SEXUALITÄT – EHE – FAMILIE – LEBENSFORMEN
Rede von Prof. Dr. Dorothea Sattler im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort
Überlegungen im Kontext der XIV. Ordentlichen Generalversammlung
der Bischofssynode im Herbst 2015 im Vatikan
Sehr geehrte Damen und Herren,
"Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute" – so lautet das Thema der XIV. Generalversammlung der Bischöfe im Herbst 2015. Wer heute im gesellschaftlichen Gespräch angemessen über die Familie nachdenken möchte, wird dies im größeren Zusammenhang der Themenkreise Sexualität, Ehe und Lebensformen tun.
Ich habe drei kurze Redeteile vorbereitet, die nach der vertrauten Abfolge von Sehen – Urteilen – Handeln konzipiert sind. Diesen drei Hauptteilen geht eine Einleitung voraus. Am Ende steht ein ermutigender und auch – so denke ich – ermunternder Ausblick.
Einleitung: Ein "Zeichen der Zeit"
In wohltuender Weise ist die gesamte Römisch-katholische Kirche in den ersten Jahren des Pontifikats von Franziskus dazu eingeladen worden, die Kirche in der Welt von heute vorbehaltlos, wach, selbstkritisch und perspektivenreich wahrzunehmen. Es gilt ja vor allem, die Freude stiftende Botschaft Jesu Christi zu verkündigen – das "Evangelii Gaudium" auch und gerade in Fragen der Sexualität, der Ehe, der Familie und der anderen Lebensformen.
Der Begriff "Zeichen der Zeit" ist mit den Grundanliegen des 2. Vatikanischen Konzils eng verbunden. Bereits Papst Johannes XXIII. hatte seine Sorge um den Dienst der Kirche in der Welt mit einem Zeitindex verbunden: In der jeweiligen Gegenwart gilt es jene Themen aufzunehmen, die auch im gesellschaftlichen Gespräch vorrangig sind. Das Christsein ist in der Welt von heute je neu als universal glaubwürdig zu begründen. Immer ist dabei eine hohe Achtsamkeit auf das Lebensempfinden der Menschen ist erforderlich. Der "Zeitgeist" ist keine Schreckensgestalt. Um den "Zeitgeist" zu wissen ist eine unerlässliche Voraussetzung im pastoralen Handeln. Das Hören auf den Zeitgeist stellt die Notwendigkeit eines möglicherweise erforderlichen Widerspruchs nicht in Frage. Es bedarf der Unterscheidung der Geister.
In der Zeit des Konzils in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts waren in Aufnahme der damaligen "Zeichen der Zeit" wichtige Themen auf der Tagesordnung: vor allem der Ruf nach Religionsfreiheit, das neu erwachte ökumenische Bewusstsein, die Teilhabe aller Getauften am gemeinsamen Priestertum und die Reform der Liturgie. Der Familie wird in den Dokumenten des Konzils wie auch in den früheren und späteren weltkirchlichen Lehrschreiben hohe Wertschätzung zuteil. Das Ideal einer christlichen Familie wird in diesen Dokumenten gezeichnet. Offene und strittige Fragen der Sexualethik hat das Konzil nicht im Detail behandelt. Papst Franziskus hat offenkundig ein Gespür für dieses "Zeichen der Zeit" heute: Viele Menschen haben sich von der Römisch-katholischen Kirche distanziert, weil sie ihre persönlichen Erfahrungen im Kontext von Ehe und Familie als in Spannung zur kirchlichen Lehre stehend wahrnehmen. Franziskus belehrt die Menschen nicht, ohne sie zuvor nach ihrer Wahrnehmung der heutigen Wirklichkeit gefragt zu haben. Angstfrei gehen wir auf die offenen Fragen zu – und das ist ein Segen Gottes.
1. Sehen: Einblicke in die Komplexität der gesamten Thematik
Wir wissen heute mehr denn je, wie komplex – gerade auch im weltweiten Kontext – die Wirklichkeit gelebter Partnerschaft ist. Wie kaum eine andere Thematik ist die Rede von der Sexualität immer eine ganz persönliche, eine intime. Erinnerungen an tief beglückende Momente des Lebens sind mit ihr ebenso verbunden wie die Wahrnehmung nachhaltiger Verwundungen durch das eigene und das fremde Handeln. Biographische Zugänge zur Thematik legen offen, dass es gerade in Fragen der gelebten Sexualität nicht selten das Empfinden einer bestehenden Schuldverstrickung gibt, dessen Deutung den Blick über mehrere Generationen hinweg erfordert. Es ist segensreich, dass wir Menschen nicht zuletzt in therapeutischen Situationen gelernt haben, das ambivalente Erlebnis der Sexualität zu besprechen.
In einzelnen Regionen der Erde – vor allem in Europa und Nordamerika – ist in den letzten Jahrzehnten eine erhebliche Veränderung von Grundeinstellungen und Lebensweisen festzustellen. Wie einflussreich mentalitätsgeschichtliche und kulturelle Einflüsse auf die Bewertung beispielsweise gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sind, zeigt ein Blick in die Ökumene heute sehr deutlich: In mehreren weltweiten christlichen Gemeinschaften – beispielsweise im Lutherischen Weltbund oder in der Anglikanischen Kirchengemeinschaft – sind die Differenzen in der ethischen Beurteilung gelebter Homosexualität so groß, dass eine Spaltung der Konfession droht oder bereits vollzogen ist. Vor allem die evangelischen Kirchen in Afrika sehen in diesem Zusammenhang die Grundlage des gemeinsamen Bekenntnisses aufgegeben: die Orientierung an den biblisch überlieferten Weisungen Gottes. Welche Hermeneutik der Schrift ist angemessen? Wie lässt sich mit der Frage umgehen, dass auch die biblischen Texte zeitbedingt sind? Gibt es einen erkennbaren Willen des göttlichen Schöpfers im Hinblick auf die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und die Gabe der Nachkommenschaft? Was entspricht der Natur der Menschen und was sind Einflüsse der Kultur?
Niemand in der Ökumene der Kirchen geht derzeit leichtfertig mit solchen Fragen um. Niemand darf die im Gewissen zu verantwortende Überzeugung eines anderen Christenmenschen verurteilen. Es bedarf der Bereitschaft zum Dialog mit sehr vielen Wissenschaften, um vorsichtige Antworten zu formulieren – mit den Humanwissenschaften ebenso wie mit den Kulturwissenschaften.
2. Urteilen: Aspekte einer theologischen Grundlegung
Das theologische Urteil in Fragen in der Betrachtung der Ehe und der weiteren Lebensformen ist auch in der Römisch-katholischen Theologie am Maßstab der biblischen Überlieferung zu orientieren. Die kirchliche Lehrtradition möchte bewahren, was Gott selbst geoffenbart hat. In diesem Zusammenhang erscheinen mir zwei Gedanken von besonderer Bedeutung: erstens die sakramentale Würde der menschlichen Lebenspartnerschaften und zweitens die Deutung der Weisungen Gottes als Wege zu sozialer Verantwortung.
Der erste Gedankenkreis: Die sakramentale Würde der menschlichen Lebenspartnerschaft ist in den alttestamentlichen Schriften grundgelegt. In den beiden biblischen Schöpfungserzählungen werden die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und damit seine leiblich gelebte Existenz mit hoher Wertschätzung bedacht. Als Mann und Frau ist der Mensch Bild Gottes – Abbild seines Wesens (vgl. Gen 1,26f) im Hinblick auf die göttliche Lebendigkeit, seine schöpferische Fruchtbarkeit, seine Sorge um alle Lebewesen und seine verlässliche Treue. Die Propheten – vor allem Hosea (vgl. Hos 1-3; Jer 2-3; Ez 16,23) – wählen das Bild der ehelichen Gemeinschaft zwischen Braut und Bräutigam als ein anschauliches, der Erfahrung nahes Sinnbild für Gottes Beziehung zu Israel. Hier hat die theologische Idee von der Sakramentalität der Ehe ihren Ursprung: Gott zahlt selbst den Brautpreis für seinen Ehebund: Gerechtigkeit und Recht, Liebe und Erbarmen. Gott wird eifersüchtig wie ein betrogener Ehemann, wenn Israel untreu wird und fremde Götter verehrt. Gott ist bereit, Israel auch nach dem Bruch des Bundes mit ihm wieder voller Barmherzigkeit anzunehmen. In dieser theologischen Tradition bleibt auch das Neue Testament, wenn die Paulusschule im Epheserbrief die Gemeinschaft zwischen Christus und der Kirche mit dem Geheimnis der Ehe vergleicht. Die beständige Bereitschaft zur Versöhnung ist Gottes Wunsch und Wille, den Jesus Christus in Zeit und Geschichte gelebt hat. So sollen auch die Menschen sein – immerzu einander zugewandt trotz aller Anfeindung.
Ist dieses sakramentale Modell der Ehe, das die göttliche Treue und sein Erbarmen zum Leitbild hat, von Menschen zu leben? In der Ehetheologie gibt es seit längerer Zeit zwei Optionen: Die einen berufen sich auf das gegebene Versprechen, auf die personal, freiheitlich begründete Verheißung bei der Eheschließung zu Beginn der Ehe; die anderen verweisen auf die Sakramentalität des gesamten Ehelebens. Kann eine Ehe, in der Gewalt gelebt wird, in der Misstrauen herrscht, in der Verletzungen tiefe Wunden hinterlassen haben – kann eine solche Ehe noch Bild für Gottes Beziehungswilligkeit und Bundestreue sein?
Der zweite Gedankenkreis: die Weisungen Gottes, seine Tora in der Auslegung von Jesus. Offenkundig hat Jesus die Ehe im Sinne der alttestamentlichen Schriften mit hoher Wertschätzung betrachtet. Dabei lag ihm insbesondere an einer gerechten Beziehung zwischen Mann und Frau. Auch der Mann darf die Frau nicht aus nichtigen Gründen aus der Ehe entlassen (vgl. Mk 10,2–9; Lk 16,18; Mt 5,22; 19,9). Nach Markus gilt das ausnahmslos, nach Matthäus sind Zugeständnisse beim Tatbestand des Ehebruchs möglich. Eines scheint mir vorrangig wichtig festzuhalten: Im Mittelpunkt der ethischen Weisungen im Dekalog und auch bei Jesus steht die soziale Verantwortung, die die Menschen füreinander übernommen haben. Wie die alten Eltern nicht ihrer Not hilflos überlassen werden dürfen, so wird auch der Ehebruch als eine Gefahr für Leib und Leben der Mitgeschöpfe betrachtet. Jesus achtet im Sinne der Weisungen Gottes auf die Wahrung von sozialer Gerechtigkeit.
Was bedeutet diese Erkenntnis in der heutigen Gesprächssituation: Jede menschliche Beziehung ist im Sinne der Bibel als Ort der von Gott eingeforderten sozialen Treue zu deuten. Die Freude an sexuellen Beziehungen ist in Gottes Schöpfung immer erwünscht – nur sind diese einzubinden in verlässliche Formen der Lebensführung, bei der die übernommene Verantwortung füreinander Vorrang bei der ethischen Urteilsbildung hat. Im Generationenzusammenhang betrifft diese soziale Sorge gewiss auch die Nachkommenschaft, die Kinder.
3. Handeln: Pastorale Leitlinien
Die heute zu besprechende Erklärung des ZdK zum Thema der XIV. Generalversammlung der Bischöfe im Herbst 2015 steht im Kontext der lange schon anhaltenden Bemühungen in der weltweiten Römisch-katholischen Kirche, pastorale Leitlinien im Umgang mit dem Themenkreis Sexualität, Ehe, Familie und Lebensformen zu formulieren. Nach meiner Wahrnehmung sind diesbezüglich drei Aspekte besonders wichtig:
(1) Die Pastoral hat einen beständigen Bezug zu der gelebten Wirklichkeit in menschlichen
Beziehungen vorzunehmen. Realitätsnähe ist geboten. Das gelebte Leben ist ein Ort auch der theologischen Erkenntnis. Vorurteile und Denkverbote verbieten sich. Die andere Person ist immer in ihrer Freiheit zu achten. Das Gespräch mit den Menschen ist auch nach 2015 auf allen Ebenen kirchlicher Existenz weltweit ergebnisoffen und praxisbezogen fortzusetzen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob in einzelnen pastoralen Handlungsfeldern die kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Differenzen nicht verstärkt zu einer dezentralen pastoralen Orientierung gerade in unserem Themenkreis veranlassen sollten.
(2) Biographische Zugänge zu Fragen von Sexualität, Ehe, Familie und partnerschaftlichen
Lebensformen geben Einblick in die Vielgestalt der gelebten, ethisch begründeten Werte, die es anzuerkennen und zu fördern gilt, zum Beispiel: soziale Gerechtigkeit in verantwortlich gestalteter Partnerschaft unter Berücksichtigung der Generationenfolge, Verlässlichkeit und Treue, Lebensfreude und Fruchtbarkeit, Bereitschaft zu beständiger Umkehr und Versöhnung. Es gibt eine zu beschreibende "Gradualität" bei der Sakramentalität der Ehe: Jedes Gut im menschlichen Miteinander ist mit Freude aufzunehmen.
(3) Der Dialog mit allen Akteuren in Politik und Gesellschaft ist auf der Grundlage der kirchlichen Anliegen beständig zu suchen. Es bedarf eines aktiven Engagements in allen familienpolitischen Fragen.
Ausblick: Hoffnung angesichts von Papst Franziskus
Wir haben durch die pastoralen Initiativen von Papst Franziskus eine große Ermutigung zu offenen Worten auch in strittigen Fragen erfahren. Mit drei Gedanken zu seinem Pontifikat, die sich mit liebevoll gestalteten Cartoons von Gerhard Mester, die unter dem Titel "Mensch, Franziskus" erschienen sind, zu unserer Ermunterung verbinden lassen, schließe ich:
Papst Franziskus hört auf das von Menschen gelebte Wort Gottes.
Papst Franziskus weiß um die Komplexität der Lebenswirklichkeiten.
Papst Franziskus geht eigene Wege.
Prof. Dr. Dorothea Sattler