Laudatio für Dr. Frank-Walter Steinmeier MdB

von Prof. Dr. Thomas Sternberg MdL im Rahmen der Verleihung des Ökumenischen Preises der Katholiken Akademie in Bayern - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Herren Kardinäle, Damen und Herren Minister, verehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren,

ein Ökumene-Preis an einen Politiker? Es ist ungewöhnlich, dass dieser Preis an den amtierenden Außenminister der Bundesrepublik Deutschland verliehen wird. 15 Preisträger gab es bislang, darunter acht Bischöfe aus vier Konfessionen und vier Theologieprofessoren. Nun ein Jurist und erstrangiger Verantwortungsträger deutscher Politik. Ein SPD-Politiker, der in seinem Dienst nicht zuletzt durch seinen evangelisch geprägten Glauben getragen wird. Und nun soll ich als katholischer CDU-Abgeordneter eine Laudatio halten.

Der Preis wird mit Ihnen sehr verehrter und lieber Herr Bundesminister Dr. Steinmeier auch dem Präsidiumsmitglied des DEKT, des Deutschen Evangelischen Kirchentags und Kirchentagspräsident 2019 in Dortmund verliehen. Er wird einem Mann des öffentlichen Lebens verliehen, der aus seiner Religiostät weder Aufsehen noch einen Hehl macht.

 

1) Der Ökumene-Preis

Der Name des Preises legt die Vergabe an einen Außenpolitiker geradezu nahe. Ökumene ist nicht allein der Begriff für das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten der christlichen Konfessionen. ‚Oikuméne‘, das meinte in der Antike die gesamte bewohnte Welt, den „Orbis Terrarum“. Ökumenisch, das hieß zugleich „weltweit“. Und so ist es bis heute in der Geographie, wo die Ökumene den ständig besiedelten und ackerbaulich nutzbaren Teil der Erdoberfläche meint. Knapp 50 % sind das; und dieser große Teil der Welt ist es, mit dem der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland vor allem zu tun hat.

 

2) Zeitansage und Islam

Nahezu täglich melden die Agenturen erschreckende Fälle von Terrorismus, Kriegen und anderen Gewalttätigkeiten. Die Welt ist keineswegs friedlicher geworden nach dem Zusammenbruch der Blöcke vor einem Vierteljahrhundert. Eine alte Ordnung ist zerbrochen – eine neue ist noch nicht an ihre Stelle getreten. „Wir leben in einer Welt auf der Suche nach Ordnung“, sagt Steinmeier auf dem Kirchentag Stuttgart 2015. Die Eine Welt und damit die Internationale Soziale Frage ist nicht mehr ein Randthema, sondern rückt angesichts der Weltweiten Flüchtlingsströme ins Zentrum der Politik. Die deutsche Außenpolitik ist mit neuen und auch militärischen Beteiligungen in die Pflicht genommen. Deutschland steht in einer neuen, internationalen Verantwortung.

 

Am Montag letzter Woche meldeten die Zeitungen die Reaktion des Außenministers zu dem gräßlichen islamistischen Anschlag auf Ausländer in Bangladesh: Er sprach von der

perversen Logik der Terroristen, die mit Mord und Gewalt versuchen, ganze Gesellschaften zu spalten und das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion zu zerstören“. Solche Äußerungen Steinmeiers ließen sich vielfach zitieren. Die Frage der friedlichen Koexistenz treibt ihn innen- und außenpolitisch um. Er sieht sich mit seiner eigenen Religiosität in einer öffentlichen Verantwortung für das Miteinander nicht zuletzt der Religionen.

Das in Europa in langen Jahrhunderten mühsam austarierte Verhältnis von Staat und Kirchen, von Glauben und Politik ist bis heute nicht zu einem Stillstand gekommen und gilt bei weitem nicht weltweit. Unser religionsfreundliches Grundgesetz schützt in Deutschland nicht allein die christlichen Konfessionen, sondern bedeutet zugleich, sich für die Freiheit der Religionsausübung darüber hinaus einzusetzen. Vor allem betrifft das heute Christentum und Islam.

In einer Rede aus dem vorigen Jahr klingt das so: „Religion und Demokratie treffen sich im Glauben, dass jeder einzelne Mensch die Freiheit zum guten Handeln hat. Da treffen sich auch Christentum und Islam: im Glauben, dass Gott jedem Menschen sein Vertrauen schenkt.

‚Fürchtet euch nicht!‘ und stellt euch nicht über den Anderen, heißt es in der Bibel.“

 

3) Vita

Wer ist Frank Walter Steinmeier? Er kommt aus dem Land und Kreis Lippe, dem dritten, sehr kleinen, aber umso selbstbewussteren Teil Nordrhein-Westfalens. Dorther, wo auch andere politische Persönlichkeiten aufgewachsen sind: Gerhard Schröder und Andreas Voßkuhle werden dort nicht ohne Stolz genannt. Und Steinmeier stammt - wie auch ich - vom Dorf. Er ist aufgewachsen in Brakelsiek, einem Ort in der Nähe der Stadt Detmold, die als Geburtsort im Pass unter dem Datum 5. Januar 1956 steht. Der Familienname Steinmeier ist häufig in dieser Gegend. Gut 1.000 Einwohner gibt es in Brakelsiek.

Leben auf dem Dorf schafft Bodenhaftung. Man kann das sagen, ohne den falschen Idealisierungen des Landlebens aufzusitzen. Die Unterschiede von Klassen, Schichten, Gruppen und Eliten können mangels Masse nicht so wirkungsvoll werden wie in großen Gemeinden; man kennt sich viel zu gut als dass man sich Exzentritäten erlauben könnte. Die Lipper gelten als sparsam und strebsam, geprägt von einer nie üppigen Wirtschaft. Die Lippische Landeskirche, der die Steinmeiers angehören, ist eine der kleinsten Mitgliedskirchen der EKD. Es ist der Protestantismus in seiner reformierten, calvinistischen Form, der die dortigen schnörkellosen Menschen prägt.

Politisch finden sich in dieser Gegend seit langem sozialdemokratische Mehrheiten auf allen Ebenen. Steinmeier wird 1975, mit 19 Jahren, Mitglied der Jusos. Die Vorstellung von

sozialer Gerechtigkeit ist tief verwurzelt und man sucht ihre Verwirklichung – ich sage leider – vor allem bei der Sozialdemokratie. Sie werden sich denken können, dass die wichtigsten politischen Vorbilder des SPD-Politikers Frank Walter Steinmeier andere als die meinen sind. Doch zu Recht zitiert er immer wieder Willy Brandt, dessen Politik der Suche nach einem Ausgleich zwischen den Blöcken, des behutsamen Aufwärmens im Kalten Krieg für ihn politisch leitend geworden ist.

Er kommt aus einem „bildungsfernen Elternhaus“, wie man das heute so papieren nennt. Der Vater ist Tischler in Brakelsiek, die Mutter kommt aus Schlesien. Mit einem Bruder wächst er auf. Ein Grundschullehrer hat ihn geprägt, der sich in der evangelischen Laienarbeit engagierte und das Interesse an der ‚Dritten Welt‘ – wie man damals sagte – weckte. Das Gymnasium liegt in Blomberg, neun Kilometer entfernt. Er ist der erste in der Familie, der sich auf das Studium vorbereitet und einer der ersten in seinem Dorf.

„Gesunder Menschenverstand, tiefe Abneigung gegen Aufschneiderei und eine gute Portion Gelassenheit.“, das sei es, was er aus Brakelsiek mitgenommen habe. „Wir fangen alle irgendwo an. Wir können uns das nicht aussuchen. Doch wir bleiben damit nicht identisch.“, so formuliert es Steinmeier in seinem Buch „Mein Deutschland. Wofür ich stehe“ aus dem Jahr 2009.

Nach dem Wehrdienst, wurde es im Studium statt der Architektur das „Brot- und Butterstudium schlechthin“ – wie er das nennt - , die Jurisprudenz. Die Universität Gießen wurde seine Welt als Student, Assistent, Doktorand bis 1991. Der akademische Übervater, das große Vorbild, wurde der Verfassungsrechtler Helmut Ridder, ein Lehrer aus dem linkskatholischen Milieu, dem die internationale Politik und darin die deutsch-polnische Aussöhnung ein besonderes Anliegen war – eine leider wieder höchst aktuelle und wichtige Aufgabe!

An der Uni Gießen legt er seine Dissertation unter dem Titel „Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“ vor. Die Möglichkeit einer Habilitation schlägt Steinmeier 1990 aus, um in der kurzen Zeit des historisch „offenen Fensters“ die deutsche Einheit mitzugestalten. Da kommt der zuvor nicht wahrgenommene Landsmann Gerhard Schröder ins Spiel, mit dem „die Chemie“ stimmt, und der ihn als Medienreferent nach Hannover holt, wo er es bis zum Chef der Staatskanzlei bringt und später mit seinem Dienstherrn in die Bundesregierung wechselt, wo er bald Kanzleramtsminister wird.

In Hannover – der „am meisten unterschätzten Großstadt in Deutschland“, wie er sagt – heiratet er Elke Büdenbender, die er seit Studienzeiten kennt; Juristin wie er und zeitweilig am selben Lehrstuhl tätig. Es ist eine ‚konfessionsverbindende Ehe‘, wie man heute sagt, denn sie kommt aus einer katholischen Familie im sonst so reformierten Siegerland. Einige Jahre später wird eine Tochter geboren. In Äußerungen über familiäre

Angelegenheiten hält sich dieser Spitzenpolitiker ebenso auffallend wie sympathisch zurück. Im August 2010 verlässt er für einige Zeit die Politik. Die Öffentlichkeit erfährt nur, dass er eine Organspende zugunsten seiner Frau durchgeführt hat. Bei aller Dezenz zeigt sich doch eine Prioritätensetzung in diesem Schritt. Ehe und Familie hält er nicht für Auslaufmodelle; „verpflichtende Werte“, so schreibt er, „haben sich nicht irgendwohin verflüchtigt“. Die Jahre des Pendelns zwischen Hannover, Bonn und Berlin endeten 2000, als die dreiköpfige Familie ihr Heim in Berlin-Zehlendorf bezog.

Freunde rühmen an ihm, neben seiner Zurückhaltung bei Privatheit und Öffentlichkeit, seine offene Art des Zugehens auf Andere, seine sympathisch-freundliche Art und nicht zuletzt seine Fähigkeit zur Selbstironie, wie sie in seinen Facebook-Einträgen häufig aufblitzt.

Von 2005 bis 2009 war er Bundesminister des Auswärtigen in der ersten Großen Koalition. Seit 2009 Mitglied des Bundestags, war er bis 2013 Vorsitzender von dessen SPD-Fraktion. Seit Dezember 2013 ist er wieder für ‚sein‘ Ministerium zuständig.

Dabei hätte sich Frank Walter Steinmeier auch ein intensiveres Engagement in den Bereichen Wissenschaft oder Kultur vorstellen können. Die liegen zwar in der Kompetenz der Länder, wandern aber wegen dortiger Vernachlässigung zunehmend zum Bund. Die kulturelle Bildung liegt ihm am Herzen. Und immer wieder die „kulturelle Erzählung unseres Landes“, die von Höhen und Tiefen, von Katastrophe und Neubeginn spreche. [Zitat] „Dazu gehören auch die Unterschiede in Lebensformen, von Bekenntnissen, die das Miteinander gelernt haben, dem katholischen, dem evangelischen, dem jüdischen – und mehr und mehr auch dem muslimischen. Sie zumindest zu kennen ist nicht zu viel erwartet. Sie in ihrer Konsequenz zu verstehen heißt, den gemeinsam geteilten Raum der Demokratie mit Respekt zu betreten.

Auch persönlich hat er eine Nähe zu künstlerischen Ausdrucksformen. Vor allem die Liebe zum Jazz, zur Literatur und zur Architektur ist ihm geblieben. Begegnungen mit Künstlern sind ihm auch deshalb wichtig, weil „wir durch den Eigensinn des Kulturellen die Gelegenheit erhalten, uns in Distanz zu unseren eigenen nur kleinen Ausschnitt der Welt zu setzen.“ Und so ist es kein Wunder, dass die Fachleute die auswärtige Kulturpolitik zur Zeit in guten Händen wissen.

In seinen Reden thematisiert der Außenminister bei aller Zurückhaltung in privaten Dingen auch seine Religiosität.

 

4) Religion in den Texten

  1. a. Allgemein

Besonders bemerkenswert ist eine Rede im Januar 2015 vor Studierenden in Tunis. „Hütet euch vor einfachen Antworten!“ ist sein Leitgedanke darin. Der Lockruf der Feindbilder, so sagt er, sei genauso falsch wie gefährlich. Sie beziehen sich häufig auf die Religion, aber, so weiter „wer mit Religion aufhetzt, tut genauso übel wie, wer gegen Religion aufhetzt.“ Wer die Welt durch krude Schablonen erkläre, werde nur krude Antworten geben können. Die Religion ermuntere zu Toleranz gegenüber dem Ungewissen, zum Aushalten des Andersartigen, denn es heiße in Bibel wie Koran „Gott hat die Welt und die Menschen in Vielfalt erschaffen – und in dieser Vielfalt haben wir sie zu achten.

Er wiederspricht der allzu einfachen These, Islam und Demokratie seien unvereinbar. Demokratie brauche einen ethischen Nährboden – und Religion könne ihn bereiten helfen. Hier, in Tunesien, wird er einmal ganz persönlich: „Ich selbst lebe meinen Glauben. Ich bin Christ und bin in der protestantischen Kirche aktiv. Und natürlich hat mein Christsein mit meinem Handeln zu tun: Meine Religion gebe ich ja nicht an der Garderobe ab, wenn ich morgens ins Büro gehe. […] Mein Glaube inspiriert mein Handeln, im privaten wie im öffentlichen Raum. Aber: Mein Glaube darf selbst nicht zum Gegenstand der Politik werden, und schon gar nicht zum Instrument gegen Andersgläubige. […]So gesehen kann Religion, wenn sie nicht ausgrenzt und abschottet, die Gesellschaft stärker machen.“ Da ist wieder die reflektierte Frömmigkeit, die weder vereinnahmt noch spaltet, sondern integriert.

 

b. Konfessionen

Wenige Tage danach hielt Steinmeier eine Rede über Reformation und Politik in einer Nürnberger Kirche. Nach einem Brand hatte die evangelische Gemeinde vorübergehend in der katholischen St. Klara-Kirche Heimat gefunden wie es schon einige Jahre zuvor umgekehrt war. Das außergewöhnliche ökumenische Klima in Nürnberg im Gegensatz zu den rechtspopulistischen Vereinfachern macht er zum Thema einer Rede zur Ökumene. Der offene und positive Austausch zwischen den Kirchen und Religionen sende eine Botschaft der Ermutigung. Der leider heute populär gewordenen Vorstellung, die Religion sei an allem schuld, sie sei ein Spaltpilz und der Grund für globale Krisen, erteilt er eine klare Absage und fordert alle Gläubigen dazu auf den Beweis für das Gegenteil anzutreten. Wir Christenmenschen sollen uns einmischen in diese Diskussion. Denn die Religion lehre Toleranz und Ausgleich. Mit dem ersten Petrusbrief (2, 17) fordert er seine Hörer auf „‘Ehret jedermann!‘“ und ergänzt: „und nicht nur die Christen!“

Die Quintessenz der Reformatorischen Lehre ist für ihn die tröstliche Botschaft, „weil wir uns nicht mehr um uns selbst kümmern müssen, können wir uns um andere kümmern!“ Der Einsatz für Versöhnung statt Krieg, für Liebe statt Hass sei auch dann, wenn es anstrengend wird, die Lehre aus diesem Wissen. Er mache sicher nicht seine tägliche Krisenpolitik mit der Bibel in der Hand, sie sei kein ‚Navi‘ für den Ballast der tagesaktuellen Entscheidungen, sie sei eher ein Kompass, der zur Rückversicherung und zur Selbstüberprüfung anhalte. Als Christen sind wir verantwortlich für unser Tun – und auch unser Nicht-Tun.

In einem aktuellen Beitrag für den katholischen indischstämmigen Theologen Georges Augustin in Vallendar geht Steinmeier auf die innerchristliche Ökumene ein: das Christsein verbinde beide in einer Zeit, in der alte Gräben zwischen den Konfessionen verschwunden seien. Katholiken und Protestanten eine die gemeinsame Taufe, die Kanzelgemeinschaft und der gemeinsame, unermüdliche Einsatz in der diakonischen Hilfe. Seite an Seite ständen die Kirchen in ihrer Weltverantwortung. Die kirchlichen Großereignisse Katholikentag und Deutscher Evangelischer Kirchentag werden längst selbstverständlich ökumenisch begangen. „Auch das Reformationsjubiläum verstehe ich“, so schreibt er,

nicht als eine unzeitgemäße Überhöhung der Person Martin Luthers. Sondern vielmehr als ein gemeinsames Christusfest, bei dem wir gemeinsam auf den schauen, der der Grund unserer Kirchen und Garant unserer Einheit ist: Christus.“

Für einen offensiveren Umgang mit der Ökumene setzt er sich gemeinsam mit 22 anderen Erstunterzeichnern im September 2012 ein, als er einen vor allem von Bundestagspräsident Lammert initiierten Aufruf „Ökumene jetzt“ von inzwischen fast 10tausend Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Sport und anderen Bereichen für „gelebte Einheit im Bewusstsein historisch gewachsener Vielfalt“ unterstützt.

In einer Zeit, in der die Glieder der großen Kirchen sich in einer Minderheit sehen, ist ökumenisches Auftreten schon von den Zahlen her geboten – gemeinsam machen wir sechzig Prozent der Bevölkerung aus. Die Praxis der Ökumene läuft vor allem an der Basis der Gemeinden und Gruppen sehr gut. Aber sie ist auch kein abgeschlossenes Projekt; die Arbeit für die innerchristliche Ökumene ist nicht unwichtig geworden angesichts der neuen Herausforderungen des interreligiösen Dialogs.

Christlichkeit ist in Deutschland auch außerhalb der formalen Kirchenmitgliedschaft zu spüren. Der Wahlkreis von Dr. Steinmeier liegt in Brandenburg, wo sich das vor allem in kulturellen Spuren zeigt. Was ist angesichts von aktuellen Identitätsängsten geboten? Immer wieder mahnt der Außenminister die Wahrnehmung der zugrunde liegenden Narrative an, die Haltungen und Taten bestimmen. Gelingt es uns, die christlichen Narrative in einer Gesellschaft zu bewahren, in der jene Konjunktur zu haben scheinen, die die Zukunftssorgen und Ängste der Menschen ausnutzen.

 

 

c. Religion und Staat

Gesellschaft und Staat sind auch in säkularen Zeiten auf den Beitrag der Christen angewiesen. Steinmeier formuliert hierzu: „In krisenträchtigen Zeiten sollte die Gesellschaft sehr behutsam mit kulturellen Beständen und Glaubensbekenntnissen umgehen, die dem Leben Sicherheit geben. In dieser Behutsamkeit, was den humanen Kern unseres Zusammenlebens ausmacht, sollten wir als Politiker die Gesellschaft unterstützen.“ (S 74) Das klingt wie die Behutsamkeit, die Jürgen Habermas hier in dieser Akademie im Umgang mit den Quellen anmahnte, aus denen sich unser Wertebewusstsein speise.

In seinem Buch erwähnt Steinmeier seine Bibelarbeit auf dem Kirchentag 2005 zu Deuteronomium 6, dem so wichtigen Text des Judentums mit dem Ruf „Höre Israel“ über die Erinnerung an die Rettung und den Aufbruch ins Offene. Er weist darauf hin, dass sich in der Moderne das Religiöse keineswegs auflöse, sondern weltweit gesehen wachse. Das komplizierte Verhältnis zwischen religiösen Überzeugungen, kultureller Tradition und gesellschaftlicher Praxis sieht er als eine der Schlüsselfragen unseres Jahrhunderts. „Dass eine Kultur in die offene Zukunft aufbricht, ist religiösen Extremisten und Fundamentalisten“, so schreibt er „ein unerträglicher Gedanke. Denn Fundamentalisten ersetzen die Zukunftsverheißung Gottes durch ein religiös verklärtes, letzten Endes aber doch irdisch-politisches Gesellschaftsideal, das an der eigenen Vergangenheit orientiert ist.

Auch das ist in meinen Augen eine Form von Götzendienst.“

 

5) Politikfeld Europa

Die Sirenentöne des Fundamentalismus hören wir zur Zeit besonders intensiv, wenn es um Europa geht. Ein ganzes Krisengebräu koche hier bei uns in Europa hoch, während wir es mit einer Erschütterung der gesamten Weltordnung zu tun haben, so diagnostizierte der Minister vor zwei Monaten noch vor dem Brexit. So unverhofft, wie 1989 der Eiserne Vorhang nieder gerissen wurde, so kalt habe uns die Rückkehr der Schlagbäume in Europa erwischt. Den Stürmen könne man nur trotzen, wenn wir in Europa zusammenhalten. Gegen den Populismus der Einfachheit helfen nur Differenzierungen, nur das sorgsame Horchen auf die Sorgen der Partner und der gegenseitige Austausch darüber.

Europa ist vielfach angefragt und bedroht. Wie können die europäischen Ideale bekräftigt werden? Wie erreichen wir mit der europäischen Idee wieder die Herzen der Menschen?

Europa ist auch ein christliches Projekt, auch als Christen sind wir gefragt. Gegen das Gerede vom Christlichen Abendland müssen wir entschieden auf der Definition des Christlichen im Abendland beharren, das eben nicht von Ausgrenzung, sondern von den Fähigkeiten geprägt ist, die Papst Franziskus bei der Verleihung des Karlpreises im Frühjahr genannt hat: die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zur Integration und die Fähigkeit zur Kreativität.

 

6) Politik treiben

Im Konzept Steinmeiers für eine „vorausschauende Außenpolitik“ findet sich eine sehr grundsätzliche Bemerkung, die nach der unerträglichen Verantwortungslosigkeit der Spieler um den Brexit von besonderer Aktualität ist: Es gehe ihm im Kern um eine Haltung, die er als angemessen und geradezu verpflichtend ansieht: „um Ernsthaftigkeit in der Politik“. Diese Ernsthaftigkeit in der beharrlichen und unermüdlichen Vermittlungsarbeit, sie zeichnen diesen Politiker aus.  Nicht der rasche Effekt mache erfolgreiche Politik aus, sondern sie sei das Resultat von Vorbereitung, Sondierung und klugen, oft behutsamen Weichenstellungen am Anfang und Geduld. (S. 87)

Grundlegend sei es, die Welt mit den Augen der anderen zu sehen und den anderen zuzutrauen, dass sie einen vielleicht sogar schärferen Blick haben. In festgefahrenen Situationen von zwei Konfliktparteien soll ein Dritter durch Verstehen und Vermitteln Brücken bauen zwischen Welten, die scheinbar weit auseinander liegen. Er nennt dies das

„Sechs Augen Prinzip“, das von der eigenen Wahrnehmung ausgehend, zur Wahrnehmung des Gegenübers kommt und in einem dritten Schritt eine Perspektiv entwickelt, die für beide Seiten einsichtig ist. „Das ist unser täglich Brot in der Diplomatie – diese feine Grenze des Machbaren Stück für Stück zu verschieben in den Raum des Wünschenswerten“, so der Minister im Mai dieses Jahres vor dem Europäischen Schriftstellerkongress.

Diesen Dienst tut er mit dem Risiko des Vertrauens. „Wer vertraut, der handelt; er traut sich etwas.“ (S. 123) In solcher Politikauffassung kann ihm jeder ernsthafte Politiker - gleich welcher Partei – nur zustimmen.

Die beharrliche Vermittlungsarbeit gilt auch für uns als Christen: [Zitat] „Wenn es uns gelingt, im Gespräch mit anderen Religionen die Wahrheitsfrage auszuklammern und die Handlungsperspektive und die gemeinsamen Ziele der Weltverantwortung ins Zentrum zu stellen, so ist der erste Schritt auf dem Weg zum Frieden gegangen“, schreibt er in seinem Beitrag für Georges Augustin. Das erinnert den Laudator aus Münster an den Westfälischen Frieden vor 368 Jahren: dort wurde ein Friede gefunden, der, um weiteres Leiden zu verhindern, die Frage nach der Durchsetzung der je eigenen Wahrheit ausklammerte, ohne zu relativieren, zu vereinfachen und der den festen Glauben als tragenden Grund der je verschiedenen Menschen akzeptiert.

Ein solcher Grundkonsens ist in unserer Gesellschaft gegenwärtig in Gefahr. Wir erleben eine Entfremdung zwischen auseinanderstrebenden Lebensweisen, von Bekenntnissen, Regionen, Berufswelten – von Sparten der Gesellschaft, die kaum noch in Kommunikation untereinander stehen. (S. 119 f) Vermittelnde Leitbilder können von den Medien nicht mehr erzeugt werden – das Internet gibt neben Richtigem auch jeder Form von Polemik und Diffamierung Raum. Die diffusen Ängste schaffen sich Raum in bislang nicht für möglich gehaltenen Hasstiraden und Verrohungen der Sprache, wie wir sie nach 1945 nicht mehr möglich gehalten hatten. Der Enthemmung der Sprache folgt die Enthemmung der Handlungen. Die schwindende Bindekraft von Institutionen betrifft nicht allein die Kirchen – aber als Christen sind wir aufgefordert in einer neuen Dialogbereitschaft, demütig, werbend und argumentierend, die gesellschaftlichen Grenzen zu überwinden.

 

7) Schluss

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:

In Augsburg gibt es ein ungewöhnliches Marienbild, das nicht zuletzt durch die Begeisterung des Papstes Franziskus eine erstaunliche Karriere in Südamerika und auch in Deutschland gemacht hat. Es zeigt ohne eine ikonografische Parallele Maria mit einem Band, das vielfach verknotet ist. Sie ist damit beschäftigt, einen der Knoten zu lösen. Der Bildtitel lautet deshalb die „Knotenlöserin“.

Unser diesjähriger Preisträger ist ein solcher ‚Knotenlöser‘. Er zerhaut sie nicht wie Alexander es mit dem gordischen Knoten gemacht hat, er lässt sie auch nicht ungelöst, sondern arbeitet mit Beharrlichkeit und Ausdauer daran, die teils alten, festen Verknotungen in Konflikten, Streitigkeiten und Verhärtungen geduldig aufzudröseln – im Gefüge der Staaten und Völker ebenso wie zwischen Konfessionen und Religionen.

Aufhören ist dabei keine Option, Tatenlosigkeit keine Haltung“ formuliert er mit Bezug auf Dorothee Sölle, die auch befand, „Da kann man nichts machen“ sei ein gottloser Satz. Und von dem jungen Theologen und Widerstandskämpfer Hans Scholl nimmt er die Ermutigung: „Das Ziel fest vor Augen, aber auf dem Weg dahin – mit Rückschlägen und Umwegen – nicht die Kraft und die Geduld verlieren.“ Die Kraft und Geduld erwächst aus einem Glauben, der trägt und Sicherheit gibt.

In der Begründung für den heutigen Preis heißt es: „Er nimmt eine Vorbildfunktion wahr und stärkt die gemeinsame christliche Position“. Ja, dieser Politiker stärkt uns im Kampf gegen Vereinfacher und Scharfmacher, gegen neue und alte Grenzen in den Köpfen und Herzen.

Die Antwort auf die rhetorische Eingangsfrage ob denn ein Politiker diesen Preis zu Recht erhalte muss ein vehementes ‚ja‘ sein. Der Ökumenepreis geht zu Recht an den Politiker Frank Walter Steinmeier.

Ich sage den Auslobern wie dem Preisträger dazu herzlichen Glückwunsch! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Prof. Dr. Thomas Sternberg MdL, ZdK-Präsident 

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