Friedenspotentiale der Religion. Christen und Muslime als Anwälte für den Frieden

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

In seinem im Jahre 2012 erschienenen Buch „Glaube als Option“ schreibt Hans Joas: „Mir leuchtete (und leuchtet) ja nicht ein, wie man nach dem Ende eines Jahrhunderts, in dem die größten Menschheitsverbrechen aller Zeiten von säkular-utopistischen kommunistischen Regimes und von den Nationalsozialisten verübt wurden, die sich zwar tragischerweise beträchtlicher Unterstützung von Christen erfreuten, aber eigentlich auf eine Überwindung und Beseitigung aller transzendenzbezogenen Religion zielten - wie man es nach diesen Verbrechen überhaupt naheliegend finden kann, die größte Friedensgefahr im religiösen Glauben zu sehen. Oft wird ja in diesen Zusammenhängen ganz unreflektiert der Glaube als etwas gefährlich Irrationales behandelt, das nur durch die Zurückdrängung auf die Privatsphäre unschädlich zu machen sei, während der säkularen Vernunft erstaunlicherweise ebenso pauschal friedlich-aufklärerische Züge attestiert werden.“ (S. 164f)

Wenn man trotzdem nach einem Zusammenhang von Religion und Gewalt fragt, lassen sich rasch einige Beispiele aus der Geschichte finden, die die negative Verbindung beider Größen zu belegen scheinen: Eroberungsexpansionen der Muslime, Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennung sind nur einige der Stichworte, die hier scheinbar eindeutig belegen, wie Religion Menschen mit abweichender Lebensweise stigmatisiert, ausgrenzt und sogar vernichtet. Auch aktuell sind Konflikte zu verzeichnen, die religiös gedeutet werden; der Nahostkonflikt, Konflikte zwischen Christen und Muslimen in Nigeria, sowie Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Indien, aber auch der „IS“ sind nur einige Beispiele für Konflikte, die sich auf Religionen beziehen und die berechtigte Frage nach den Gewalt-, aber auch nach den Friedenspotentialen der Religionen aufwerfen. Die eigentliche Frage bleibt allerdings, ob Religionen an sich die tatsächlichen Ursachen dieser Konflikte sind, oder ob es sich bei dem Phänomen Gewalt nicht viel mehr um ein multidimensionales und hoch komplexes Phänomen handelt, in dem primär soziale, wirtschaftliche und politische Ursachen eine Rolle spielen. Nahezu jedem Konflikt liegt eine Mischung unterschiedlicher und komplexer Ursachen zu Grunde, sodass es stark vereinfachend ist, wenn man diese nur religiös erörtert und rechtfertigt. Auch historisch gesehen sind die monotheistischen Religionen längst nicht so gewalttätig wie immer wieder behauptet wird. Dennoch ist es nicht zu leugnen, dass in den Religionen Elemente zu finden sind, die als verstärkende, vielleicht sogar treibende Kraft für das Auftreten von Gewalt dienen können.

Gerade die abrahamitischen Religionen werden verdächtigt, durch ihr Insistieren auf der Wahrheit der je eigenen Überzeugungen ein enormes Gewaltpotential in die Welt zu bringen und dies nicht erst seit Jan Assmann. Religionskritiker wie Richard Dawkins treiben derartige Vorwürfe auf die Spitze – wie Hamideh Mohagheghi und Klaus von Stosch in ihrer Einleitung zu ihrem Buch „Gewalt in den heiligen Schriften von Islam und Christentum“ anmerken (S.7) – indem sie so gut wie alles Übel der Welt auf die Religionen zurückführen. „Auch wenn man solche Extrempositionen leicht zurückweisen kann, kann man nach so vielfältigen und massiven kritischen Interventionen gegen die Religion als Theologe bzw. als Theologin der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt nicht mehr aus­weichen. (…) Politologische Forschungsergebnisse der letzten Jahre weisen zwar darauf hin, dass Religionen in der Gegenwart an keiner Stelle gewaltverursachend wirken, sondern eher als Katalysator für Gewalt bzw. als pazifizierende Kraft wirken können. Religionen können diesen Forschungsergebnissen zu Folge also Konflikte verschärfen oder entschärfen, aber sie sind nicht deren Ursache. Von daher muss man Religionen vor allzu schnellen Pauschal Vorwürfen in Schutz nehmen. Dennoch ist es eine unaufgebbare Aufgabe für die Theologien aller Religionen, das zweifellos in ihnen vorhandene Gewaltpotenzial theologisch zu bearbeiten.“ (ebd.)

Das religiöse Ethos als Friedenspotential

Wird Religion auf ihre ethische Dimension reduziert, so wird sie funktionalisiert und letztlich überflüssig. Ethische Grundlagen können auch aus der menschlichen Vernunft abgeleitet werden. Daher darf man Religionen nicht funktionalisieren, indem man sie auf eine Funktion in der Gesellschaft bzw. auf ihr Nutzen für das friedliche Zusammenleben reduziert. Dennoch besitzen Religionen ein religiöses Ethos als moralischen Universalismus. Damit meine ich keineswegs ein Weltethos, das Religionen ersetzen soll, sondern ein religiöses Ethos, das alle Menschen egal, welchem Glauben bzw. welcher Weltanschauung sie angehören mögen, erfasst.

Gerade das Christentum und der Islam verfügen über das über das Gerechtigkeitsethos hinausgehende Liebesethos: Die Nächstenliebe. Liebe schließt nicht die Gerechtigkeit aus, sondern geht über sie hinaus. Angehörige der verschiedenen Religionen sollten heute für eine Koalition der verschiedenen religiösen wie nicht religiösen moralischen Universalien eintreten. Gerade ein Bündnis von Universalisten gegen Partikularisten (religiöse Exklusivisten, Nationalisten, Rassisten usw.) ist heute gefragter als je zuvor. Religiöse Menschen sind heute herausgefordert, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Liebeskräfte in ihnen freisetzen können. Sowohl das Christentum als auch der Islam betrachten den Menschen als Werkzeug Gottes, als Werkzeug der Liebe und Barmherzigkeit, wenn er in Freiheit „Ja“ zu Gott sagt. Und genau das ist der Inbegriff und der Maßstab von Religiosität.

Herausforderungen an christliche und islamische Theologien

I. Die Herausforderung durch den religiös begründeten Exklusivismus

Der religiös begründete Exklusivismus besteht darauf, dass außerhalb der eigenen Religion keine heilshafte Erkenntnis der transzendenten Wirklichkeit bzw. Offenbarung vermittelt werden kann. Anderen Religionen kommt somit keine heilsvermittelnde Funktion zu. Der Exklusivismus ist allerdings nicht mit dem eigenen Wahrheitsanspruch zu verwechseln, dieser kann zwar, muss aber nicht exklusivistisch vertreten werden. Denn wenn ich daran glaube, dass meine Religion der Weg zur Wahrheit ist und für sich die Wahrheit beansprucht, bedeu­tet dies nicht zwangsläufig, dass es nicht andere Wege zur Wahrheit gibt. Damit relativiere ich keineswegs meinen Wahrheitsanspruch.

Exklusivisten meinen, dass Gottes Gnade und seine Zuwendung exklusiv ihnen und niemandem sonst gälten. Für einen Exklusivisten ist klar: Wenn ich ernsthaft daran glaube, dass meine Religion konfessionelle Vielfalt ablehnt, ich diese aber dennoch zulasse oder dulde, dann lasse ich etwas zu, was Gott nicht will. Ich sollte im Sinne meiner exklusivistischen Haltung die Vielfalt mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Wobei ich hiermit keineswegs Menschen, die eine exklusivistische Haltung einnehmen, als potenziell Gewalttätige hinstellen möchte. Ich will nur darauf hinweisen, dass im Exklusivismus an sich schon eine Grundlage für Gewalt steckt, denn Exklusivismus ist nichts anderes als eine Form der Ablehnung des „Anderen“. Und wenn diese Ablehnung im Namen Gottes geschieht, dann nimmt sie absolute Züge an, und wir wären nicht mehr weit entfernt von dem, was man Religionskriege nennt. Die Geschichte der drei monotheistischen Religionen kennt das zur Genüge.

Auch wenn diese Form des Exklusivismus in der – zumindest christlichen – akademischen Theologie in Deutschland kaum Freunde hat und auch aus katholisch-lehramtlicher Sicht ausgeschlossen ist, „stellt sie weltweit gesehen keine irrelevante Position dar, da sie von einer großen Anzahl evangelikaler Christen und der sich stark ausbreitenden Pfingstkirchen geteilt wird. Man denke nur an die Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission von 1970, die die bis heute gültige Missionstheologie evangelikaler Kreise auch in Deutschland auf den Punkt bringen dürfte. Hier tritt der umfassende Exklusivismus in scharfer, sonst nicht mehr so oft vertretener Deutlichkeit hervor: ‚Ebenso wie der Glaube in Buße und Taufe das ewige Leben empfängt, führt der Unglaube durch seine Ablehnung des Heilsangebotes in die Verdammnis.‘“ (von Stosch, Komparative Theologie S. 62) Auch im islamischen Kontext ist diese Haltung längst nicht nur unter Salafisten und Wahhabisten verbreitet. Von Stosch fragt zu Recht, wie man diese Position mit der Rede von einem allen Menschen in bedingungsloser Liebe zugewandten Gott zusammenbringen kann. Daher nun die Frage:

II. An welchen Gott glauben wir?

In seinem Buch „Der Mensch im Widerspruch“ schrieb der reformierte Schweizer Theologe Emil Brunner (1889–1966): „[F]ür jede Kultur, für jede Geschichtsepoche gilt der Satz: ‚Sage mir, was für einen Gott du hast, und ich will dir sagen, wie es um deine Menschlichkeit steht.‘“[1] So kann der Mensch etwa an einem Gott festhalten, der nur an sich selbst glaubt, dem es also lediglich um sich selbst geht. Religiösen und politischen Institutionen, die allein am Erhalt und Ausbau ihrer Macht interessiert sind, ist ein derartiges Gottesbild willkommen, weil sich damit eine Mentalität des Sich-Bevormunden-Lassens durch Autoritäten und somit der Unterwerfung unter ihre Macht etablieren lässt. Solche Institutionen, die meinen, das Volk zähmen zu müssen, werden jeden Versuch unterbinden, den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses von Religionen zu stellen. Man kann aber auch an einen Gott glauben, dem es nicht um sich selbst geht, sondern um den Menschen. Ein solches Gottesverständnis gibt dem Men­schen seine Mündigkeit zurück; der Mensch muss seine Autonomie nicht von Gott er­kämpfen, er kann sich vielmehr gemeinsam mit diesem Gott, der an ihn glaubt, von jeglicher Form der religiösen oder nichtreligiösen Bevormundung befreien. Viele muslimische wie christliche Theologen sind heute bemüht, sich für das Konzept eines bedingungslos liebenden und barmherzigen Gottes stark zu machen, der an den Menschen glaubt, der ihn und seine Kooperation will, der ihm vertraut und ihn daher mit Freiheit ausstattet. Denn nur mit dem Glauben an solch einen Gott kann den Anhängern dieses Gottes aus ihrem Glauben heraus eine Grundlage erwachsen, den Menschen als solchen zu würdigen. Das Hauptproblem einiger religiöser Menschen besteht jedoch darin, dass sie – wenn auch unbewusst – von einem Gottesbild ausgehen, das Gott als Antihumanisten darstellt. Sie stellen sich einen Gott vor, dem es um die eigene Verherrlichung durch die Menschen geht und der sie zu seinen Marionetten machen will, deren Rolle lediglich darin besteht, Instruktionen zu empfangen, die sie unhinterfragt ausführen müssen; ansonsten droht ihnen der Zorn Gottes, schlimmstenfalls das Höllenfeuer. Dadurch konstruieren gerade gläubige Menschen eine künstliche Spannung zwischen sich selbst und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihrer Freiheit und ihrer Mündigkeit auf der einen Seite und Gott auf der anderen. Eine Spannung, die von Religionskritikern als Argument gegen Religionen verwendet wird.

Der Islam, wie ich ihn verstehe und für den ich mich stark mache, beschreibt die Gott-Mensch-Beziehung völlig anders, nämlich als eine „partnerschaftliche“ Beziehung, in der der Mensch das Werkzeug der Liebe und Barmherzigkeit Gottes ist. Weder will Gott den Menschen bevormunden, noch soll sich der Mensch für göttlich halten. Gott will den Menschen, er glaubt an ihn, er will seine Glückseligkeit, er hat sich auf ihn eingelassen, und sich für ihn entschieden.

Die Anfragen von Klaus von Stosch sind daher berechtigt, wenn er fragt: „Was ist mit den Abermilliarden Menschen der Weltgeschichte, die gar nichts vom Christentum [oder vom Islam] wissen oder die es nur in ganz entstellter Form präsentiert bekommen haben? Kann man hier wirklich von einer Rebellion gegen Gott sprechen? Und was ist mit der Gerechtigkeit Gottes? Auch wenn es so sein sollte, dass jeder Mensch die Verdammung Gottes verdient hat, bleibt es ungerecht, wenn Gott nur einen Teil der Menschen rettet und dabei einer großen Zahl von Menschen gar nicht die Chance gibt, sich für ihn zu entscheiden. Wie soll man sich an der eigenen Rettung erfreuen, wenn unzählige andere Menschen, die genauso sündig sind wie ich, vollständig und willkürlich vernichtet werden? Müsste man nicht gegen einen solchen Gott rebellieren, der ohne jeden erkennbaren Grund manche Menschen erwählt und andere Menschen verwirft? Wie sollte man einen solchen Gott noch als gerecht oder gar als barmherzig ansehen?“ (von Stosch Komparative … S. 64)

Problematisch am Glauben an ewige Verdammnis für die jeweils anders Gläubigen, nur weil sie das „falsche“ Etikett tragen, ist, dass dieser Glaube eine Grundlage dafür liefert, religiös begründete Hierarchien unter den Menschen herzustellen. Menschen mit einem bestimmten Etikett (Muslim/Christ) haben demnach einen höheren Wert als andere. Und die eigentliche Herausforderung lautet: Wenn Gott für sich das Recht in Anspruch nimmt, im Jenseits ewige Gewalt gegen Andersgläubige nur deshalb auszuüben, wegen dem, was sie sind, dann steckt darin eine gewisse Legitimation für Extremisten, Gewalt gegen Andersgläubige auch in diesem Leben auszuüben. Warum soll etwas verwerflich sein, das Gott sich selbst erlaubt und in Ordnung findet?

III. Notwendigkeit der historischen Kontextualisierung heiliger Schriften

Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird Gewalt angesprochen. Die Frage, die sich heute stellt, ist die nach dem Umgang mit solchen Stellen in unseren heiligen Schriften. Liest man sie ahistorisch, läuft man Gefahr, sie für eine Instrumentalisierung für politische Zwecke freizugeben. Auch wenn der Koran für Muslime als das Wort Gottes gilt, schließt dies keineswegs die Möglichkeit einer historischen Kontextualisierung seiner Aussagen aus. Denn worauf es ankommt, ist das Verständnis vom Akt der Offenbarung als dialogische Kommunikation statt als monologische Belehrung durch Gott. Der Koran, verstanden als Medium und zugleich Resultat einer Kommunikation zwischen Gott und der Gemeinde Mohammeds im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel, setzt für sein Verstehen voraus, die Situation dieser Kommunikation zu verstehen. Eine literalistische Lesart des Korans ignoriert diese Tatsache, dass der Koran diskursiv im Akt der Kommunikation verkündet wurde und daher auch nur diskursiv verstanden werden kann.      

IV. Identitätsverunsicherung und das Fremden als Konstrukt

Hans Joas warnt vor einer pauschalen Rede von Religion, die die eigentlich handelnden Subjekte aus dem Blick verlieren könnte: „Die Beziehung zwischen ‚Religion‘ und ‚Gewalt‘ - und an diese denken wir doch, wenn wir nach der Friedensfähigkeit von Religionen fragen - wird also von vornherein verfehlt, wenn sie als Beziehung zweier Entitäten aufgefasst und dann nur noch unter dem Gesichtspunkt kausaler Gesetzmäßigkeiten zwischen diesen untersucht wird. Beide Seiten dieser Beziehung müssen durch den auf Handlung und Erfahrung von Menschen erst einmal ‚geerdet‘ werden, damit überhaupt sinnvolle Aussagen gemacht werden können.“ (Joas S. 168)

Religionen sind keine Entitäten, die handeln können, es sind die Gläubigen, die als Subjekte ihre jeweilige Religion auslegen und entsprechend handeln. Daher müssen wir, wenn wir über Gewalt sprechen,  über die interpersonale Dynamik der Eskalation sprechen. Ansonsten reden wir über eine rein abstrakte Dimension, wenn wir von Religion als handelndes Subjekt reden. Alle Gesprächsteilnehmer können schnell zum Ergebnis kommen, dass ihre Religionen alle samt friedlich sind, man verlässt den Dialogtisch während aber weiterhin Eskalationen im Namen der Religion stattfinden. Deshalb: Wenn ich hier von Religion spreche, dann stets im Sinne der in der Praxis von den Gläubigen gelebten Form der Religion. 

Der zeitgenössische Reformer Adnan Ibrahim erkennt in seiner Doktorarbeit über Glaubensfreiheit im Islam in einer exklusivistischen Haltung, die den anderen ablehnt und ihn ausschließt, einen Ausdruck der Selbstunsicherheit, wie sie vor allem bei den Laien vorkommt, die Angst haben, die eigene Position nicht verteidigen oder nicht überzeugend begründen zu können.[2] Um sich eine ernste Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ zu ersparen, greift man einfach zu Ausschlussmechanismen. Man eliminiert ihn geistig. Viele sehen in der Pluralität eine Bedrohung, die das Eigene relativieren will. Aber ist das Gefühl der Bedrohung nicht Ausdruck dessen, dass ich mir meiner eigenen Überzeugungen nicht so ganz sicher bin, sodass ich mich verschließe und Vielfalt nicht zulassen kann? Wenn ich mir meiner Überzeugungen sicher bin, warum sollte mich Vielfalt so beunruhigen? Warum haben viele ein Problem damit, dass Gott nicht nur ihnen gnädig ist? Warum wollen sie Gott so vereinnahmen, dass sie es nicht aushalten können, dass er Menschen mit anderen Überzeugungen auch in seine ewige Glückseligkeit aufnehmen kann und will?

Ibrahim erwähnt zusätzlich einen sozialen Aspekt, warum Menschen Angst vor Pluralität haben.[3] Exklusivität ist stark identitätsstiftend. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer exklusiven Gemeinde kann durch kritisches Hinterfragen der einen oder anderen Position des Mainstreams dieser Gemeinde erschüttert werden, daher auch die Verweigerung jeglicher kritischer Haltung. Es ist keineswegs verpönt, sich mit einem Kollektiv zu identifizieren, man darf aber das Bewusstsein nicht verlieren, dass letztendlich jeder für seine Einstellungen und Handlungen selbst verantwortlich ist. Die Selbstbestimmung ist ein Grundpfeiler des Menschseins.

Das Dasein des Eigenen ist erst durch die Ankunft des Fremden möglich. So könnte man Hegels Aussage bezüglich der Entstehung der griechischen Kultur verallgemeinern. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Bd. 12) sagte er: „Wir haben soeben von der Fremdartigkeit als von einem Elemente des griechischen Geistes gesprochen, und es ist bekannt, dass die Anfänge der Bildung mit der Ankunft der Fremden in Griechenland zusammenhängen.“[4] Auch Europa ist eine ost-westliche Fusion. Dazu bemerkt wiederum Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, „die ganze Kultur des nord-, ost- und westlichen Europas“ sei „ein Gewächs aus römisch-griechisch-arabischem Samen“.[5] Man darf nicht vergessen, dass der Islam im Mittelalter eine konstitutive Rolle für Europa spielte. Gerade zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert fand eine Hellenisierung des Islam statt. Von dieser führt eine direkte Linie zur europäischen Renaissance: Die Muslime retteten das antike griechische Erbe vor dem Vergessen und bereicherten es. Darauf konnte die Renaissance aufbauen.

Wenn heute von der europäischen Renaissance beziehungsweise der europäischen Aufklärung oder gar den europäischen Werten gesprochen wird, impliziert dies eine Selbstgenügsamkeit der europäischen Kultur und somit eine Verdrängung der Ankunft des „Neuen“. Die historischen Einflüsse des Islam auf die Entwicklungen in Europa werden verdeckt und vergessen.

Es hängt von unserer Sichtweise ab, ob wir im „Anderen“, das Fremde oder das Neue erkennen wollen. Sind wir bereit, auf dieses „Andere“ zuzugehen, oder ziehen wir uns ins „Eigene“ zurück? Wer sich für die zweite Variante entscheidet, beginnt, das „Eigene“ so zu konstruieren, als wäre es essenziell, immer und unverrückbar statisch nachweisbar so gewesen. Unter welchen Voraussetzungen aber führt Nähe zur Öffnung dem Anderen gegenüber?

Nur wenn ich weiß, wer ich bin und mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem „Anderen“ zu öffnen, in ihm das „Neue“ zu sehen. Die Begegnung des Islam mit Europa im Zuge der Arbeitermigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was oft statt Nähe Distanz hervorrief. Eine reflexive Auseinandersetzung mit der je eigenen Tradition ist daher notwendig. Der Religionsunterricht an Schulen ist ein geeigneter Raum dafür. 

 


[1] Emil Brunner: Der Mensch im Widerspruch, 4. Aufl., Zürich-Stuttgart 1965, S. 38 f.
[2] Vgl. Ibrahim 2014, S. 316f.
[3] Vgl. ebd.
[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Kapitel 18, Reclam Verlag, Leipzig 1924 (Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1657/18).
[5] Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hrsg. v. Wolfgang Proß Bd.III/1, Hanser Verlag, München 2002; S. 651.

 

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (Münster)

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