"Was ist das Menschlein, dass du sein gedenkst" (Ps 8,5)
Ansprache von Landesreabbiner Em. Dr. H. C. Henry G. Brandt, Augsburg bei der gemeinsamen Feier im Rahmen des christlich-jüdischen Dialogs beim Katholikentag Leipzig
Meine lieben Freunde,
was ist das Menschlein, dass Du sein gedenkst? So übersetzt Martin Buber den hebräischen Text von Psalm 8. Ich habe höchsten Respekt und Hochachtung vor dem großen Meister Martin Buber, aber in dieser Hinsicht bin ich nicht seiner Meinung, dass dies eine gute Übersetzung ist, und aus dem Hebräischen ergibt sich das schon überhaupt nicht. Aber sein Kommentar zu diesem Vers ist in dem Wort "Menschlein" schon enthalten. Denn die meisten lesen den Psalm auch so – und ich nehme an, das sind Sie auch –, dass hier der Psalmist einen Kontrast erstellt: auf der einen Seite das Werk der Finger Gottes, das Universum, die gesamte Schöpfung, und auf der anderen Seite der Mensch. Was kann man anderes sagen als "dieses Menschlein"? Das bedeutet Demut und Bescheidenheit, Selbsterniedrigung in die Funktion dieses Staubkörnchens auf einem etwas größeren Staubkörnchen, das durch den riesigen, unendlichen Raum schwebt, unsere Erde. So sehen wir meistens uns selbst, und so sehen wir die Schöpfung Gottes. Und dass trotz dieses Kontrastes Gott an uns denkt, dass wir diese Verbindung, diese Immanenz in unserem Leben spüren – ist das Wunderbare unserer Erfahrung.
Aber meine lieben Freunde, haben Sie mal darüber nachgedacht, dass man es auch anders sehen könnte, diesen "adam", "ben enosch", "Mensch", dass wir uns nicht als das demütige Staubkörnchen sehen müssen? Dann sprechen wir zu Gott aus der Akzeptanz unserer Position als Mensch, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass wir etwas ganz Besonderes sind, etwas Einmaliges in der gesamten Schöpfung, mit einer besonderen Stellung, ein wenig nur, wie der Psalm sagt, ein wenig nur geringer als Gott – da steht "elohim", da steht nicht "Engel" – ein wenig nur geringer als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Das ist über den Menschen gesagt, und nicht über Gott! Wir müssen akzeptieren, dass wir das sind, und dass die Frage nicht ist, wie können wir verstehen, dass dieser Kontrast überbrückt ist, sondern wir sehen, dass es notwendig ist, ihn zu überbrücken, und dass dies ohne uns gar nicht gehen würde. Nicht aus Überheblichkeit, sondern aus Annahme eines Tatbestandes sagen wir das. Wie wunderbar ist doch der Mensch! Der Psalm bringt es ja zum Ausdruck. Warum sollen wir nicht akzeptieren, wo wir stehen, wo Gott uns da hingestellt hat?
Meine lieben Freunde, denken Sie einmal darüber nach: Was wäre denn eigentlich die gesamte Relevanz der Schöpfung, des gesamten Universums in seiner Fast-Unendlichkeit, mit Millionen und Milliarden von Sternen und Welten und Galaxien, die unsere Vorstellungskraft überschreiten, was wäre die Relevanz, so wie es jetzt ist, ohne uns? Wer würde davon wissen, wer würde Gott dafür preisen? Wir haben die teuersten und größten Instrumente aufgestellt, um zu erforschen, ob möglicherweise ein Leben irgendwo im Universum zu finden ist, ob ein Echo auf unsere Anfrage kommt. Bis jetzt, und wir müssen das als Tatbestand sehen "ejn qol we ejn oneh ", "keine Stimme und keine Antwort". Wir Menschen sind einzigartig in der gesamten Schöpfung. Wir sind es, die die Fähigkeit haben, über Gott zu reflektieren, seine Schöpfung zu bewundern, sie zu nutzen, ihn zu preisen, ihm zu danken, ihm zuzujubeln. Wenn nicht wir, wer sonst? Sonst würden alle diese Sterne und Galaxien herumschwirren, und keiner würde wissen, was eigentlich los ist, ohne Relevanz, eine Schöpfung im Nichts und für nichts.
Wir sind die einzige Spezies, wir sind der einzige Ort hier, der in gewissen Grenzen und Maßen sein Schicksal mitbestimmen kann. Alles andere ist der Ordnung, den Gesetzlichkeiten der Physik und der Chemie unterworfen. Wir sind alleine die, die in gewissem Maße mitbestimmen können, wie die Weiterentwicklung läuft, nicht unendlich, aber doch in großem Maße. Wir können als Menschen bestimmen, ob dies eine Welt des Friedens, des Erfolgs, des guten Miteinanders und der Brüderlichkeit sein soll, wo alle Menschen in gegenseitigem Respekt leben können, in Frieden. Wir können auch bestimmen, ob diese Welt in einem Feuerball endet. Es ist nicht vorausgesagt, dass Gott den roten Knopf benützen würde. Wir Menschen haben die Macht des roten Knopfes. Wo gibt es das noch und was macht das mit uns? Das sind keine "Menschlein" mehr, das ist der Mensch in all seiner Glorie, mit all seinen Fähigkeiten. Und an ihn, an uns ergeht das Wort Gottes, des Schöpfers –wir finden es im 30. Kapitel des 5. Mosebuchs, wo sinngemäß steht: "Schaut her, ich habe euch gezeigt, gesagt, gelehrt, was gut ist und was böse, den Weg zum Leben und den Weg zum Tod."
Und dann kommt dieses schwere, schicksalsschwere Wort: "Wählet! Wählet das Leben!" Aber auch die Möglichkeit, den Tod und Verdammnis zu wählen, ist uns gegeben. Wir mögen beklagen, dass uns diese Macht gegeben ist, aber sie ist uns gegeben. Die Kriege, die Zerstörungen, die Verfolgungen, die Flüchtlingsströme, die millionenfach jetzt über die Kontinente laufen und die uns jeden Tag Sorge bereiten, sie sind nicht von Gott gemacht. Das sind alles Auswirkungen von Entscheidungen von Menschen in ihrer Machtgier, in ihrer Bosheit. Sie haben gewählt, und sie konnten wählen und sie durften wählen. Sie haben nur vergessen, dass die Wahl immer Konsequenzen nach sich zieht, die wir – und leider wir alle – zu tragen haben. Der Mensch ist Mitbestimmer seines Schicksals. Aber Gott hat ihm den Weg gewiesen, er hat ihm gezeigt, wohin es geht zum Guten, zum Frieden, wohin es geht zum Krieg und zur Zerstörung. Und es ist unsere Aufgabe, eben als Teil der menschlichen Gesellschaft, alle unsere Kräfte einzusetzen, dass der Weg zum Guten und zum Frieden gewählt wird, in Tat, nicht nur mit Worten. Und wenn ich das mal so sagen darf, auch nicht nur im Gebet: "Lieber Gott, mache Frieden." Gott sagt: "Ihr macht den Frieden, also macht ihn!" Und das bedeutet eben zu wissen, wie man – die mich kennen, werden das Wort nicht komisch finden – sich militant für das Gute einsetzen kann. Nicht einfach beklagen, was schlimm ist in der Welt, sondern was wir dagegen tun können. Unsere Aufgabe ist es, unsere Welt zu gestalten als Abbild der Schöpfung. Denn die Schöpfung ist das Musterbeispiel von Recht, Gesetzlichkeit und Harmonie. Und wir sind aufgefordert, unsere Welt nachzubilden dem Königreich Gottes als eine Welt des Rechts, der Gesetzlichkeit und der Harmonie, in der alle Menschen in Würde und mit gleichem Maß an Anerkennung in Frieden leben können.
Hier, meine lieben Freunde, könnte ich enden, aber erlauben Sie mir, noch ein paar Sätze hinzuzufügen. Ich glaube, ich mache das jetzt schon ungefähr drei Jahrzehnte, dass ich beim Katholikentag und in der Woche der Brüderlichkeit den jüdischen Part in der Gemeinschaftsfeier gestalte und zu meinen Freunden, jüdischen und christlichen, rede. Ich tat es aus Überzeugung, weil ich glaube – und nicht alle teilen mit mir diesen Glauben –, dass wir in Anliegen, die den Menschen als solchen betreffen, in Sachen, die im Interesse der gesamten Gesellschaft sind, durchaus als eine Gemeinschaft vor Gott treten können, um gemeinsam zu beten, um uns gemeinsam zu verpflichten in unserem Gebet, um gemeinsam zu suchen, nach seinen Wegen zu wandeln. Ohne damit einen Identitätsverlust zu verbinden oder Unterschiede zu verleugnen, gibt es eben viele Momente im Leben, in denen wir nicht als Jude und nicht als Christ, sondern als "Mensch" und "Sohn des Menschen" dastehen. Und so haben wir das gepflegt über viele Jahre, und dies ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich zumindest qua Amt vor Ihnen stehe (es können sich vielleicht noch andere Möglichkeiten ergeben, wer weiß). Aber hier stehe ich qua Amt, und das ist doch ein gewisser Abschied, und deshalb erlaube ich mir, Ihnen, die mir zuhören und die mit mir zusammen diese Feier gestalten, den Auftrag zu geben, diese Arbeit weiterzuführen und keine Rückschritte zu dulden.
Wir erleben – und ich selber habe es erlebt in diesen Jahren – die Auswirkung des Zweiten Vatikanischen Konzils und speziell von Nostra Aetate. Ich habe gemerkt, wie die Beziehungen zwischen katholischen Christen, evangelischen Christen und jüdischer Gemeinschaft enger wurden, wie man mehr und mehr im Laufe der Zeit über gemeinsame Anliegen zu sprechen kam, wie die Vergangenheit, die nicht vergessen werden darf, aber nicht mehr so bestimmend ist für unser Programm wie das gemeinsame Interesse für die Gesellschaft, in der wir heute leben und die wir für unsere Kinder zu formieren haben. Ich höre mit Besorgnis, dass es hier und da Versuche gibt, die Schraube zurückzudrehen, das Vatikanum II zu relativieren, vielleicht mit guten oder nicht so guten Absichten, um die Piusbrüder zu befriedigen. Wir alle, glaube ich, müssen auf der Hut sein. Das, was wir errungen haben nach 2000 Jahren der "Vergegnung", wie Buber sagte, darf nicht mehr gefährdet werden. Dagegen müssen wir gemeinsam einstehen mit jedem Mittel, das uns zur Verfügung steht! Das Erreichte muss bewahrt bleiben und muss das Fundament sein, auf dem wir eine noch bessere, freundlichere, respektvollere, gemeinsame Zukunft aufbauen können. Die ewig Gestrigen sollen nicht gewinnen! Das empfehle ich Ihnen heute als mein Vermächtnis für die Zukunft.
Und ich danke für Ihre Liebe.
Dr. h. c. Henry G. Brandt, Augsburg