Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 11/2017
im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder,
es ist in diesen Tagen nicht ganz leicht, eine Einschätzung zur aktuellen Lage insbesondere in der deutschen Politik zu geben. Wie kann es weitergehen nach den – zumindest vorerst – gescheiterten Bemühungen um die Bildung einer neuen Bundesregierung?
Bilanz zur Bundestagwahl
Vor genau zwei Monaten haben wir einen neuen Deutschen Bundestag gewählt. Was ist da geschehen? Ich beginne anders als viele andere Beobachter mit der Feststellung:
87 Prozent haben nicht die AfD gewählt.
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte setzte im Arbeitskreis unseres Sachbereichs 2 noch einen weiteren Akzent: 73 Prozent haben Parteien der "aufgefächerten Mitte" gewählt. Das ist weniger als früher, aber im Vergleich zu anderen Ländern immer noch eine sehr stabile Mitte. Es ist nur schwer begreiflich, dass innerhalb dieses 73-Prozent-Spektrums keine Regierungsmehrheit zu finden ist, unter Parteien, die gerade angesichts des Drucks von links und rechts schon aus staatspolitischer Verantwortung prinzipiell koalitionsfähig sein sollten.
Nun haben wir in diesem Spektrum zwei Parteien, die dazu dezidiert nicht bereit sind. Eine hat das fast unmittelbar nach Schließung der Wahllokale verkündet, eine zweite hat sich dazu knapp zwei Monate Zeit gelassen. Zwei weitere Parteien konnten sich lange nicht von ihren Maximalpositionen trennen.
Mit den Jamaika-Sondierungen waren viele Hoffnungen auf einen politischen Aufbruch verbunden. Denn die große Koalition ist zwar nicht rechnerisch abgewählt worden, aber die politische Botschaft schien nach den deutlichen Verlusten der Koalitionsparteien doch eindeutig.
Große Koalitionen können in schwierigen Zeiten sehr verdienstvoll sein – und wer wollte bestreiten, dass wir uns gerade in einer europa- und weltpolitisch schwierigen Zeit bewegen? Gleichwohl ist es für die Demokratie besser, wenn sie nicht zu Dauereinrichtungen werden und wenn es auch eine starke und handlungsfähige Opposition gibt. Große Koalitionen stärken die Ränder – aber zugleich zwingen starke Ränder auch zu großen Koalitionen.
Sorgen bereitet die mangelnde Fähigkeit, eine Regierung zu bilden. Dafür braucht es Mut, den Willen zu Stabilität und Verlässlichkeit sowie Vertrauen und Respekt unter den Parteien. Und als Christ darf man auch hinzufügen: Gottvertrauen ist mehr als eine Floskel – das verhilft auch im politischen Alltag zu einem anderen Blick auf die Dinge.
Mit unserer Initiative zum Wahljahr "Demokratie stimmt" haben wir betont: Demokratie ist anstrengend und aufreibend, sie lebt von Vertrauen, Überzeugungen und Kompromissen, getragen von vertrauenswürdigen, überzeugenden und kompromissbereiten Menschen. Vertrauen übrigens zwischen Wählern und Gewählten, aber auch Vertrauen zwischen handelnden Akteuren in Koalitionen!
Niemand wird in einer Koalition alle seine Wünsche umsetzen können – das geht, wie man an den so unterschiedlichen Regierungen in Frankreich und Polen beobachten kann, übrigens auch nicht mit einer absoluten Mehrheit im Rücken. Und manchmal muss man auch bereit sein, gegen einen Trend zu regieren.
Die Regierungsbildungen nach den letzten Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen waren allesamt so nicht zu erwarten. Hier haben die jeweiligen Koalitionspartner den Mut gehabt, sich aufeinander einzulassen und sich dafür im eigenen Lager auch Kritik zuzuziehen. Dafür hat es im Bund offenbar nicht – oder noch nicht – gereicht. Warum sollte das eigentlich durch Neuwahlen anders werden?
Demokratie bewährt sich in der Kompromissfähigkeit!
Klimaschutz
Exemplarisch hätte sich in der besonders strittigen Energie- und Klimapolitik zeigen lassen können, was Kompromissfähigkeit konkret bedeutet und dass sie nicht mit Richtungslosigkeit zu verwechseln ist. Wenn es den Parteien gelungen wäre und hoffentlich in Zukunft gelingen wird, einen Fahrplan für den Kohleausstieg zu vereinbaren, dann kommt es auf eben diese Richtung an und erst in zweiter Linie auf das konkrete Ausstiegsdatum.
In den letzten Wochen stand die Weltklimapolitik im Fokus der Öffentlichkeit. Zur Weltklimakonferenz hier in Bonn kamen über 25.000 Teilnehmer aus aller Welt. Es wurde hart um die Regeln und die Finanzierungszusagen zur konkreten Umsetzung des Pariser Klimaabkommens gerungen. Unmittelbar vor der Bonner Konferenz haben wir gemeinsam mit dem BDKJ und MISEROR eine gut besuchte und erfolgreiche Tagung zu der Umsetzung des Pariser Abkommens und dem Beitrag der Kirche durchgeführt. Hier wurde über ähnliche Fragen wie bei den Jamaika-Sondierungen, insbesondere die Erreichung der deutschen Klimaschutzziele, kontrovers diskutiert. Wir werden uns weiterhin für die konsequente Umsetzung dieser Ziele auch und gerade hier bei uns einsetzen!
Familiennachzug
Ein anderes heftig umstrittenes Verhandlungsthema war der Familiennachzug. Im Parteienstreit geht es um den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte. Daneben gibt es das Recht auf Familiennachzug für Asylberechtigte und für Schutzberechtigte nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieses Recht darf nicht durch unzumutbare Hindernisse und Verzögerungen bei der Zusammenführung der Familien ausgehöhlt werden. Solche Missstände zu beheben, darin sollten sich alle einig sein.
Strittig bleibt der Familiennachzug für die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten, zu denen seit 2016 auch viele syrische Bürgerkriegsflüchtlinge gehören. Das Recht auf Familiennachzug wurde für diese Gruppe bis März 2018 ausgesetzt. Wir haben wiederholt im Einklang mit den Bischöfen unsere Position vorgetragen, dass auch den subsidiär Schutzberechtigten mit befristeter Aufenthaltserlaubnis der Familiennachzug wieder ermöglicht werden sollte.
Der im Grundgesetz verankerte besondere Schutz der Familie gilt auch für nach Deutschland geflüchtete Menschen. Nicht zuletzt ist die Zusammenführung der Kernfamilie ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Integration. Die Trennung von Ehepaaren und Familien auf lange Dauer ist aus christlicher und menschenrechtlicher Perspektive nicht hinnehmbar!
Hier setzen aber auch die Kritiker der erneuten Ausweitung des Familiennachzugs an. Und diese Kritik dürfen wir, auch wenn wir in der Abwägung der Güter zu einem anderen Ergebnis kommen, nicht einfach als unchristlich abtun. Wenn kommunale Spitzenvertreter und Spitzenverbände vehement für die weitere Aussetzung des Familiennachzugs eintreten, ist der Grund ihre nachvollziehbare Sorge um die Grenzen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit vor Ort. Integration ist für sie auch eine quantitative Herausforderung, was durch Wohnraummangel und prekäre Lebenslagen in der angestammten Bevölkerung noch verschärft wird. Darum warne ich davor, dass wir als Kirchen die Position, von der wir gleichwohl überzeugt sind, von einem zu hohen moralischen Ross herab verkünden.
Zugleich dürfen wir nicht nachlassen im beharrlichen Bemühen um Integration. Das ist nicht immer leicht und bedarf wirklich eines langen Atems. Viele wissen von Enttäuschungen in den Mühen der Ebene zu berichten. Umso erfreulicher, wenn es auch immer wieder Erfolgsgeschichten zu erzählen gibt. Exemplarisch für die vielen, die sich um die Integration geflüchteter Menschen kümmern, möchte ich hier das von der Bundesregierung geförderte Modellprojekt "Schwangerschaft und Flucht" nennen, das der Bundesverband von donum vitae im vergangenen Jahr gestartet hat.
An 28 Standorten bundesweit gibt es nun aufsuchende Beraterinnen, die in die Flüchtlingsunterkünfte gehen, dort schwangere Frauen beraten und ihnen und ihren Familien Orientierung und Unterstützung vermitteln. Es war, wie man auch in unserer Zeitschrift Salzkörner lesen kann, ein großer Kraftakt, dieses Netzwerk aufzubauen – und der nächste Kraftakt deutet sich schon an, denn nach drei Jahren läuft das Modellprojekt aus. Der Beratungs- und Unterstützungsbedarf dieser besonders verletzlichen Zielgruppe, die anders kaum erreicht werden kann, wird aber sicherlich weiterhin bestehen.
Ein großer Dank an alle aus unseren Verbänden, Vereinen, Organisationen, Diözesen und Gemeinden, die hier großartige Arbeit leisten!
Sozialpolitische Herausforderungen
Wenn Städte und Gemeinden zur Frage des Familiennachzugs signalisieren "Wir haben schon genug Probleme", wenn Menschen sich unter Druck gesetzt fühlen und zugewanderte Menschen als Konkurrenz und Bedrohung wahrnehmen, dürfen wir das nicht ausblenden, weil es unser Wunschbild von unserer Gesellschaft stört. Ängste vor dem Fremden und dem Ungewohnten, vor Ausländern, vor "dem Islam", vor Verdrängung und Benachteiligung lassen sich nicht einfach als unberechtigt abtun. Sie müssen ernst genommen werden, aber in Besorgnisse umgewandelt werden. Mit Sorgen kann man umgehen, mit Ängsten kaum. "Entängstigt euch", so hat das Paul Zulehner formuliert. Daran müssen wir mitwirken!
Mancher Missstand wird auf Flüchtlinge als vermeintliche Verursacher projiziert. Doch steigende Mieten, drohender Wohnungsverlust, fehlende Sozialwohnungen und Ablehnung bei Kita-Plätzen sind bei näherer Prüfung nur sehr selten vom Flüchtlingszuzug verursacht. Gleichwohl sind es ernsthafte Probleme. Es ist ein ernsthaftes Problem, wenn Niedriglohnbezieher von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind, wenn öffentliche Gebäude und Plätze verwahrlosen.
Manche erklären ein enttäuschendes Wahlergebnis damit, man sei nicht konservativ oder national genug gewesen und jetzt müsse die rechte Flanke geschlossen werden. Ich kann eine solche Auffassung vor dem Hintergrund meiner Beobachtungen weder politisch noch analytisch teilen.
Die Protestwahl hatte auch eine soziale Komponente. Ich frage Sie: Ist es nicht eher so, dass wir eine entschiedenere Sozialpolitik brauchen? Darüber haben wir in den Wochen der Sondierungen noch zu wenig gehört. Warum eigentlich?
Wir haben es ohne Zweifel auch mit sozialen Verwerfungen zu tun, die das gesellschaftliche Klima vergiften. Dagegen können wir etwas tun in Tarifverhandlungen, im Wohnungsbau, in der Familienförderung und mit Bildungsinvestitionen.
Ich stelle nur einmal die Frage nach der Spreizung zwischen hohen und niedrigen Löhnen in einer Branche durch den Verzicht auf Sockelbeträge in Lohnabschlüssen. Die Schere zwischen den einfachen Einkommen und den Spitzeneinkommen ist zu weit auseinander gegangen. Hier müssen Parteien und Tarifpartner tatkräftig und programmatisch ansetzen. Und wir als Katholiken sollten nicht zuletzt auf der Basis der katholischen Soziallehre Anwälte der sozial Schwachen sein!
Islam
Besondere Sorge bereitet mir die unterschwellige und immer häufiger auch offen geäußerte pauschale Angst vor "dem Islam". Ich halte die Bildung für den Schlüssel zur Behandlung dieses Themas: für die einen, um über diese Weltreligion aufzuklären, und andererseits für Jugendliche aus muslimischer Tradition, die von Parolen gelockt werden – von Menschen, die auf die Unkenntnis der eigenen religiösen Traditionen setzen.
Nach meinem Verständnis ist eine Religionspolitik wichtig, die auf die institutionelle Integration des Islam setzt. Wie die Konstruktionen, die in einigen Bundesländern den islamischen Religionsunterricht ermöglichen, in eine gesicherte Zukunft überführt werden können, ist noch offen. Ich spreche mich hier noch einmal und ganz klar für einen islamischen Religionsunterricht als ordentliches Schulfach in deutscher Sprache an öffentlichen Schulen mit in Deutschland ausgebildeten Lehrkräften aus.
Der weitere Ausbau der islamischen Theologie an staatlichen Universitäten ist nicht zuletzt zu diesem Zweck religionspolitisch und integrationspolitisch von enormer Bedeutung. In diesem Zusammenhang hat das Oberverwaltungsgericht Münster jüngst ein Urteil gesprochen, in dem es feststellt, dass die Verbände Islamrat und Zentralrat der Muslime noch nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt sind. Somit muss es in Nordrhein-Westfalen bis auf Weiteres bei der Beiratslösung bleiben, wenn es den islamischen Religionsunterricht geben soll. Anders als es auf den ersten Blick aussehen mag, halte ich das für ein positives Integrationssignal. Denn die genannten Verbände haben bislang weder nach innen noch nach außen die religiöse und gesellschaftliche Integrationskraft, um so wie die Kirchen die alleinige Verantwortung für den Inhalt des schulischen Religionsunterrichts für alle gläubigen Muslime zu übernehmen.
Die AfD will beim Religionsunterricht und der islamischen Theologie das genaue Gegenteil von weiterer institutioneller Integration. Sie spricht dem Islam den Charakter als Religion ab und will ihn aus Schule und Universität heraushalten. Die Muslime sollen nach Ansicht der AfD diesem System, den staatlichen Institutionen fremd bleiben. Diese Haltung ist nicht nur destruktiv, sie öffnet die Türen für die Verführung junger Menschen und schürt Ängste, die mir immer häufiger begegnen.
Sie werden gelesen haben, dass ich mich für Regelungen in den Feiertagsgesetzen der Länder ausgesprochen habe, die die Wahrnehmung auch jüdischer und muslimischer Feiertage für die Angehörigen dieser Religionen ermöglichen – so wie das in einigen Ländergesetzen der Fall ist. Ich wiederhole hier: Ich habe nicht einen gesetzlichen muslimischen Feiertag gefordert, es ging mir vielmehr um die Frage nach der christlichen Feiertagskultur.
Aber was nach dieser Äußerung an Beschimpfungen und Zurechtweisungen, letztere leider auch aus der Politik, bei mir ankam, hat mir deutlich vor Augen geführt, wie tief für viele Menschen der kulturelle Graben zum Islam scheint, wie tief die Ängste und Sorgen sitzen – und wie dringlich der Dialog zwischen uns als gläubigen Christen und gläubigen Muslimen ist; auch um gemeinsam mit den frommen Muslimen gegen den Missbrauch der Religion im Islamismus anzugehen. In diesem Zusammenhang danke ich ausdrücklich unserem Gesprächskreis Christen und Muslime beim ZdK und seiner Vorsitzenden Gabriele Erpenbeck.
So wie die Juden unsere älteren Geschwister im Glauben sind, sind die Muslime unsere jüngeren Geschwister. Lassen Sie uns weiterhin ehrlich und klar Missstände ansprechen, zugleich aber den Menschen, die glauben, wohlwollend begegnen und sie wo nötig stützen. Gehen wir gemeinsam energisch und mutig an gegen eine Islamfeindschaft, die einmal unsere Zeit und unsere Gesellschaft mit Hass vergiften könnte.
Ich frage mich mitunter, wie unsere Enkel die heutige Zeit mit antiislamischen Ressentiments einmal im Rückblick bewerten werden. Werden sie darauf zurückblicken, wie wir heute auf die Weimarer Republik, als eine andere Bevölkerungsgruppe, die Juden, mehr und mehr stigmatisiert und ausgegrenzt wurde? Erich Kästner sagte rückblickend: "Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf".
Ethische Konfliktfragen
Die Bilder der Lawine und des Dammbruchs werden nicht selten auch im Hinblick auf die Ausweitung der medizinischen und technischen Möglichkeiten im Umgang mit unseren Grenzen am Anfang und am Ende des Lebens bemüht. Das will ich hier nicht tun, aber doch eine Problemanzeige erneuern.
In der internationalen Forschung zeichnen sich beim "Genome Editing" durch das Instrument der so genannten Genschere – und das ist fundamental – Eingriffe in die menschliche Keimbahn ab. Sie können der Bekämpfung von Krankheiten dienen, sind aber auch irreversible, über Generationen wirksame Eingriffe in das menschliche Erbgut. Hier geht es nicht mehr nur um die Veränderungen von Pflanzen, sondern um dauerhafte Eingriffe in das menschliche Erbgut. Wir werden uns ernsthaft damit befassen, auch weil die Durchbrüche in der Forschung das deutsche Embryonenschutzgesetz unter Druck setzen. Es geht um den christlichen Grundsatz der Würde des Menschen. Sie ist nach Artikel 1 des Grundgesetzes unantastbar!
Auch eine andere politische Forderung, es müsse ein umfassendes Fortpflanzungsmedizingesetz geben, zielt auf die Schwächung des Embryonenschutzes. Mit dieser Forderung sind verschiedene ethisch hochbedenkliche Fragen verknüpft, zum Beispiel nach der Abschaffung der Dreierregel. Mit ihr wird die Zahl der für eine künstliche Befruchtung zu erzeugenden Embryonen auf drei begrenzt. In der Folge wird sich die Frage nach der Auswahl und der Einpflanzung nur des entwicklungsfähigsten gezeugten Embryos stellen. Und es geht es auch um die Legalisierung der Eizellspende und der Leihmutterschaft.
Ich habe eingangs an die politische Kompromissfähigkeit appelliert, die dann angebracht ist, wenn es Einigkeit in der Richtung gibt. An dieser Stelle werden wir alles tun, damit der Schutz des menschlichen Lebens und seiner Unverfügbarkeit die Richtung vorgibt. Ob als Embryo, durch Krankheit und Behinderung eingeschränkt oder im Sterben – in keiner Phase darf das menschliche Leben verzweckt, nach seiner Nützlichkeit bemessen und unter Optimierungszwang gestellt werden. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken war immer der engagierte Anwalt für das Leben in allen seinen Stadien, und das werden wir ganz sicher auch bleiben!
Zu diesen Entwicklungen können Bischöfe und Laien vermutlich recht leicht gemeinsame Positionen formulieren und vertreten. Das legt ein koordiniertes Vorgehen nahe, wie es bei der Gesetzgebung zur geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe erfolgreich war und wie wir schon seit Jahrzehnten in den Fragen des Embryonenschutzes gemeinsame Positionen, wenn auch nicht immer gemeinsame Papiere, haben.
Darum bin ich froh, dass sich die Gemeinsame Konferenz vor einer Woche darauf verständigen konnte, in diesem Bereich zusammenzuarbeiten und einmal Synodalität am praktischen Beispiel zu erproben. Die Kompetenzen der Unterkommission Bioethik der Deutschen Bischofskonferenz und unseres ZdK-Sachbereichs Politische und ethische Grundfragen sollen in einer gemeinsamen Kommission, die nach der Satzung den Namen "Beirat" hat, zur Erarbeitung einer Stellungnahme gebündelt werden. Das Ziel ist die gemeinsame politische Sprachfähigkeit, um in einer weltanschaulich pluralen politischen Landschaft eine höhere Wirksamkeit zu erzielen, als das mit unseren parallelen Alleingängen – Bischöfe hier, Laien da – möglich ist. Nicht zuletzt ist das auch ein kleiner, aber konkreter Schritt hin zur synodalen Kirche.
Ökumene im Reformationsjahr
Damit komme ich zu einigen kirchlichen Fragen. Herausragend war in diesem Jahr sicherlich der 500. Jahrestag der lutherischen Reformation. Ich bin außerordentlich dankbar für die Art und Weise, in der das Reformationsjahr 2017 im ökumenischen Geist begangen werden konnte. Viele theologische, aber vor allem auch mentale Sperren mussten überwunden werden, um dahin zu gelungen.
Meilensteine waren die Verleihung der Martin Luther-Medaille an Kardinal Lehmann und der Besuch des Papstes beim Lutherischen Weltbund in Lund zum Auftakt vor einem Jahr. Die gemeinsame Schrift "Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen" hat in dem Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim im März und danach an vielen Orten liturgisch den Stand der Gemeinsamkeit fixiert. Und nicht zuletzt war auch das Ökumenische Fest gelungen, das wir im September in Bochum in der Tradition der Ökumenischen Kirchentage, auf dem Weg zum 3. ÖKT 2021, gefeiert haben.
Wie schwierig war die Situation demgegenüber noch vor 50 Jahren! Für manche bedeutete das, was wir heute freundlich "konfessionsverbindende Ehe" nennen, den Bruch mit der Familie, bis hin zur Enterbung. Ich hoffe, dass es der Bischofskonferenz noch gelingt, als Antwort und nächsten Schritt des aufeinander Zugehens die überfällige, in der Praxis der Pfarreien zumeist längst vollzogene Zulassung evangelischer Ehepartner zur Eucharistie auch formal zu erreichen.
Zugleich sollten wir nicht den Fehler begehen, die Ökumene jetzt und auch mit Blick auf den 3. ÖKT auf die Frage nach dem gemeinsamen Abendmahl zu reduzieren. In unserer heutigen gesellschaftlichen Situation kommt es für uns Christen darauf an, stärker zusammenzurücken und gemeinsam überzeugend aufzutreten. Das ist wünschenswert und dringlich mit Blick auf die Politik. Gemeinsames Handeln aus christlichem Geist heißt aber immer auch gemeinsam beten und Liturgie feiern. Ökumene gelingt an der Basis am besten. Sie entscheidet sich durch die Gläubigen überall dort, wo gebetet, miteinander gelebt und gesprochen wird und wo wir gemeinsam unseren christlichen Dienst tun.
Richtungsentscheidung in der Kirche
500 Jahre Reformation, das ist für uns auch das Ergebnis einer verpassten Integration von Reformimpulsen in der römischen Kirche vor 500 Jahren. Hadrian VI., der weitsichtige Papst aus dem niederländischen Ausland, konnte diese Impulse in seinem allzu kurzen Pontifikat 1522/1523 nicht mehr umsetzen. Er war mit seiner neuen Sichtweise und dem Abbau von Privilegien der Kardinäle in der römischen Kurie verhasst.
Auch heute hat ein Papst aus dem Ausland mit Anfeindungen zu kämpfen. Als Reaktion auf nicht enden wollende Nadelstiche seiner Gegner, die sich neuerdings nicht mehr als papsttreu charakterisieren, sondern als "katechismustreu", gibt es nun auch eine Kampagne für Papst Franziskus, "Pro Pope Francis". Diese Initiative ist ebenso sympathisch wie ihre Initiatoren ehrenwert sind. Ich habe sie selbst auch unterzeichnet, viele von Ihnen gewiss ebenfalls. Und doch ist es schade, um nicht zu sagen fatal, dass es eine solche Kampagne überhaupt in unserer katholischen Kirche geben muss.
Der im Sommer plötzlich verstorbene Kardinal Joachim Meisner hat 2011 sein geistliches Testament verfasst, in dem es heißt: "Das ist meine letzte Bitte an Sie alle um Ihres Heiles willen: Stehen Sie zu unserem Heiligen Vater. Er ist der Petrus von heute. Folgen Sie seiner Wegweisung. Hören Sie auf sein Wort. […] In allen […] Lebensepochen hat mir der Dienst des Papstes immer Orientierung, Ermutigung und Beistand geschenkt. Haltet immer zum Papst, und ihr werdet Christus nie verlieren!"
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Zugegeben, die Papsttreue ist manchem vielleicht schon schwerer gefallen als in den letzten Jahren. Aber für das ZdK kann ich sagen: Entgegen allen Etikettierungen, mit denen das gerne in Zweifel gezogen wird, waren wir immer papsttreu. Das ZdK ist nicht links und nicht rechts, sondern es repräsentiert den deutschen Katholizismus in seinen vielen Ausprägungen und hat sich nie – was für eine alberne Vorstellung – gegen unsere Kirche gestellt!
Die meisten Sorgen bereiten in den katholischen Pfarreien und Gemeinden zur Zeit die pastoralen Prozesse der Diözesen, die teils zu sehr großen Einheiten führen. Die ersten Konsequenzen aus einem künftig katastrophalen Priestermangel beginnen sich abzuzeichnen. Bei allen Überlegungen ist zu bedenken, dass man die Fehler der Politik der siebziger Jahre nicht wiederholen sollte. Die Territorialgemeinde im Dorf und im Stadtteil bleibt nach wie vor ein wesentliches Element der Gemeindebildung. Zu erwarten ist wohl auch, dass die bessere Einbindung der Frauen in die Amts- und Leitungsstrukturen durch die pastorale Notsituation beschleunigt wird. In der Frage des Frauendiakonats haben wir leider noch keine Neuigkeiten.
Dass bei den Wahlen zu Laienräten an vielen Orten Kandidaten fehlen, ist sicher auch darin begründet, dass die Themen oft zu weit weg vom unmittelbaren Lebensumfeld sind und dass nach wie vor Kompetenz und Entscheidungsrecht der Räte unterschiedlich gehandhabt wird. Ich appelliere an die Verantwortlichen: lassen Sie Subsidiarität zu, denken Sie von unten nach oben, lassen Sie sich vom Blick auf die konkreten Menschen leiten – kurz gesagt: lassen Sie die Kirche im Dorf!
Rückblick und Ausblick nach zwei Jahren Amtszeit
Ich stehe hier nicht nur als Berichterstatter vor Ihnen, sondern auch am Ende einer kurzen Amtszeit und in einer Stunde dann als Kandidat für eine weitere Amtszeit. Darum komme ich nun abschließend noch zu wenigen bilanzierenden Anmerkungen.
Dankbar bin ich für ungezählte bereichernde Begegnungen und Dialoge in den letzten zwei Jahren. Eine ganz wichtige Wegmarke war dabei der 100. Deutsche Katholikentag 2016 in der ausgesprochen säkular geprägten Stadt Leipzig, der uns gezeigt hat, wie man in einem nicht christlichen Umfeld doch überzeugend und werbend auftreten kann.
Auch wenn das Amt vielleicht mehr an Zeitaufwand verlangt, als ich dachte, macht es doch auch sehr große Freude. In besonderer Erinnerung sind zahlreiche internationale Begegnungen, von denen hier nur zwei unter dem Aspekt der fortwährenden Aufgabe der Versöhnung genannt werden sollen. Vor einem Jahr war ich mit dem Gesprächskreis Juden und Christen in Israel – es waren sehr intensive Gespräche und Eindrücke im Heiligen Land.
Vor vier Wochen sind wir mit einer Gruppe von ZdK-Vertretern in Krakau und Warschau polnischen Katholiken begegnet. Es ist mir sehr wichtig, dass es uns im letzten Jahr vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten in den deutsch-polnischen Beziehungen gelungen ist, den Kontakt zu den polnischen Katholiken und Laienvertretern zu erneuern und zu beleben. Angesichts der politischen Differenzen – erinnert sei an den einschneidenden Regierungswechsel in Polen und die europäische Uneinigkeit in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen –, aber auch angesichts der Differenzen innerhalb der Weltkirche, waren das sehr wichtige Schritte aufeinander zu.
Bei Besuchen in Brüssel, Bratislava, Wien und Rom ging es um die Zukunft Europas, das auch ein katholisches und christliches Projekt ist. Darum ist es auch richtig, dass wir uns heute in der Vollversammlung mit einer europäischen Herausforderung, der menschenwürdigen Asylpolitik als europäischer Gemeinschaftsaufgabe, befassen.
Der zweite große Schwerpunkt unserer Beratungen in dieser Vollversammlung, die Stärkung überdiözesaner Aufgaben der katholischen Kirche in Deutschland, geht auf eine längere Debatte in Verbänden, Diözesen und dem Verband der Diözesen Deutschlands zurück. Dazu habe ich mich mehrfach zu Wort gemeldet. Besonders habe ich mich mit dem Thema der Verteilung der Mitgliedsbeiträge der katholischen Frauen und Männer, der sogenannten Kirchensteuer, auf den verschiedenen Ebenen Gemeinde, Bistum und Deutschland befasst. Dabei habe ich einen Diözesanegoismus kritisiert, unter dem die überdiözesanen Einrichtungen, Aufgaben und Verbände, aber auch die Pfarrebene leiden.
Mitunter, so kann ich nach zwei Jahren sagen, erweist sich die öffentliche Wahrnehmung der eigenen Worte als schärfer, als sie vielleicht gemeint oder gesagt waren. Kritik muss man haben können, zumal ich ja auch viel Zustimmung erlebe. So hatte die Aufregung über meinen aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken zu den Feiertagen auch ihr Gutes, wenn es uns gelingt, ausgehend von dieser Frage ein öffentliches Nachdenken über die Prägekraft der christlichen Kultur für unser Land anzustoßen.
Intern haben wir in Präsidium und Hauptausschuss einige Veränderungen initiiert, deren Maßstab insbesondere die stärkere Einbindung der Mitglieder der Vollversammlung sein soll. Ich nenne hier die regelmäßigen Gesprächskreise in der Vollversammlung zu den Themen der Sachbereiche und den Informationsdienst, der für Sie nach jeder Sitzung des Hauptausschusses erscheint, und kann Ihnen versichern, dass dies erst ein Anfang ist.
Sehr herzlich danke ich Ihnen allen als Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter, besonders all denen, mit denen ich zusammenarbeiten darf: dem Präsidium, Karin Kortmann und Dr. Claudia Lücking-Michel, Alois Wolf und Dr. Christoph Braß, Erzbischof Dr. Heße, den Sprecherinnen und Sprechern, den Mitgliedern von Hauptausschuss und Gemeinsamer Konferenz, dem Generalsekretär Dr. Stefan Vesper mit allen seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Generalsekretariat und beim Katholikentag. Ich danke besonders Alois Glück, der mir ein wichtiger Ratgeber und Freund ist.
Ich kandidiere heute mit Freude und Bereitschaft zum Engagement für eine weitere Amtszeit, als Stimme der katholischen Frauen und Männer. Immer war das Vertrauen auf den Geist, der uns in unserer Schwachheit hilft, Halt und Stütze. Wir orientieren uns am Wohl von Kirche und Gesellschaft, mit dem Ziel, Zeugnis von unserer Hoffnung zu geben, von dem, was uns verbindet, und von dem, der uns trägt und woraus wir leben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Prof. Dr. Thomas Sternberg Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken