Laudatio von Staatsministerin Prof. Monika Grütters MdB Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
anlässlich der Verleihung des „Kulturgroschens“ an Wolfgang Thierse am 15. März 2016 in Berlin - es gilt das gesprochene Wort!
Anrede,
Es muss an Deinem berühmten, zauseligen Vollbart liegen: Bis vor kurzem war ich der festen Überzeugung, dass Du ein waschechter Berliner bist - als „Ossibär“ ebenso urberlinerisch wie das lokale Wappentier. Und dann Deine Kampfansage an „Wecken“ und „Zwetschgendatschi“, Dein beherzter Versuch, zumindest die „Schrippe“ und den „Pflaumenkuchen“ vor der Gentrifizierung zu bewahren, Deine verbale Auflehnung gegen den Einzug der schwäbischen Kehrwochen-Kultur am Kollwitzplatz! So viel Berliner Schnauze legt die Vermutung nahe, dass Du hier aufgewachsen bist. Ich als zugereiste Münsteraner Katholikin habe mich deshalb der schönen Illusion hingegeben, wenigstens einen katholischen Preußen zu kennen (noch dazu einen, der sich mit mir zusammen für die Hedwigs-Kathedrale einsetzt …). Da ließ sich dann auch leichter verschmerzen, dass Du Sozialdemokrat bist.
Nun wissen wir beide, dass der Glaube zwar Berge versetzen, aber keine Munzinger-Einträge verändern kann. Ich habe also zur Kenntnis nehmen müssen, dass Du in Breslau geboren bist und erst zum Studium nach Berlin kamst. Aber so wie die Spätberufenen / die Konvertiten oft die strengsten Gläubigen sind, so sind die Zuzügler oft die größten Berlin-Patrioten - mich selbst eingeschlossen, auch wenn mir das Wort „Schrippe“ bis heute nicht über die Lippe kommt. (Im Münsterland sagt man ganz einfach „Brötchen“).
Breslau also: Diese Geburtsstadt hast Du mit einem Mann gemeinsam, zu dessen politischen Urenkeln Du gehörst und dessen Bekenntnis zum klaren Wort Du teilst - mit Ferdinand Lassalle, dem Vater der deutschen Sozialdemokratie. „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Mit Lassalles berühmten, kämpferischen Worten sind Deine Haltung, Dein Werdegang und Deine politischen Verdienste im Grunde schon treffend beschrieben.
Um ein offenes Wort und einen eigenen Standpunkt warst Du nie verlegen:
• nicht in jungen Jahren in der ehemaligen DDR, als Deine Zeit als Mitarbeiter des Kulturministeriums 1976 nach nur einem Jahr ein jähes Ende fand, weil Du im Zusammenhang mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns durch - ich zitiere - „unbotmäßige Reden“ - aufgefallen bist;
• nicht in Deinem Engagement als Bürgerrechtler, als Stimme für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, die 1989 auch im Neuen Forum und 1990 in der neu gegründeten SPD-Ost Gehör fand, unter anderem mit der damals eher unüblichen Botschaft an Deine Landsleute, dass sie mit dem Beitritt zur Bundesrepublik „nicht ins Paradies, aber auch nicht in die Hölle“ kämen;
• und schließlich auch und erst recht nicht in den 23 Jahren, in denen Du dem Deutschen Bundestag angehört hast, sieben Jahre davon als dessen Präsident.
Berühmt und berüchtigt, geschätzt und gefürchtet warst Du als „Vater Courage“ (als solcher hat die Süddeutsche Zeitung Dich einmal gepriesen) und als wortgewaltiger Redner, der seine Argumente mit der Stringenz eines Mathematiker und der Leidenschaft eines Weltverbesserers vorzutragen
wusste, letzteres nicht immer zur hellen Freude meiner Fraktion… . Trotzdem war ich froh, Dich als Mitstreiter im Kulturausschuss zu haben, denn Du warst immer wieder Garant für fruchtbare, erhellende, ja manchmal auch beglückende Debatten - lebender Beweis für die Vermutung, dass es im Deutschen Bundestag nicht nur Klugheit, sondern auch Weisheit gibt.
Weise, lieber Wolfgang, das warst Du vor allem dort, wo Fronten verhärtet waren und die Gräben zwischen unterschiedlichen Standpunkten unüberwindbar schienen. Nicht mit dem Kopf durch die Wand, sondern mit Köpfchen durch Türen zu gehen, die Du als zäher Verhandler und als empathischer Vermittler geöffnet hast - auch das zählt neben Deinem herausragenden Engagement für Kunst und Kultur, für Künstlerinnen und Künstlern zu Deiner kulturpolitischen Lebensleistung, die wir heute ehren. So sehr Du mit Deinen Worten anecken konntest, so sehr konntest Du mit Deinem sprachlichen Gespür auch vermitteln und versöhnen. Das gilt vor allem für Dein Lebensthema und Herzensanliegen, die Erinnerungskultur.
Ich denke da zum Beispiel an die beharrliche Überzeugungsarbeit, die Du für das Denkmal für die ermordeten Juden Europas geleistet hast, für eine im Herzen der Hauptstadt präsente Mahnung „die Menschenrechte nie wieder anzutasten, stets den demokratischen Rechtsstaat zu verteidigen, die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz zu wahren und jeder Diktatur und Gewaltherrschaft zu widerstehen“, wie es im Beschlusstext des Deutschen Bundestages heißt.
Ich denke aber auch an die salomonische Lösung, mit der Du die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zu einem gesamtstaatlichen Projekt gemacht und ihr trotz jahrelanger erbitterter Auseinandersetzungen den Geist
der Versöhnung eingehaucht hast: So ist die Vertreibung der Deutschen für die Stiftungsarbeit laut Konzeption nur ein Schwerpunkt, aber in der Dauerausstellung ist sie der Schwerpunkt.
Ja, manchmal macht ein Satz den Unterschied - und manchmal sogar nur ein Wort. Genau wie Du bin ich deshalb reflexhaft an die Decke gegangen, als ich zum ersten Mal von dem Vorschlag gehört habe, das Gelände des einstigen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit zum „Campus der Demokratie“ zu machen. „Campus für Demokratie“, muss es natürlich heißen, wenn überhaupt, ein Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand, der der Verpflichtung zur schonungslosen Aufarbeitung und zur kritischen Auseinandersetzungen mit der Diktatur ebenso gerecht wird wie der Situation der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR, insbesondere der Opfer von Stasi und SED-Diktatur. Beides war für Dich immer eng miteinander verbunden. Das kleine Wörtchen „für“ zeigt hier jedenfalls einmal mehr, wie sehr es in der Politik auf Sprache ankommt - und auf Politiker wie Dich, die nicht nur den Mut, sondern auch das sprachliche Gespür haben, um - im Sinne Ferdinand Lassalles - auszusprechen, was ist.
Glaubwürdig warst Du in Deinem leidenschaftlichen, kulturpolitischen Engagement für Demokratie und Freiheit aber nicht nur kraft Deiner Lebenserfahrung, lieber Wolfgang, sondern auch kraft Deiner Verwurzelung im Glauben. Dass ein demokratischer Staat auf die Religion als Wertereservoir nicht verzichten kann, hast Du in Reden und Interviews immer wieder hervorgehoben; auch diese Überzeugung verbindet uns. Ethisch zu argumentieren und nicht rein pragmatisch, Ideale zu haben und nicht nur Ziele - das ist in der demokratischen Praxis ebenso unbequem wie es für die Verteidigung demokratischer Werte unverzichtbar ist. Wenn ich mir die
gegenwärtige Weltlage anschaue, dann bedauere ich es deshalb umso mehr, dass Deine Stimme im Deutschen Bundestag nicht mehr zu hören ist. Denn die überzeugten Humanisten und moralischen Autoritäten brauchen wir in und für Europa heute mehr denn je.
Otto von Bismarck - auch ein Freund der klaren Worte und des geschliffenen sprachlichen Stils, der nebenbei bemerkt nicht nur den Begriff „Realpolitik“, sondern auch den Begriff „Zivilcourage“ geprägt hat … - Otto von Bismarck also hat einmal gesagt: „Prinzipien haben heißt, mit einer Stange quer im Mund einen Waldlauf zu machen.“ In diesem Sinne, lieber Wolfgang, darf ich Dich dazu beglückwünschen, dass Du Deine kulturpolitischen Ziele nie aus den Augen verloren hast und mit der Stange im Mund immer wieder angekommen bist! Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Kulturgroschen!