"Gerechte Pflege in einer sorgenden Gesellschaft – Zur Zukunft der Pflegearbeit in Deutschland"
Einführung in den Erklärungstext "Gerechte Pflege in einer sorgenden Gesellschaft – Zur Zukunft der Pflegearbeit in Deutschland" von Prof. Dr. Bernhard Emunds im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich für die Möglichkeit, Sie in den Textentwurf der ZdK-Erklärung "Gerechte Pflege in einer sorgenden Gesellschaft" einzuführen. Ich werde in vier Schritten vorgehen. Zuerst zeige ich auf, dass sich in der Altenpflege wichtige gesellschaftspolitische Herausforderungen der Gegenwart bündeln (1). Dann skizziere ich das besondere Profil des Entwurfstextes (2) und gebe Ihnen einen Überblick über seine Struktur und einige seiner Inhalte (3). Schließlich möchte ich verdeutlichen, dass der Text auf drei Ebenen jeweils eine zentrale "Botschaft" hat (4).
(1) Natürlich gibt es neben der Pflege aktuell auch noch andere drängende gesellschaftspolitische Herausforderungen. Aber beinahe alle diese Herausforderungen spielen in der Pflege eine Rolle: Die demographische Herausforderung zeigt sich hier in der deutlichen Zunahme der Pflegebedürftigen. Die Arbeit der Zukunft wird in hohem Maße eine Arbeit am Menschen sein. Die Produktivitätszuwächse, die viele von der Digitalisierung der Wertschöpfung erwarten, führen wahrscheinlich zu einem Strukturwandel der Erwerbsarbeit, mit dem das Gewicht der personenbezogenen Dienstleistungen immer weiter steigt. Die Pflegearbeit ist eine personenbezogene Dienstleistung, die besonders schnell wächst. Mit neuen digitalen Technologien werden die Zeit- und Raumstrukturen unserer Erwerbsarbeit und damit des ganzen Alltags verändert – eine Entwicklung, die in der Pflege die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Angehörigenpflege transformieren könnte. Und schließlich gibt es dank Digitalisierung auch neue Möglichkeiten, Pflegende zu entlasten. Die Internationalisierung der Arbeitsteilung und die Arbeitsmigration werden hier sichtbar als Migration von Pflegekräften und Haushaltshilfen aus Süd- sowie aus Mittel- und Osteuropa in deutsche Pflegeheime und Privathaushalte. Ähnlich wie bei der Alterssicherung so stößt die Finanzierung des Sozialstaats über lohnbezogene Sozialversicherungsbeiträge auch bei der Pflege an ihre Grenzen.
Weil sich im Pflegethema aktuelle Herausforderungen der Gesellschaftspolitik bündeln, kommt der Pflege-Text des ZdK zur rechten Zeit. Zum richtigen Zeitpunkt kommt er aber auch, weil seit dem letzten Bundestagswahlkampf viel über Pflegearbeit diskutiert wird. Mit dem Text setzt das ZdK dabei einen eigenen Akzent. Im Mittelpunkt der "Konzertierten Aktion Pflege" und der aktuellen pflegepolitischen Diskussionen stehen die professionellen Pflegekräfte, die in den Heimen, Pflegewohngruppen und ambulanten Diensten arbeiten; das ZdK dagegen wendet sein Hauptaugenmerk der informellen Pflege zuhause zu.
(2) Der Textentwurf hat ein besonderes Profil. Drei Punkte möchte ich an dieser Stelle hervorheben. Erstens geht es in dem Text durchgehend um die Perspektive derer, die die Pflegearbeit leisten; es geht um ihre Lebens- und Entfaltungschancen und ihre Belastungen. Die Perspektive derer, die gepflegt werden, greift der Text nur gelegentlich auf. In einer wissenschaftlichen Debatte würde der Text weniger einer allgemeinen Ethik der Pflege zugeordnet, als einer Ethik der Pflegearbeit. Das ist eindeutig eine Beschränkung. Der Text hat insofern seine Grenzen. Aber es sind bewusst gesetzte Grenzen: Ohne einen klaren Fokus – und die damit verbundene Beschränkung – kann man zu dem großen Thema "Pflege" keine argumentativ überzeugende Erklärung schreiben. Angesichts der dramatischen Problemlagen im Bereich der Pflege wird der heute zur Debatte stehende Text sicher nicht die letzte pflegepolitische Erklärung des ZdK sein. Zweitens kommt der Entwurf nicht als klassischer Antragstext daher, der ausschließlich auf die abschließenden politischen Forderungen hin geschrieben wäre. Vielmehr enthält die Vorlage einige räsonierende Passagen – Passagen der persönlichen Reflexion, in denen die Perspektiven der Pflegenden, vor allem die schwierigen Orientierungsfragen von Angehörigen eingeholt werden. Drittens ist der Text das Ergebnis eines Diskussionsprozesses. Im Juni 2017 wurden weite Passagen des nun vorliegenden Textes im Hauptausschuss des ZdK als Impulspapier vorgestellt. An diesem Impulspapier arbeiteten Frau Dr. Gloria Behrens, Frau Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins, Frau Dr. Heide Mertens (kfd), Frau Staatsministerin a.D. Dr. Monika Stolz und Herr Stefan Becker (Familienbund) mit. Die Idee, die dann umgesetzt wurde, bestand darin, durch das Impulspapier vor allem mit katholischen Organisationen der professionellen und der familiären Pflege ins Gespräch zu kommen. Tatsächlich brachten diese ihre Anliegen in Stellungnahmen und schließlich im Januar 2018 bei einem Expert*innenhearing in Frankfurt am Main zur Sprache. Viele Ergebnisse des Hearings gingen dann in die Weiterentwicklung des Impulspapieres zu dem nun vorliegenden Antragstext ein. Neben den bereits Genannten brachten nun auch Frau Eva Maria Welskop-Deffaa (Deutscher Caritasverband) und Herr Karl-Sebastian Schulte (Zentralverband des Deutschen Handwerks) ihre Expertise ein. Von Seiten des Generalsekretariats hat Julia Seeberg den ganzen Prozess bis zum Sommer 2018 mit viel Einsatz und großem Sachverstand begleitet. Ihr verlässliches Engagement setzt nun Frau Inga Market fort. Als Sprecherin des Sachbereichs "Wirtschaft und Soziales" hat Frau Hildegard Müller den Prozess tatkräftig und mit diplomatischem Geschick hervorragend unterstützt. Allen Beteiligten möchte ich herzlich für das hohe Engagement und die gute Zusammenarbeit danken!
(3) Nun gebe ich Ihnen einen kurzen Überblick über die Struktur und einige zentrale Inhalte des Textes. Der Antragstext besteht nach einem sozialethischen Einstieg ins Thema aus drei Teilen, in denen jeweils die Anliegen einer Gruppe Pflegender aufgegriffen werden, und einem Schlussteil, der die Reformperspektive einer "sorgenden Gesellschaft" entfaltet und in pflegepolitischen Forderungen konkretisiert.
In dem Abschnitt über die Angehörigenpflege wird die weite Verbreitung der Angehörigenpflege als Ausdruck lebendiger Sorgebereitschaft und familiärer Solidarität gewürdigt. Zugleich müssen aber auch die großen Belastungen vieler pflegender Angehöriger in den Blick genommen werden: gesundheitliche Probleme, soziale Isolation, finanzielle Sorgen. Für pflegende Angehörige gibt es zwar Entlastungsangebote, die z.T. aus der Pflegeversicherung bezahlt werden; aber gerade im ländlichen Raum erreichen diese viele Betroffene nicht. Wegen des sinkenden Pflegepotenzials der Familien stößt der für das deutsche Pflegesystem zentrale Vorrang der häuslichen Pflege an Grenzen. So wird mit Blick auf die innerkirchliche Diskussion formuliert, dass Angehörige dem Vierten Gebot, Vater und Mutter zu ehren, auch dann entsprechen können, wenn sie sich in Absprache mit den Pflegebedürftigen für ein Pflegeheim oder eine Pflegewohngruppe entscheiden.
Zum ersten Mal behandelt ein kirchlicher Text ausführlich das arbeitsrechtliche und ethische Problem der sog. 24-Stunden-Pflege. Neben dem Defizit, dass es zumeist keine gültigen Verträge gibt, wird die Problematik der beinahe völlig entgrenzten Arbeitszeit herausgestellt. Die ethischen Fragen, denen sich Angehörige in diesem Zusammenhang stellen sollten, werden benannt; besonders betont wird das absolute, menschenrechtlich garantierte Minimum, dass es Woche für Woche mindestens einen vollen freien Tag geben muss.
In dem Abschnitt über die Pflege durch professionelle Pflegekräfte in Heimen, Pflegewohngruppen und durch ambulante Dienste spielt natürlich der Personal- und Fachkräftemangel eine zentrale Rolle. Für die Pflegekräfte ist zumeist eine hohe berufliche Motivation kennzeichnend, obwohl die konkreten Arbeitsbedingungen häufig schlecht sind. Diese Problematik wird in den Kontext der personenbezogenen Dienstleistungen insgesamt gestellt – eine Großbranche, die seit ein paar Jahren stark wächst, in der aber die berufliche Anerkennung der Erwerbstätigen vielfach prekär ist. Die viel zu knappe Personalbemessung, die auf hohen Spardruck zurückgeht, beeinträchtigt die Qualität der Pflege und zwingt die ausgebildeten Pflegekräfte dazu, im Widerspruch zu ihren beruflichen Standards guter Pflege zu arbeiten.
Der reformpolitische Abschnitt schließlich skizziert die Zielperspektiven einer sorgenden Gesellschaft und einer gerechten Pflege, die ich nachher noch vorstellen werde. Zudem werden in sechs Ziffern konkrete pflegepolitische Reformschritte skizziert. Bei der professionellen Pflege (Ziffer 1) werden – gegen den Missstand der "Minutenpflege" – verpflichtende Mindeststandards der Personalausstattung gefordert. Für pflegende Angehörige (Ziffern 2 und 3) werden Reformvorschläge unterbreitet, die auf eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Pflege zielen, und die Angehörigen in ihrem Pflegealltag entlasten. Bei den Haushaltsnahen Dienstleistungen, welche die pflegenden Angehörigen gut entlasten könnten, in Deutschland aber vor allem in Schwarzarbeit erbracht werden, bekräftigt der Text (in Ziffer 4) die Notwendigkeit fairer Arbeitsplätze, die mithilfe staatlicher Zuschüsse für breite Kreise bezahlbar werden sollen. Bei der sog. 24-Stunden-Pflege (Ziffer 5) wird darauf gedrängt, die miserablen Arbeitsverhältnisse zu verbessern und vor allem die Arbeitszeiten den geltenden gesetzlichen Regelungen für Beschäftigungsverhältnisse anzunähern. Als ersten Schritt schlägt der Text vor, die Einhaltung des menschenrechtlichen Mindeststandards von einem vollen freien Tag pro Woche durchzusetzen. Dazu könnte z.B. die Vermittlung durch zertifizierte Agenturen verbindlich vorgeschrieben oder es könnte ein höheres Pflegegeld eingeführt werden, dessen Auszahlung an entsprechende Konditionen gebunden wäre. Die ehrenamtliche Unterstützung der Pflege soll (so Ziffer 6) durch professionelle Begleitung, Qualifizierung und problemlose Erstattung von Auslagen gefördert werden.
(4) Abschließend möchte ich Ihnen vorstellen, welche zentrale "message" der Text auf drei wichtigen Ebenen der Diskussion verfolgt. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene markiert der programmatische Begriff der "sorgenden Gesellschaft" die zentrale Botschaft. Sorgearbeit (bzw. Carearbeit) steht für die Haushaltsarbeit und für das Umsorgen derer, die auf Hilfe angewiesen sind. Das Ziel "sorgende Gesellschaft" weist einerseits über die Förderung von Ehrenamt im Nahbereich (Schlagwort "sorgende Gemeinschaften"), andererseits über sozialstaatlich organisierte Dienstleistungen hinaus. Diese beiden Aspekte sind wichtig, aber sie reichen nicht aus. Denn darüber hinaus geht es um eine Gesellschaft, die ihre Fixierung auf die Erwerbsarbeit überwindet und Sorgearbeit gerecht organisiert. In einer sorgenden Gesellschaft – heißt es zu Beginn des reformpolitischen Abschnitts – "gehört es einerseits für Männer und Frauen zum Leben dazu, Sorgearbeit zu übernehmen. Die Politik setzt die Rahmenbedingungen so, dass ihnen dies auch gut möglich ist. Zum anderen sind für eine sorgende Gesellschaft auch qualitativ hochwertige soziale Dienstleistungen kennzeichnend, die von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in wertgeschätzten Berufen mit auskömmlichen Löhnen erbracht werden" (Z. 320-325).
Auf der Ebene der kirchlichen Meinungsbildung plädiert der Text für die Wahrnehmung der familiären Realitäten von heute. Wie andere Texte des ZdK wendet er sich gegen ein idealisiertes Familien- und ein traditionalistisches Frauenbild. Denn solche Positionen überfordern die Familien und insbesondere die Frauen, indem sie ihnen ohne Einschränkung alle Sorgearbeit zuweisen. Deshalb betont der Text einerseits die Bedeutung familiärer Sorgearbeit und spricht andererseits deutlich aus, dass unter den gegebenen Bedingungen unserer Erwerbsarbeitsgesellschaft die Möglichkeiten der Familien, diese zu erbringen, begrenzt sind. Auf dieser Linie plädiert der Textentwurf für die Entlastung pflegender Angehöriger z.B. durch die staatliche Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen und wendet sich gegen die moralische Abwertung von Angehörigen-Entscheidungen für stationäre Pflege oder für eine Pflege-Wohngruppe als "Ausdruck von Hartherzigkeit".
Dem entspricht, dass der Textentwurf auf der Ebene der pflegepolitischen Debatte für Optionalität plädiert: Pflegebedürftige und ihre Familien sollen die Wahl haben zwischen verschiedenen guten Formen der Pflege, also zwischen einer abgesicherten familiären Pflege, guten Pflegeheimen und guten Pflege-Wohn-Gemeinschaften. Der Text wendet sich damit einerseits gegen eine Strategie, die ausschließlich auf stationäre Versorgung setzt, um beide Geschlechter ohne Einschränkungen Vollzeit in die Erwerbsarbeit zu integrieren. Mit Blick auf heutige Familienformen kritisiert er andererseits die Vorstellung, Pflege gehöre unter allen Umständen in die Familie. An der bereits zitierten Stelle zu Beginn des Reform-Abschnitts fasst der Text dies alles unter dem Begriff "gerechte Pflege" zusammen. Dieser stehe "für ein Bündel an Zielsetzungen, die sich wechselseitig ergänzen: Alle Pflegebedürftigen haben Zugang zu guter Pflege. Die Pflegearbeit von Angehörigen ist sozial abgesichert und mit Erwerbsarbeit gut vereinbar. Sie wird durch öffentlich (ko-)finanzierte professionelle Dienstleistungen verlässlich unterstützt. Qualitativ hochwertige Pflegeheime und Pflege-Wohn-Gemeinschaften garantieren flächendeckend eine gute wohnortnahe Versorgung. Die Wertschätzung von Sorgearbeit kommt in guten Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen für AltenpflegerInnen und für die MitarbeiterInnen haushaltsbezogener Dienstleistungen zum Ausdruck. In einer sorgenden Gesellschaft, welche die Pflege gerecht organisiert, sind für alle eine öffentlich abgesicherte Angehörigenpflege, die in lokale und soziale Netzwerke eingebunden ist, eine gute professionelle Pflege sowie Mischformen zwischen beiden zugänglich" (Z. 326-336).
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Prof. Dr. Bernhard Emunds Mitglied im Sachbereich 3 "Wirtschaft und Soziales", Leitung der sachbereichsinternen Untergruppe zum Antragstext