutsamer ist es, dass die aktuelle Bundesregierung ihr Vorhaben, einen bundeseinheitlichen Mindestpersonalschlüssel einzuführen, zügig und mit praxistauglichen Regelungen umsetzt. Die Verordnung, die ab 2019 einige Personaluntergrenzen im Krankenhausbereich vorsieht, ist ein erster wichtiger Schritt, der konsequent auch auf die Altenpflege ausgedehnt werden muss. Um den damit zusammenhängenden weiter steigenden Bedarf an Pflegefachkräften zu decken, ist die Sicherstellung von ausreichenden Ausbildungsplätzen unbedingt zu gewährleisten.
Reformen auf dem Weg zu einer sorgenden Gesellschaft
Als Christinnen und Christen setzen wir uns für eine sorgende Gesellschaft ein. Darin gehört es einerseits für Männer und Frauen zum Leben dazu, Sorgearbeit zu übernehmen. Die Politik setzt die Rahmenbedingungen so, dass ihnen dies auch gut möglich ist. Zum anderen sind für eine sorgende Gesellschaft auch qualitativ hochwertige soziale Dienstleistungen kennzeichnend, die von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in wertgeschätzten Berufen mit auskömmlichen Löhnen erbracht werden. Eine zentrale Herausforderung bei der Entwicklung einer sorgenden Gesellschaft in Deutschland besteht darin, gerechte Pflege zu etablieren. Der Begriff steht für ein Bündel an Zielsetzungen, die sich wechselseitig ergänzen: Alle Pflegebedürftigen haben Zugang zu guter Pflege. Die Pflegearbeit von Angehörigen ist sozial abgesichert und mit Erwerbsarbeit gut vereinbar. Sie wird durch öffentlich (ko-)finanzierte professionelle Dienstleistungen verlässlich unterstützt. Qualitativ hochwertige Pflegeheime und Pflege-Wohn-Gemeinschaften garantieren flächendeckend eine gute wohnortnahe Versorgung. Die Wertschätzung von Sorgearbeit kommt in guten Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen für AltenpflegerInnen und für die MitarbeiterInnen haushaltsbezogener Dienstleistungen zum Ausdruck. In einer sorgenden Gesellschaft, welche die Pflege gerecht organisiert, sind für alle eine öffentlich abgesicherte Angehörigenpflege, die in lokale und soziale Netzwerke eingebunden ist, eine gute professionelle Pflege sowie Mischformen zwischen beiden zugänglich. Die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung werden genutzt, um die Autonomie der Pflegebedürftigen zu stärken und die Arbeitsintensität der Pflegenden zu reduzieren. Ein ganzheit-liches Konzept von Pflege als Kommunikationsgeschehen und das Ineinandergreifen verschiedener Hilfen sind Normalität. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen können sich für die Form der Pflege entscheiden, die ihnen selbst, ihren Beziehungen zueinander und ihren Möglichkeiten am besten entspricht. Wir wünschen uns eine Pflegepolitik, die weitsichtig und mit langem Atem dieses Ziel einer gerechten Pflege in einer sorgenden Gesellschaft verfolgt und sich ihm in mutigen Reformschritten nähert.
Nicht nur der steigende Pflegebedarf, sondern auch die hier skizzierte Weiterentwicklung des Pflegesektors kostet viel Geld, das aus Sozialversicherungsbeiträgen, Steuergeldern und Mitteln privater Vorsorge aufgebracht werden muss. Trotz eines starken Kostenanstiegs im Jahr 2017 liegt der Anteil der öffentlichen Ausgaben für die Pflege am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland gegenwärtig nur auf der Höhe des EU-Durchschnitts (1,6 %). In fast allen anderen westeuropäischen Staaten nördlich der Alpen sind die steuer- oder abgabenfinanzierten Pflegeausgaben wesentlich höher.[10] Will man vermeiden, dass pflegepolitische Reformen zu höheren Lohnzusatzkosten führen, bedarf es zusätzlicher Steuermittel für die Pflege. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben müssen auch gesamtgesellschaftlich finanziert werden. Trotzdem wird nicht alles, was pflegepolitisch sinnvoll ist, aus öffentlichen Mitteln bezahlbar sein. Insofern bedarf es einer Stärkung der privaten Pflegevorsorge.
Zur Begrenzung der gesamtgesellschaftlichen Kosten für die Pflege bedarf es sicher auch in Zukunft auf allen Ebenen des Pflegesystems eines effizienten Einsatzes und sorgsamen Umgangs mit den vorhandenen Ressourcen. Dennoch steht die deutsche Gesellschaft zur Überwindung der gegenwärtigen Probleme in der Pflege vor der Frage, was ihr die Pflege wert ist und für welche Verbesserungen sie zusätzliche finanzielle Mittel aufwenden will. Zugleich muss sich aber auch jede und jeder Einzelne fragen, was ihr und ihm die Versorgung und Betreuung naher Angehöriger zeitlich und finanziell wert ist. Insofern ist es grundsätzlich richtig, wenn finanziell gut situierte Angehörige mittlerer und vor allem oberer Einkommensschichten größere Lasten tragen und einen Teil des Vermögens ihrer Eltern im Falle einer längeren Pflegebedürftigkeit für deren Versorgung und Betreuung aufwenden müssen. Zugleich muss das Pflegerisiko für alle Bürgerinnen und Bürger kalkulierbar bleiben, um die Sorge vor finanziellem Ruin bei Pflegebedürftigkeit im Alter zu reduzieren und die Akzeptanz des Pflegeversicherungssystems zu stärken. Hierzu wäre ein fest kalkulierbarer Eigenbeitrag zu den Gesamtkosten der Pflege im Alter ein geeignetes Instrument.
Aus Sicht des ZdK sind folgende Reformschritte notwendig, um das Pflegesystem zu verbessern, Pflege gerechter zu organisieren und so auf dem Weg zu einer sorgenden Gesellschaft voranzuschreiten:
- Die einzige erfolgversprechende Strategie gegen den sich verschärfenden Mangel an Pflege(fach)kräften ist es, die gesellschaftliche Wertschätzung der AltenpflegerInnen und die Attraktivität der Pflegeberufe zu erhöhen. Die Altenpflege muss bessere Perspektiven in der beruflichen Aus- und Weiterbildung bieten. Zugleich braucht es faire Entgelt- und Dienstzeitenregelungen, die durch Tarifverträge für alle Anbieter verbindlich geregelt werden, sowie eine erheblich großzügigere Personalbemessung, die den Zeitdruck der Pflegekräfte reduziert. Dieser Zeitdruck macht es ihnen heute schwer, wenn nicht unmöglich, gemäß jenen Standards guter Pflege zu arbeiten, die Kern ihres beruflichen Selbstverständnisses sind. Zur Überwindung der sog. "Minutenpflege" und für die Umsetzung eines ganzheitlichen Konzeptes von Pflege muss die Personalausstattung der Pflegeeinrichtungen und -dienste durch höhere, bundeseinheitlich verbindliche Mindeststandards verbessert werden. Dies wäre auch ein wichtiger Beitrag zur Überwindung des schlechten Images von Pflegeheimen. Die Bundesregierung muss die von ihr angekündigten Maßnahmen zur Aufwertung der Pflegeberufe zügig umsetzen und durch weitere konsequente Reformschritte ergänzen. Dazu braucht es auch eine Stärkung der Interessenvertretung der Pflege, insbesondere der Pflegekräfte, auf allen Ebenen. Zudem sollten in allen Bundesländern Pflegekammern eingeführt werden. Damit die Chancen der Digitalisierung genutzt werden, um Pflegekräfte zu entlasten und die Qualität der Pflege zu erhöhen, sind Investitionen in moderne Technik, kontinuierliche Qualifizierungsmaßnahmen für die Beschäftigten und ihr konsequenter Einbezug in Entscheidungen über Technikentwicklung und -anwendung notwendig.
Auch in der Zukunft wird die Angehörigenpflege eine wichtige Rolle im deutschen Pflegesystem spielen. Dazu braucht es verbesserte Konzepte und Angebote zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Pflegearbeit, ähnlich und in vergleichbarem Umfang wie bei der Versorgung und Erziehung kleiner Kinder. Vergleichbare Maßnahmen wie das Elterngeld oder eine reduzierte Vollzeiterwerbstätigkeit beider Partner, die vom Staat gefördert wird, sollte es auch für pflegende Erwerbstätige geben. Eine vielversprechende Neuerung sind auch tarifvertragliche Regelungen, die Erwerbstätigen mit Pflegeverantwortung besondere Möglichkeiten eines reduzierten Vollzeiterwerbs eröffnen. Es ist zu verhindern, dass Angehörige dauerhaft ihre Erwerbsarbeit aufgeben müssen. Vielmehr braucht es eine verbesserte Kombination von Erwerbsarbeit in Teilzeit und Pflegearbeit, damit pflegende Angehörige nicht in Armut abrutschen und Sozialhilfe oder Grundsicherung beantragen müssen. Besondere Bedeutung kommt den Möglichkeiten der Angehörigen zu, nach der Pflegephase von einer Teilzeit- in eine Vollzeiterwerbstätigkeit zurückzukehren. Das jetzt beschlossene Gesetz zur "Brückenteilzeit" ermöglicht dies uneingeschränkt nur Beschäftigten in Betrieben mit mehr als 200 Mitarbeitenden. Damit bleiben die vielen in kleinen Betrieben tätigen Frauen und Männer ausgeschlossen.
- Neben gesetzlichen Regelungen bedarf es auch familienorientierter Arbeitszeit- und Teilzeitangebote der privaten, öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Arbeitgeber. Künftig wird die Attraktivität von Arbeitgebern auch davon abhängen, dass sie im Sinne einer lebenslauforientierten Personalpolitik den Beschäftigten Übergänge von einer Lebensphase in eine andere erleichtern.[11] Zudem müssen Phasen, in denen Angehörige viel Zeit mit Pflege verbringen, bei der Rentenberechnung in der gleichen Weise wie Kindererziehungszeiten berücksichtigt werden. Auch familiäre Pflegeleistungen, die parallel zum Rentenbezug erbracht werden, müssen zu einer Steigerung der Rentenhöhe der Pflegenden führen.[12] Die aktuell geltende Regelung, dass bei einem Verzicht auf einen kleinen Teil der Rente (1 %) Rentenanwartschaften für Pflege angerechnet werden können, muss erhalten und im Sinne des Gesetzes zum flexiblen Übergang von Erwerbsarbeit in den Ruhestand ausgebaut werden.
- Besonders wichtig ist es, die Angehörigen in ihrem Pflegealltag zu stärken und zu entlasten. Bestehende Möglichkeiten (Tagespflege, Kurzzeitpflege, Beratung, Kuraufenthalte etc.) müssen flächendeckend angeboten und besser bekannt gemacht werden. Für die ländlichen Räume bedarf es dafür aufgrund der weiten Wege und der besonderen demographischen Entwicklung neuer Konzepte. Existierende Pflegeangebote müssen insgesamt besser koordiniert und der Zugang zu ihnen z. B. durch digitale Informations- und Beratungsportale bzw. Onlineplattformen erleichtert werden. Damit familiär Pflegende in Zukunft nicht mehr auf sich allein gestellt sind, müssen für sie lokale Netzwerke der professionellen und ehrenamtlichen Unterstützung geknüpft werden. Vielversprechende Konzepte gibt es dazu beispielsweise in den Niederlanden, wie den Pflegedienst 'buurtzorg'. Auch mit Blick auf die Qualitätssicherung familiärer Pflege sollten u. a. Angebote einer regelmäßigen Beratung und Begleitung durch ambulante Pflegedienste ermöglicht bzw. erweitert werden. Die Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen darf nicht zu einer Reduktion des Pflegegelds führen.
- Einen Reformstau gibt es bei den haushaltsbezogenen Dienstleistungen, die in Deutschland bisher überwiegend in "Schwarzarbeit" erbracht werden. Gerade Haushalte, in denen jemand gepflegt wird, bedürfen häufig einer professionellen hauswirtschaftlichen Entlastung. Hier sollten spezifische Angebote verbunden mit einer staatlichen Förderung entwickelt werden, damit im Bereich der haushaltsbezogenen Dienstleistungen qualifizierte und fair bezahlte Arbeitsplätze entstehen und es keine Anreize gibt, diese in "Schwarzarbeit" zu erbringen oder nachzufragen. Für Beschäftigungsverhältnisse in privaten Haushalten bedarf es auch jenseits der 450 Euro-Grenze einer Option, die den bürokratischen Aufwand für die Beteiligten erheblich reduziert. Zudem sollte die im Koalitionsvertrag vereinbarte Zahlung von Zuschüssen für haushaltsnahe Dienstleistungen, beispielsweise orientiert am belgischen Gutscheinmodell, zügig umgesetzt werden.
- Bessere Angebote der Unterstützung pflegender Angehöriger und der Ausbau der neuen Mischformen zwischen stationärer und häuslicher Pflege (z. B. Pflege-Wohngruppen) wären auch ein wichtiger Beitrag dazu, die sog. 24-Stunden-Pflege zurückzudrängen. Vor allem die problematischen Arbeitszeiten der Live-In-Pflegekräfte verdeutlichen die Dringlichkeit pflegepolitischer Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung dieser besonderen Form häuslicher Pflege und einer gesetzlichen Regulierung, die zu besseren Arbeitsbedingungen der Live-In-Pflegekräfte führt. Zum Beispiel könnte der Gesetzgeber nur zertifizierte Vermittlungsagenturen zulassen oder – wie in Österreich – an Pflegehaushalte mit einer Live-In-Pflegekraft ein höheres Pflegegeld auszahlen und die Zertifizierung der Agentur oder – stärker als in Österreich – die Auszahlung des höheren Pflegegeldes an Bedingungen knüpfen. Mit einem dieser Instrumente ist sicher zu stellen, dass die Pflegekräfte sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden und mindestens einmal pro Woche einen vollen freien Tag haben. Zudem sollte immer ein ambulanter Pflegedienst einbezogen werden, der regelmäßig die Beteiligten berät sowie nach der Qualität der Pflege und der Belastung der Pflegekraft schaut. Die dringend erforderliche politische Gestaltung der sog. 24-Stunden-Pflege muss insbesondere darauf zielen, die Arbeitszeiten der Pflegekräfte den gesetzlichen Regelungen für Beschäftigungsverhältnisse anzunähern.
- Ehrenamtliches Engagement ist – egal ob in häuslicher Umgebung, bei neuen Wohnformen oder im stationären Umfeld – Teil gelungener Pflegearrangements und sollte unbedingt gefördert werden. Ehrenamtliche helfen, Pflegebedürftige vor Einsamkeit und Isolation zu bewahren, ihre Würde zu achten und ihnen Wertschätzung entgegenzubringen. Sie können einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung und Gestaltung sorgender Gemeinschaften leisten – auch indem sie sich politisch für die Belange Pflegebedürftiger einsetzen. Ehrenamtliches Engagement darf aber fehlende Arbeitsstellen in der Pflege nicht ersetzen oder zur Entstehung eines mithilfe von Aufwandsentschädigungen getarnten Niedriglohnsektors führen. Anerkennung finden die Engagierten vor allem in einer guten Begleitung und Qualifizierung sowie durch eine problemlose Erstattung ihrer Auslagen. Kirche und Politik sollten stärker als bisher das Ehrenamt in diesem Bereich wertschätzen, begleiten, unterstützen und fördern.
Im Sinne einer – auch im siebten Altenbericht der Bundesregierung geforderten – modernen Subsidiarität braucht es eine weitere Stärkung des sozialen Nahraumes und eine größere Mitverantwortung der Kommunen, um lokale Strukturen der gegenseitigen Sorge und Unterstützung zu entwickeln, zu fördern und zu gestalten. Auch die Kirchengemeinden müssen sich als Teil dieser Netzwerke und als "sorgende Gemeinden" verstehen, die sich an der Gestaltung und Unterstützung eines sorgenden Gemeinwesens vor Ort beteiligen. Dies gilt auch für die Bereitstellung kircheneigener Immobilien für altersgerechte Wohnangebote und Pflegeeinrichtungen. Aktivitäten wie Fahrdienste zu Gottesdiensten, Einbeziehen der Pflegebedürftigen in das Leben der Gemeinde – besonders durch Begegnungen der verschiedenen Generationen – tragen zur Inklusion der Pflegebedürftigen bei. Für die Pastoral im Kontext der Altenhilfe bedarf es dringend neuer, kreativer Ansätze, die den heutigen bzw. sich aktuell abzeichnenden Bedingungen und Möglichkeiten des sich schnell verändernden Pflegesystems Rechnung tragen. Dazu gehört auch, Menschen darin zu unterstützen, sich mit der konkreten Ausgestaltung der möglichen eigenen Pflegebedürftigkeit frühzeitig auseinanderzusetzen. Die existenzielle Dimension von Pflegebedürftigkeit und Pflegearbeit nicht auszublenden, sondern aufzugreifen – darin liegt auch eine besondere Chance für karitative Einrichtungen und Dienste.
Die hier genannten pflegepolitischen Herausforderungen und Reformschritte hin zu einer sorgenden Gesellschaft haben eine Tiefenschicht, die Gegenstand intensiver gesellschaftlicher Debatten werden muss. Sie verlangt die Entwicklung einer gesellschaftlichen Sorgekultur, die den zu starken Fokus der Arbeitsgesellschaft auf die Erwerbsarbeit und die berufliche Karriere überwindet. Die Notwendigkeit, die Beschwerlichkeit und die erfüllenden Erfahrungen von Sorgearbeit führen derzeit ein Schattendasein – auch bei gesellschaftlichen und politischen Debatten über die Gesellschaft, in der wir in Zukunft leben wollen. Aber verlässliche soziale Beziehungen sowie psychische und physische Gesundheit sind eine unerlässliche Grundlage unseres Lebens und Arbeitens. Damit wir diese Voraussetzungen dauerhaft erfüllen können, braucht es Zeit und Muße – und braucht es Sorgearbeit. Eine Gesellschaft, die Sorgearbeit vernachlässigt, lebt von ihrer Substanz.
Vor diesem Hintergrund lädt das ZdK alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte zu einem Dialog über die zukunftsfähige Weiterentwicklung der Pflege und über das Ziel einer gesellschaftlichen Sorgekultur ein.
[1] Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2015, Wiesbaden 2017, S. 7.
[2] Quelle: Statistisches Bundesamtes: "Pflegestatistik – Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung – Deutschlandergebnisse.", Pflegestatistiken von 1999 bis 2015.
[3] Ab 2017 gilt in jeder vollstationären Pflegeeinrichtung ein einheitlicher pflegebedingter Eigenanteil für die Pflegegrade 2 bis 5. Hinzu kommen Zuzahlungen für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen, die jedes Pflegeheim individuell festlegt.
[4] Die von vielen Agenturen vermittelten Live-In-Pflegekräfte arbeiten nur als Scheinselbständige oder in einer fehlerhaften Entsendung und sind damit illegal beschäftigt.
[5] CariFair u. a. des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn und vij FairCare im Verbund der Diakonie Baden-Württemberg.
[6] Datengrundlage: Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2015, S. 14, 23 (ohne Auszubildende, Praktikanten etc.).
[7] Datengrundlage: Ebd., S. 16, 26; Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2003. Deutschlandergebnisse, S. 15, 23 (jeweils Vollzeitäquivalente).
[8] Vgl. den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (Bundestag Drucksache 18/12840), Berlin 2017, S. 84, 93, 142-153.
[9] Vgl. u. a. ver.di, Arbeitsethos hoch, Arbeitshetze massiv, Bezahlung völlig unangemessen. Beschäftigte in Pflegeberufen. Ergebnisse einer Sonderauswertung der bundesweiten Repräsentativumfrage zum DGB-Index Gute Arbeit 2012 (Arbeitsberichterstattung aus der Sicht der Beschäftigten 7), Berlin 2013, S. 2.
[10] European Commission: The 2018 Ageing Report, Brüssel 2018, S. 152.
[11] Zur Bedeutung der Aufgabe, Übergänge und Neuanfänge im Lebenslauf abzusichern, vgl.: ZdK (2013): Soziale Lebenslaufpolitik: Zukunft wagen in einer Gesellschaft des langen Lebens.
[12] Siehe hierzu: ZdK (2016): Generationengerechtigkeit, Solidarität und Eigenvorsorge – Sozialethische Anforderungen an eine Alterssicherung in der Lebens- und Arbeitswelt von morgen.