Impulsreferat Erinnern für die Zukunft – vom Wert des Gedächtnisses für eine demokratische Kultur

von Marianne Birthler im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren,

nur wenige hundert Meter westlich von hier verlief die Berliner Mauer. Man muss schon genau hinschauen, um ihren Verlauf zu rekonstruieren, zum Glück gibt es den Doppelstreifen aus Pflastersteinen, der ihn markiert. Im kommenden Jahr liegt der Fall der Mauer so viele Jahre zurück wie sie stand. Ich kann es kaum glauben, so gegenwärtig ist mir der Abend des 9. November 1989, und fast immer, wenn ich heute auf meinem Weg durch die Stadt die frühere Grenze passiere, macht mein Herz einen kleinen Hüpfer. Das ist meine Stadt, und ich kann gehen, wohin ich möchte. 

Sie alle erinnern sich, wo sie gerade waren und was Sie gerade taten, als die Nachricht von der offenen Grenze Sie erreichte. Die Bilder dieser Nacht gingen um die Welt und wurden zu Ikonen. So stark sind diese Bilder und Erinnerungen, dass der Fall der Mauer vielfach als das Ereignis gilt, das uns, die Menschen in der DDR, befreite. Und in gewisser Hinsicht stimmt das ja auch: Endlich waren wir nicht mehr eingesperrt, konnten über die Oberbaumbrücke rüber,  mussten, wenn wir nach Potsdam wollten, nicht mehr um West-Berlin herum fahren. Zu unserer Welt gehörten jetzt auch Schöneberg und München, Italien und New York.

Tatsächlich aber stand nicht der 9. November 1989 am Anfang unserer Freiheit. Der Fall der Mauer war das Ergebnis einer Selbstbefreiung. Die SED hatte kapituliert: Einerseits angesichts der vielen, die ihre Angst hinter sich gelassen hatten und zu Tausenden demonstrierten, andererseits vor der Tatsache, dass immer mehr Menschen in den Westen wollten und dies lautstark zum Ausdruck brachten. Als Datum dieser Kapitulation gilt zu Recht der 9. Oktober.

Ich habe diesen Tag in der Gethsemanekirche erlebt. Seit Wochen versammelten sich dort Abend für Abend tausende Menschen zu Fürbittandachten, um sich zu informieren und gegenseitig zu stärken. Hier war der Ort, an dem sie sich sicher fühlten, eine feste Burg, manche übernachteten sogar in der Kirche. Drei Tage zuvor, am Abend des 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, waren Überwachung und Kontrolle in blanke Gewalt umgeschlagen. Auf Geheiß der SED wurden seitdem Demonstranten von Polizei und Staatssicherheit verprügelt und gejagt, Hunderte inhaftiert.

Wir bereiteten uns auf die abendliche Fürbittandacht vor – und auf eine weitere Nacht der Gewalt und der Verhaftungen. Unsere größte Sorge galt an diesem Abend aber nicht Berlin, sondern Leipzig – dort sollte heute wieder eine Montagsdemonstration stattfinden, Was wir am Telefon von unseren Leipziger Freunden hörten war beängstigend: Truppenbewegungen seien beobachtet worden, Schulen und Kitas seien geschlossen, die Krankenhäuser hätten Urlaubssperre verhängt und Blutkonserven angefordert. Dennoch wurden Zehntausende Menschen zu Friedensgebeten in vier großen Kirchen der Stadt erwartet. Danach würden Sie auf die Straße gehen und demonstrieren.

Die Spannung in der Berliner Gethsemanekirche war mit Händen zu greifen. Miteinander fühlten wir uns einigermaßen sicher. Aber vor dem inneren Auge vieler erschienen schreckliche Bilder von Maschinengewehren und Toten, Bilder, die wir bisher nur aus Nachrichten und Filmen kannten. Doch das behielt jeder für sich.

Dann irgendwann trat Till Böttcher ans Mikrofon, der bis dahin am Telefon des Gemeindebüros auf Nachrichten aus Leipzig gewartet hatte. Zigtausende, so berichtete er, demonstrierten im Leipziger Zentrum. Unbehelligt.
Wie sich das angefühlt hatte: Aus der Kirche zu treten, sich unterzuhaken und loszulaufen, trotz der großen Gefahr – die Berichte darüber hörten wir erst später.

Jubel in der Gethsemanekirche. Wir lachten und umarmten uns. Dann öffnete jemand die Kirchentür. Auch hier hatten sich Polizei und Sicherheit zurückgezogen. Stattdessen brannten Kerzen rundum auf der Straße – Bewohner hatten sie dort aufgestellt. Zwei von uns stiegen auf den Kirchturm und läuteten die Glocken. Es war nicht zu glauben: Wir hatten es geschafft.

Freiheit – das Wort wird für mich immer mit der Erinnerung an diesen Abend verknüpft sein, mit dem Gefühl von Erleichterung und Jubel. Wir hatten es geschafft – die Mächtigen waren auf dem Rückzug. Einen Monat später fiel die Mauer, ein Jahr später war die DDR Geschichte.

Sie werden es ahnen: Ich habe sie auf diese kleine Zeitreise nicht aus nostalgischen Gründen mitgenommen. Vielmehr möchte ich mit Ihnen über den Zusammenhang von Erinnerung und politischer Kultur nachdenken.

Eine demokratische Kultur des Erinnerns ist mehr als "Vergangenheitsbewältigung" oder "Aufarbeitung". Sie geht erstens davon aus, dass unsere Geschichte Teil unseres Selbst ist, und dass die Vergangenheit zu verleugnen, immer auch heißt, sich selbst zu verleugnen. Deshalb schließt echtes Selbst-Bewusstsein die eigene Geschichte ein - das gilt für Individuen ebenso wie für Gesellschaften. Und zweitens gehört zu ihr das Wissen um die Wirkungsmacht der Geschichte – im Guten wie im Bösen.

Selbstbewusst und glaubwürdig für die Freiheit einzutreten und demokratische Tugenden und Verhalten fördern zu wollen, setzt voraus, sich aufrichtig der eigenen Vergangenheit zu stellen und der Wahrheit so nahezukommen, wie wir es vermögen.

Eine demokratische Erinnerungskultur blendet deshalb die dunklen Seiten unserer Geschichte nicht aus, erlaubt uns aber und ermutigt uns dazu, uns an guten Erinnerungen zu freuen und vielleicht sogar stolz darauf zu sein.

Wie im persönlichen Leben ist es auch beim Rückblick auf die Geschichte verlockend, sich beim Erinnern auf das Gute und Schöne zu beschränken – auf die gelungene Revolution, den Mauerfall. Auf große und kleine Heldengeschichten.

Weitaus schwieriger ist es dagegen, sich dem Leid zuzuwenden, das wir selber erfahren oder anderen zugefügt haben, der eigenen Verantwortung, dem kleinen oder großen Verrat an der Freiheit. Das tut weh und ist mit Scham verbunden. Deshalb ist die Versuchung groß, die schmerzhafte Seite der Vergangenheit auszublenden.

Erst recht gilt das für Regime, die die Vergangenheit hemmungslos für ihren Machterhalt instrumentalisieren. Doch das halbe, das selektive Erinnern setzt im Grunde die Logik der Diktatur fort. "Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge" sagt Wolf Biermann.

Die SED fürchtete – wie die Mächtigen jeder Diktatur – die Wahrheit mehr als alles andere. Wer versuchte, wie Václav Havel es ausdrückte, "in der Wahrheit zu leben", wurde zu ihrem Feind. Freiheit und Lüge schließen einander aus.

Leider gibt es auch heute Gründe, die Wahrheit zu verteidigen – hierzulande ebenso wie weltweit. Wenn Politiker, alle Tatsachen verachtend, Unwahrheiten verbreiten, und dann jene, die die Lügen beim Namen nennen, beschimpfen und bedrohen, dann ist das nicht nur ein Mangel an politischer Kultur, sondern eine reale Gefahr für Recht und Freiheit.

Vor mehr als einem Vierteljahrhundert wurde ein neues Kapitel im Buch der europäischen Geschichte aufgeschlagen. Der Sturz der kommunistischen Herrschaft und Fremdherrschaft im Ostblock war ein historisches Ereignis. Das Leben von Millionen Menschen in Europa wurde auf den Kopf oder besser: wieder auf die Füße gestellt. Für einen kurzen Moment der Geschichte schien uns, den Europäern, die Welt in Ordnung.

Das scheint lang her. Heute ist Europa, die große Hoffnung der Jahrtausendwende, tagtäglich Gegenstand sorgenvoller bis alarmierender Analysen und Kommentare. Verunsicherung und Ängste beherrschen Teile der öffentlichen Debatte. Fremdenfeindlichkeit, Abgrenzung und Hass sind nicht mehr nur Sache der Stammtische, sondern sickern in den bürgerlichen Diskurs ein. Nicht wenige Politiker tragen dazu bei: entweder, indem sie opportunistisch dem dumpfen Grollen folgen, anstatt ihm mit klarer Haltung zu begegnen, oder als Akteure, die mit deutlich antieuropäischen und nationalistischen Tönen, mit der Missachtung von Minderheiten oder der Einschränkung von Pressefreiheit unsere offenen Gesellschaften untergraben. Unsere europäischen Grundwerte Freiheit und Demokratie scheinen in die Defensive zu geraten.

Es scheint auf den ersten Blick paradox, dass auch einige Länder des früheren Ostblocks anfällig für Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu sein scheinen. Müssten nicht gerade jene Gesellschaften, die jahrzehntelang Diktaturen erlitten hatten, zu glühenden Anhängern von Freiheit und Demokratie geworden sein?

Angesichts der europakritischen und ultrakonservativen Entwicklung vor allem in Ungarn und Polen, angesichts der Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien, und angesichts der deprimierenden Ergebnisse aller bisherigen Versuche, eine tragfähige gesamteuropäische Antwort auf das Flüchtlingsdrama zu finden, muten die Erinnerungen an die Freiheitsrevolutionen im kommunistisch beherrschten Teil Europas im Jahr 1989 fast wie Nachrichten aus einer untergegangenen Welt an. Umso wichtiger ist die Erinnerung:

In den von Naziherrschaft und Krieg geschwächten Ländern hatten vier Dekaden kommunistischer Diktatur verheerende Folgen. Für die Gesellschaften, für Wirtschaft und Kultur und für zahllose Menschen, die als politische Gegner verfolgt wurden oder ihr Leben einfach nur deswegen lassen mussten, weil sie den Machthabern im Wege waren.

Neben den offensichtlichen Folgen autoritärer Herrschaft, Unterdrückung und Misswirtschaft gibt es auch weniger sichtbare, aber dafür langwirkende Schäden: Jahrzehntelang in abgeschotteten Systemen zu leben, in denen nicht Gleichheit, sondern Gleichmacherei regierte, in denen selbstbewusste Bürgerlichkeit, Eigenverantwortung und Eigensinn als verdächtig galten und verfolgt wurden, in denen die Begegnung mit anderen Kulturen, Religionen und Überzeugungen eine seltene Ausnahme und ein Privileg war – das beschädigt nicht nur Individuen, sondern auch eine Gesellschaft als Ganzes. Und es wirkt bis heute nach. Es wäre naiv zu glauben, dass die Folgen jahrzehntelanger Isolation und Indoktrination mit einem Systemwechsel abgeschüttelt werden könnten wie ein alter Mantel.

Sich mit diesem Thema zu beschäftigen, ist am schwersten. Zumeist richtet sich die Aufmerksamkeit entweder auf die Opfer der Diktatur oder auf die Verantwortlichen und die Täter. Das Leben der Bevölkerungsmehrheit und der Alltag einer Diktatur, die Anpassungszwänge, das Schweigen, der alltägliche Verrat an Mitmenschen und den eigenen Überzeugungen, das Misstrauen – darüber wird in postdiktatorischen Gesellschaften kaum gesprochen, selten in den Schulen, und schon gar nicht am Abendbrottisch in der Familie.

Dabei ist es doch von allergrößtem Interesse zu untersuchen, wie eine lebendige Gesellschaft allmählich erstarrt und wie Menschen zu Untertanen werden. Und welchen Schaden die Seele dabei nimmt. Woher sollen denn nach Jahrzehnten der Unfreiheit die selbstbewussten, starken Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft kommen, die stolzen Citoyens, die ihre Freiheit wertschätzen und bereit sind, sie gegen die Zumutungen mancher Politiker verteidigen?

Gottlob gibt es neben der Erinnerung an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts auch eine andere Tradition. Zu Recht erinnern wir nicht nur an die Schrecken von Nationalsozialismus und Krieg, sondern auch daran, dass Menschen ihr Leben im Widerstand riskierten und viel zu oft auch lassen mussten.

Das gilt auch für die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft und Fremdherrschaft in Europa: Sie waren nicht nur von Unterdrückung, Gewalt und Untertanengeist gekennzeichnet, sondern ebenso vom Widerstand und von der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Immer wieder standen Menschen gegen Diktaturen auf – und immer wieder wurde ihr Protest blutig niedergeschlagen: Nicht nur 1956 in Ungarn, 1953 in der DDR und 1968 in der Tschechoslowakei. Viele dieser Aufstände finden sich in keinem Geschichtsbuch. Und das, obwohl die antikommunistischen Freiheitsbewegungen zum Besten gehören, was die europäische Freiheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts aufzubieten hat. Sie stehen in der jahrhundertealten europäischen Tradition des Humanismus, der Aufklärung und der Menschenrechte, die in Krakau und Prag ebenso lebendig und wirksam war wie in Wien oder Amsterdam. Die heute oft als westlich apostrophierten Werte haben in einer historischen Perspektive gesamteuropäische Wurzeln.

In diesem Jahr, 2017, jährt sich das Epochenjahr 1917 zum hundertsten Mal. Einhundert Jahre Kommunismus: Anlass genug, mit dem Blick nicht nur auf einzelne Länder, sondern auf ganz Europa, zu bilanzieren, welche verheerende Katastrophe das kommunistische Experiment war, das vor hundert Jahren seinen Anfang nahm, und wie viel Millionen Menschenleben es gekostet hat.

Es ist heute, zumindest in Deutschland, umstritten, ob Nationalsozialismus und Kommunismus, die totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts, in einem Atemzug genannt werden dürfen. In den Ländern Mittel- und Osteuropas, die sowohl unter sowjetischer als auch unter nationalsozialistischer Herrschaft bluteten, wird das verständlicherweise anders gesehen.

Als am 10. April 2005 in Weimar an die Befreiung der Konzentrationslager vor 60 Jahren erinnert wurde, hielt der Spanier Jorge Semprun, ehemaliger Häftling im nahe gelegenen KZ Buchenwald, die Gedenkrede. Er reagierte bei dieser Gelegenheit auf die immer wieder auftretenden Konflikte in Gedenken an die nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen. Jorge Semprun dachte europäisch und wusste, wie viel für Europa davon abhängt, dass im europäischen Geschichtsbewusstsein jedes Unrecht seinen Platz beansprucht und Würdigung verdient. Ich zitiere:

"Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa - dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war - kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.

Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulags in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die "Erzählungen aus Kolyma" von Warlam Schalamow gerückt wurden."

Zwölf Jahre später ist festzustellen: Die Hoffnung Sempruns hat sich bisher nicht erfüllt. Die vier Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft, ihre Begleiterscheinungen und ihre Folgen werden in Westeuropa zumeist ebenso unterschätzt wie der freiheitliche Widerstand dagegen. Von einer umfassenden Sicht auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts sind wir noch ein gutes Stück entfernt.

Dagegen sind die Diskussionen um Europas Zukunft allgegenwärtig. Die Probleme und Herausforderungen, die auf eine Lösung warten, erscheinen erdrückend. Immer wieder zeigt sich, dass es insbesondere in Krisensituationen schwer ist, innerhalb der Europäischen Union zu einer gemeinsamen Haltung zu gelangen – in der internationalen Finanzkrise ebenso wie in der Debatte um die griechische Schuldenkrise, in der Haltung gegenüber Russland nach der Annexion der Krim und ganz aktuell in der Flüchtlingsfrage.

Nationale, nationalistische oder manchmal auch nur persönliche Machtinteressen stehen dem Versuch entgegen, gemeinsam und entschieden zur Lösung der großen Gegenwartsfragen beizutragen. Dafür gibt es viele Gründe, einer davon mag sein, dass Europa am Ende doch nur als eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzregion angesehen wird und weniger als eine Wertegemeinschaft. 

Und damit wird der Zusammenhang zu dem vorhin Gesagten überdeutlich: Weil ein gemeinsames Wertefundament – Freiheit, Demokratie, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit und Unverletzlichkeit der Würde eines jeden Menschen – für eine humane europäische Zukunft so wichtig ist, können wir es uns nicht leisten, auf die Vergangenheit zu verzichten:

In der Geschichte der europäischen Freiheitsbewegungen des 20. Jahrhunderts spiegeln sich die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit ebenso wie der Mut und die Beharrlichkeit, mit der sie darum gekämpft haben. Wenn Europa in dieser Geschichte sein wertvollstes Erbe sähe, dem gegenüber wir auch künftig verpflichtet sind, müssten wir uns um die freiheitliche Grundausstattung Europas etwas weniger Sorgen machen.

Der Beweis, dass historisches Wissen widerstandsfähig gegen zerstörerische Hass-Propaganda und das politische Geschäft mit der Angst macht, ist freilich noch nicht erbracht. Zu vielfältig und teilweise auch noch unbekannt sind die politischen, sozialen, moralischen und seelischen Bedingungen, die Menschen dafür anfällig machen. Umso wichtiger ist deshalb, dass dieser zerstörerischen Kraft Widerstand entgegengesetzt wird: Von uns allen natürlich, aber insbesondere von jenen, die in besonderer Verantwortung stehen: den Lehrkräften, den Journalisten und Politikern, den Geistlichen, den Künstlern, Sportlern, Vorgesetzten und den Verwaltungsangestellten. Sie dürfen es angesichts von Gewalt, Hass und Lügen nicht beim Entsetzen bewenden lassen, sondern müssen die richtigen Worte finden. Worte, die Werte erkennen lassen und Grenzen setzen. Für sie ist wichtig zu wissen, in welcher Tradition sie stehen.

Immerhin haben die bedrohlichen Entwicklungen der letzten Zeit auch etwas Gutes: Die scheinbare Selbstverständlichkeit eines Lebens in Freiheit und Demokratie ist in Frage gestellt. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass wir etwas Wertvolles zu verteidigen haben: Die wunderbare, aber eben auch verletzliche freiheitliche Verfasstheit nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas. Und sie haben angefangen, dieses freiheitliche Europa öffentlich zu verteidigen.

Die Jüngeren unter ihnen werden in ein paar Jahren als nächste Generation europäischer Demokratinnen und Demokraten viel Verantwortung tragen und eine Menge zu leisten haben. Dabei werden sie auch Rückschläge erleben und Ermutigung und Rückenstärkung brauchen. Ich bin davon überzeugt, dass ihnen die Besinnung auf unsere Geschichte und insbesondere auf die europäischen Freiheitsbewegungen nicht nur des 20. Jahrhunderts helfen kann. Es wird kommende Generationen stark machen, sich in der Tradition derer zu sehen, die sich vor Ihnen für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben.

 

Marianne Birthler

Diesen Artikel teilen: