Bericht zur Lage, Rede von Alois Glück

im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Die Auseinandersetzungen um die Werte prägen die Entwicklungen

 

– Bericht zur Lage –

 

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde!

 

Wo stehen wir in Kirche und Gesellschaft? Was sind die Zeichen der Zeit? Diese Fragen begleiten uns, sie stellen sich regelmäßig auch im Rahmen dieses Berichts.

 

Vieles spricht dafür, dass sich jetzt langjährige Entwicklungen zu Krisen und notwendigen Entscheidungen verdichten. Unsicherheit und Ängste sind immer mehr spürbar. Mir scheint, wir müssen uns von der, wie Heinrich August Winkler es beschreibt, "großen Hoffnung des Jahres 1989" verabschieden, dass sich die Ideen der Freiheit, der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Demokratie bald nahezu weltweit verbreiten würden. Winkler sieht in dem Jahr 2014 ein Jahr der weltpolitischen Zäsuren, vielleicht sogar ein Epochenjahr in der Geschichte. Weithin noch unbemerkt ist dabei der gemeinsame Nenner recht verschiedener Entwicklungen, ein noch vor kurzer Zeit kaum denkbarer Wandel: Nach Jahrzehnten, in denen der pure Pragmatismus und der ökonomische Nutzen die Entwicklungen prägten, sind wir nun immer mehr in Debatten um Werte verstrickt und herausgefordert.

 

Dies wird deutlich, wenn wir auf die aggressive Haltung Russlands im Konflikt um die Ukraine schauen. Hier wird bewusst gegen die westlichen Werte argumentiert. In noch ganz anderer Weise handelt es sich bei dem unfassbar menschenverachtenden islamistischen Terror von IS im Irak und in Syrien oder von Boko Haram in Nigeria, aber auch bei anderen radikalen Gruppen, um eine Kampfansage an diese westlichen Werte. Mit dem Kampf um Werte begründen Protestgruppen wie auch Rechtspopulisten und Rechtsradikale ihr Engagement. Die jeweils dominanten Wertvorstellungen prägen bei uns und weltweit Entwicklungen und Konflikte! Mein Eindruck: Wir haben es noch gar nicht richtig registriert.

 

Heinrich August Winkler beschreibt einen wunden Punkt, ja eine gefährliche Schwachstelle, wenn er feststellt: "Seit den westlichen Demokratien die Herausforderung in Gestalt des Kommunismus abhandengekommen ist, fehlt ihnen ein Ansporn, über die eigenen normativen Grundlagen […] nachzudenken", soweit die Analyse des Historikers. Es fällt uns schwer, die Werte, die wir durch die genannten Entwicklungen bedroht und verletzt sehen, selbstbewusst als ein Gegenprogramm zu profilieren.

 

Mein Eindruck ist: Wir erahnen, wir spüren diese Dimension der Veränderung und der Herausforderung, aber wir verdrängen sie. Erwin Teufel, lange Zeit Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Mitglied dieses Gremiums, hat immer wieder betont: "Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit."

 

Zu der Wirklichkeit zählt, dass in zunehmender Geschwindigkeit die Weltbevölkerung eine Schicksalsgemeinschaft wird, wir also Teil einer Schicksalsgemeinschaft sind, deren Entwicklungen und Konflikte uns früher oder später alle erreichen und herausfordern werden. Wir möchten gerne in der Perspektive der Exportnation bleiben, die von den Entwicklungen in der Welt gern profitiert, neben den Absatzmärkten auch weltweit die Urlaubsziele sucht, – und ansonsten von den Unannehmlichkeiten dieser Welt möglichst nicht betroffen werden will. Jetzt zerplatzen diese Illusionen.

 

Menschen auf der Flucht

 

Die aktuell schmerzlichste und gleichzeitig größte Aufgabe dieser Entwicklung sind die wachsenden Flüchtlingsströme in der Welt, die auch uns immer mehr erreichen. Von mehr als 50 Millionen Flüchtlingen in der Welt wird berichtet. Sie werden aus politischen oder religiös-weltanschaulichen Gründen in ihrer Heimat verfolgt. Sie haben dort keine Aussicht auf ein gutes Leben oder auch nur auf das Überleben. In manchen Regionen der Welt gefährdet auch der Klimawandel ihre natürlichen Lebensgrundlagen. Die meisten von ihnen wollen in der Nähe ihrer Heimatregion bleiben und hoffen, eines Tages dorthin zurückkehren zu können. Andere dagegen versuchen, über die Türkei oder über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, um dort Asyl beantragen zu können. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Herausforderung der Flüchtlingsfrage – nicht nur in Bezug auf Europa – im Gespräch der Präsidien von CDU und ZdK vor wenigen Wochen eine Aufgabe für die Staatengemeinschaft, die größer und komplexer als die Bewältigung der weltweiten Finanzkrise ist.

 

Wie gehen wir mit dieser Entwicklung um? Heute, morgen und übermorgen? In unserem Land, in Europa und in weltweiter Solidarität?

 

Für die nach Europa flüchtenden Menschen braucht die Europäische Union dringend ein einheitliches und umfassendes Konzept, um deren katastrophaler Situation angemessen und gerecht begegnen zu können – nur so können Leben gerettet werden. Die verheerenden Schiffsunglücke der letzten Wochen müssen ein Weckruf für uns alle sein. Für die Staaten, für die Politik und für die Bürgerinnen und Bürger einer Europäischen Union, die sich als Wertegemeinschaft versteht.

 

Das ist gegenwärtig die größte menschliche und politische Herausforderung für uns alle als Bürgerinnen und Bürger, für die Politik, für die Kirchen. Aus unserem Menschenbild erwächst die Verpflichtung, Verantwortung zu übernehmen und Leben zu retten. Rettungsprogramme müssen dringend gestartet und ausgebaut werden, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu bewahren.

 

Die Europäische Union muss als Zukunftsstrategie mit höchster Dringlichkeit eine gemeinsame Afrikapolitik entwickeln. Im eigenen Interesse und aus Solidarität mit den Menschen. Die Bevölkerung Afrikas wird sich nach den Prognosen bis 2050 verdoppeln. Der Altersdurchschnitt liegt bei ca. 25 Jahren. Diese Menschen suchen und brauchen eine Zukunftsperspektive. Europa kann sich hier nicht durch einen Zaun oder eine Mauer abkapseln.

 

Wir müssen dazu beitragen, dass sich die Lebenschancen insbesondere der jungen Generation in den Herkunftsländern vieler Flüchtlinge aus Afrika entscheidend verbessern. Gerade die gut ausgebildeten und am ehesten mobilen Menschen unter ihnen brauchen eine Bleibeperspektive, da sie unersetzbar sind für eine umfassende Entwicklung ihrer Staaten in Wirtschaft, Politik, Gesundheitswesen und Verwaltung.

 

Die größten Brutstätten des Terrorismus und der brutalsten Gewalt sind die Länder, in denen die Staatsgewalt zusammengebrochen ist. Das ist auch ein bitteres Erbe des "arabischen Frühlings". Das ist der Nährboden für den organisierten Menschenhandel, für rücksichtslose Schleuser, die den verzweifelten Menschen die riskante Überfahrt nach Europa verkaufen und im Zweifel deren Tod in Kauf nehmen. Dagegen muss die internationale Gemeinschaft gemeinsam wirksam tätig werden!

 

Wir müssen in den Staaten Europas schließlich auch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Sie müssen fair auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden. Die Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union, aber auch die Länder, die bereits überproportional viele Flüchtlinge aufnehmen, wie zum Beispiel Schweden, Österreich und Deutschland, dürfen mit den Problemen nicht alleingelassen werden. In anderen Ländern Europas ist es bereits gang und gäbe, dass Ängste vor Flüchtlings- und Einwanderungsströmen geschürt werden und die Regierungen sich diesem Druck beugen. Ängste dürfen nicht verdrängt werden, sie dürfen aber auch nicht kultiviert und instrumentalisiert werden. Auch hier gilt: Angst ist ein wichtiger Signalgeber, aber die Angst darf uns nicht beherrschen und lähmen.

 

Hier sind Initiative und Führung notwendig. In Deutschland, in Europa und ebenso in unseren Kirchen. Die konkrete Aufgabe ist, die Willkommenskultur in unserem Land weiter zu pflegen. Eine insgesamt erfreuliche Entwicklung, die auch so benannt werden darf. In unserer Kirche gibt es bereits viele segensreiche Initiativen in Pfarrgemeinden, Verbänden und der Caritas, denen ich von Herzen für ihr Engagement danke. Wir dürfen hier nicht nachlassen, sondern werden in Zukunft noch mehr auf diesem Gebiet gefordert sein.

 

Europa als Wertegemeinschaft

 

Denn ebenso konsequent müssen wir Position beziehen, und zwar Gegenposition und Widerstand, gegenüber all denjenigen, die gegen Flüchtlinge, Asylsuchende, Menschen aus anderen Ländern, Kulturkreisen und Religionen Stimmung machen. Und es muss auch klar sein: Für Christen können Gruppierungen, die gegen diese Menschen Stimmung machen und Aktionen gegen sie planen, nie und nimmer ein politischer oder kirchlicher Partner sein – auch wenn sie noch so viele scheinbar christliche Werte propagieren und behaupten, diese zu verteidigen.

 

Meine Damen und Herren, wir Christen aus der Mitte der Gesellschaft dürfen uns die Deutungshoheit über christliche Werte von niemandem wegnehmen lassen.

 

Welche Irrwege hier bis in unsere Kirche hinein möglich sind, zeigt sich, wenn Katholiken zu einem Familienkongress in den Kreml fahren, weil Putin für vermeintlich traditionelle Familienwerte, allgemein gegen die westlichen Werte und den angeblichen Werteverfall kämpft – und wenn sie dabei dann kein Wort über die Verletzung der Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker verlieren (vgl. den Artikel "Die Rechtsausleger" in: Christ und Welt 6/2015).

 

Bei der Frage der Zuwanderung nach Deutschland müssen wir uns auch mit den gesellschaftlichen, den sozialen und kulturellen Langzeitwirkungen auseinandersetzen.

Wie ordnen wir diese Entwicklung ein in die allgemeine Debatte des absehbaren Arbeitskräftemangels aufgrund der demografischen Entwicklung?

Können wir – und wie können wir – diese Menschen am besten in unseren Arbeitsmarkt integrieren?

 

Die Politik, ebenso aber auch wir als Kirche und kirchliche Gemeinschaft sind gefordert, dafür Konzepte zu entwickeln und in unserer Gesellschaft eine offene und fruchtbare Debatte auf den Weg zu bringen.

 

Diese Entwicklung und diese Aufgabenstellungen sind eng verbunden mit dem ganzen Themenfeld Islam in Deutschland – auch ein sehr angstbesetztes Thema. Für das Zusammenleben in unserem Land gibt es eine ganz eindeutige Grundorientierung, unser Grundgesetz. Dies gilt für alle gleichermaßen, die in unserem Lande leben oder leben wollen. Die Normen und Regeln des Grundgesetzes stehen für das Zusammenleben über jedem religiösen Gesetz. Das gilt für die Muslime in unserem Land, es gilt natürlich auch für Christen und Angehörige anderer Religionen oder für Nichtreligiöse. Es gilt für das Zusammenleben auch dann, wenn es den eigenen persönlichen und religiösen Überzeugungen widerspricht.

 

Dies ist die Konsequenz der vom Staat garantierten Religionsfreiheit und der Trennung von Religion und Staat. Sich darauf zu berufen, im Sinne eines "Verfassungspatriotismus", reicht aber für ein fruchtbares Zusammenleben noch nicht aus. Das Grundgesetz mobilisiert nicht die Menschen, es ist eine Angelegenheit des Verstandes und der Einsicht, aber keine Botschaft für die Herzen und für das Zusammenleben.

 

Was ist also in dieser Stunde angesichts des Auseinanderdriftens in unseren Gesellschaften, der Entwicklungen in Europa und in der Welt zu tun? Diese Fragen und Aufgaben sind drängend. "Deutschland soll bunter werden" ist jedenfalls noch kein tragfähiges Konzept.

 

Aber was meinen wir, wenn wir von den "westlichen Werten" und von den "europäischen Werten" sprechen? Sprache prägt Bewusstsein – wenn wir im Konkreten sprachlos bleiben, werden wir auch kein Bewusstsein prägen. Wir müssen also auch konkretisieren, müssen beschreiben, was wir mit "westlichen Werten" meinen.

 

Wir sind wohl gemeinsam der Meinung, dass die "Wertegemeinschaft Europäische Union" wieder bedeutsamer wird, ja in den Mittelpunkt gerückt werden muss.

 

Die gegenwärtigen Entwicklungen in unserem Land, in Europa und in der Welt werden aber zunehmend von kulturellen Angst- und Konfliktthemen geprägt. Angst vor Identitätsverlust, Angst vor "Überfremdung", Mobilisierung von Ängsten mit Begriffen wie "Islamisierung" und "abendländische Werte". Die stärksten Kräfte der Menschen und der Völker sind religiöse Überzeugungen und kulturelle Prägungen.

 

Die immer raschere und immer dichtere Vernetzung und Internationalisierung zwischen den Völkern und Kulturen überfordert immer mehr Menschen und führt immer mehr zu sozialen und kulturellen Konflikten. Daraus entspringt auch eine neue Anfälligkeit für Radikalisierung und für Fundamentalismus.

 

Wir stehen hier vor vielen Fragen und Herausforderungen:

Was bedeuten kulturell geprägte Ängste, Überforderungen und Konflikte, die sich auch aus der immer rascheren und immer dichteren Vernetzung und Internationalisierung zwischen den Völkern und Kulturen ergeben, für unser Zusammenleben, gerade auch angesichts starker Zuwanderung?

Welchen Anspruch, welche Maßstäbe können wir mit unseren westlichen Werten gegenüber der gesamten Welt stellen?

Was bedeutet es, wenn wir andere kulturelle Prägungen, Handlungsmuster und Entscheidungen der Menschen anderer Kulturen, nicht teilen können?

Wo liegt die notwendige Gemeinsamkeit für das Zusammenleben und wo muss die Verschiedenheit akzeptiert werden?

 

Das Gespräch, die geistige Auseinandersetzung, der Dialog zwischen den Kulturen und zwischen den Religionen zählt zu den "Zeichen der Zeit" und zählt damit zu unseren drängenden Aufgaben. Dazu müssen wir wissen, was wir unter "christlichen Werten" verstehen. Bestimmte zeitgebundene Formen der christlichen Tradition?

Meinen wir das christliche Menschenbild als Grundorientierung, meinen wir die Verbindung von Freiheit und Verantwortung? Meinen wir Gerechtigkeit im umfassenden Sinne einer gerechten Ordnung, meinen wir Solidarität mit den Schwächeren hier und in aller Welt?

 

Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir uns über unsere Werte verständigen müssen. Wenn uns die "Wertegemeinschaft Europäische Union" etwas bedeutet, müssen wir das auch konkretisieren, müssen diese Werte beschreiben. Das sind alles Anfragen an uns selbst, unsere Arbeit. Es wäre unredlich, dies einfach der Politik als Aufgabe zuzuweisen und dann die kritischen Zuschauer zu spielen.

 

Papst Franziskus hat in seiner Rede vor dem Europaparlament vom gerade jetzt notwendigen Dienst und Beitrag der Christen gesprochen und mit einem aufrüttelnden Appell abgeschlossen: "Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa, das den Himmel betrachtet und Ideale verfolgt; das Europa, das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!"

 

Liebe Mitglieder der Vollversammlung,

mein Traum ist, dass wir uns mit solchen Aufgaben und Entwicklungen ebenso leidenschaftlich auseinandersetzen, Beiträge entwickeln und Wege suchen, wie mit innerkirchlichen Strukturfragen!

 

Vor dem Weltklimagipfel in Paris

 

Bevor ich zu den Entwicklungen in unserer Kirche komme, möchte ich noch kurz wenigstens zwei konkrete gesellschaftspolitische Herausforderungen ansprechen, die schon seit längerem einen Schwerpunkt unserer politischen Arbeit ausmachen.

 

2015 ist ein Schlüsseljahr für den Klimaschutz. Im Herbst kommt in Paris die Weltklimakonferenz zusammen, bei der es um die Verabschiedung eines neuen weltweiten Klimaabkommens geht. Mit diesem Abkommen werden entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft unserer Gesellschaft und unseres Planeten gestellt. Das gilt auch, wenn es zu keinen guten Ergebnissen kommt!

 

Leider musste die zuständige Bundesministerin, Dr. Barbara Hendricks, ihre Rede dazu auf unserer heutigen Vollversammlung wegen wichtiger Termine in Berlin kurzfristig absagen. Ich appelliere auf diesem Wege und im Namen des ZdK an die Bundesregierung, sich bereits im Vorfeld der Klimaverhandlungen in Paris für einen Verhandlungserfolg einzusetzen, der die notwendigen Rahmenbedingungen schafft, um die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen.  Auf diesem Weg kommt auch nationalen Fortschritten hin zu einer sicheren, wirtschaftlichen und umweltfreundlichen Energieversorgung eine Schlüsselrolle zu. Es muss deutlich werden: Ambitionierter Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit sind vereinbar. 

 

Sterben in Würde

 

Beim Thema Sterben in Würde gibt es aktuell zwei parallele Gesetzgebungsverfahren, die wir aufmerksam verfolgen und in die wir uns schon mehrfach eingebracht haben. Ein wichtiger Baustein, um Sterbenden besser beistehen zu können, ist der Ausbau von Palliative Care. Ein Gesetzentwurf aus dem Hause von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, der im letzten Herbst bei der Vollversammlung zu diesem Thema unser Gast war, wurde vor wenigen Tagen von der Bundesregierung beschlossen und geht jetzt in die parlamentarischen Beratungen. Wir werden uns an den weiteren Beratungen beteiligen.

 

In einem zweiten, in der öffentlichen Diskussion sehr umstrittenen Gesetz soll ein strafrechtliches Verbot der organisierten Beihilfe zum Suizid verankert werden. Wir haben uns frühzeitig sehr klar für ein solches Verbot positioniert. Ich gehe davon aus, dass es sehr bald einen Gesetzentwurf einer großen und wohl auch fraktionsübergreifenden Gruppe von Abgeordneten geben wird, der dieses Anliegen aufgreift.

 

Immer wieder hören wir in der öffentlichen Diskussion auch undifferenzierte Beiträge zu dieser hochsensiblen und komplexen Problematik. So haben zahlreiche Strafrechtsprofessoren – offenbar bewusst missverständlich – behauptet, auf Palliativstationen werde organisierte Sterbehilfe geleistet. Ich wiederhole hier meinen Protest gegen diesen Sprachgebrauch. Eine solche Behauptung ist irreführend und gegenüber den Ärzten und Pflegekräften ehrverletzend!

 

Es ist gut, dass die katholische und die evangelische Kirche bei diesen Fragen zusammenstehen und gemeinsam auf Verbesserungen drängen. Die organisierte Suizidbeihilfe wird ökumenisch einmütig abgelehnt – das ist ein wichtiges Signal!

 

Die Kirche vor der Weltbischofssynode

 

Eine Zeit wichtiger Weichenstellungen – das gilt auch für unsere Kirche im Jahr 2015. Mit einer Mischung von Hoffen und Bangen erwarten viele die Beratungen der Bischofssynode im Herbst des Jahres. Anlässlich der Beratung der Themen, die mit Ehe und Familie, mit Partnerschaft und Sexualität im Zusammenhang stehen, geht es um einige Grundentscheidungen und Richtungsbestimmungen für den weiteren Weg unserer Kirche. Deshalb spricht vieles dafür, dass über das Beratungsthema hinaus der Verlauf und die Ergebnisse dieser Synode von großer Bedeutung für den weiteren Weg des Pontifikats von Papst Franziskus und für den Weg unserer Kirche sein werden.

 

Wie wird die Synode die Rolle der Tradition in unserer Kirche interpretieren?

Als ein starres und abgeschlossenes System oder als fortwährenden Prozess?

Kann sich die kirchliche Lehre weiterentwickeln, wofür viele Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils sprechen, oder setzen sich diejenigen durch, die angesichts der Tradition und der dogmatischen Festlegungen keinen Bewegungsspielraum für ein Aggiornamento sehen?

 

Dass die Kirche sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt hat, zeigte jüngst Professor Hubert Wolf mit dem Buch "Krypta – Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte" und mit einem entsprechenden Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (den Sie alle schon per Postversand erhalten haben) auf.

 

Welche Bedeutung für die Entwicklung der kirchlichen Lehre und den Weg der Kirche hat der Glaubenssinn des Volkes Gottes?

Gelten weiter die entsprechenden Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils?

Welche Wege der Offenbarung gibt es?

 

Diese und andere grundsätzliche Themenstellungen sollten nicht nur bei der Bischofssynode erörtert werden, darüber sollte jetzt auch in den Ortskirchen beraten werden.

 

Zur diesjährigen Bischofssynode hat abermals eine Befragung der Gläubigen stattgefunden, die den nationalen Bischofskonferenzen Rückmeldungen zu den bislang vorliegenden Vorbereitungsdokumenten der Synode geben konnten. Als Zentralkomitee haben wir uns mit einer ausführlichen Stellungnahme daran beteiligt. Wir werden dazu morgen noch ausführlich einen Text aus unseren Sachbereichen Pastorale und Familienpolitische Grundfragen beraten. Entschieden weise ich die Unterstellungen zurück, dass diejenigen, die für einen Zugang von geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen zu den Sakramenten plädieren, gegen die Unauflöslichkeit der Ehe sind.

 

Einen aus meiner Sicht wegweisenden Text von Professor Konrad Hilpert mit dem Leitthema "Von der Sexualethik zur Beziehungsethik" finden Sie in den Tagungsunterlagen.

 

Hinsichtlich der Bischofssynode warnt er zwar vor zu hohen Erwartungen und redet von ihr als "ein riskantes Unternehmen und ein Kraftakt". Zugleich verbindet er mit ihr durchaus Hoffnungen und, wenn man so will, realistische Erwartungen:
"Dieser Kraftakt hätte sich aber schon gelohnt, wenn wenigstens das eine oder andere Signal bei den Problemen gesetzt würde, die schon seit Jahren, ja Jahrzehnten auf den Nägeln brennen […], und sei es auch 'nur', dass die Menschen in ihren Lebensrealitäten sich mehr ernst genommen und akzeptiert fühlen könnten, dass Gewissensentscheidungen stärker respektiert würden und dass evangeliumsnähere Formen des Umgangs mit Scheitern und Neuanfängen gefunden würden. Ein ermutigendes Signal könnte auch so aussehen, dass es den Ortskirchen überlassen bzw. aufgetragen würde, jeweils in ihrem Bereich angemessene Lösungen und Antworten zu finden und auf den Weg zu bringen."

Meine Damen und Herren,

für diesen Weg will ich werben. Es ist wichtig, das weltkirchliche Prinzip von "Einheit in Vielfalt" mit neuem Leben zu füllen. Um die richtige Verbindung von Vielfalt und notwendiger Einheit ist ein fruchtbares geistliches und geistiges Ringen wichtig. Ich sehe auch keinen anderen Weg, wenn Stagnation und Konfrontation vermieden werden soll, was unbedingt notwendig ist.

 

Gerade bei einem kürzlichen Rom-Besuch mit Generalsekretär Vesper ist mir wieder eindringlich bewusst geworden, wie sehr die Ortskirchen von ihren jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen geprägt sind. So ist etwa die Situation der Frauen in der Gesellschaft und in der Kirche in Deutschland und Europa völlig anders als etwa in Indien oder in Afrika. Die Einstellung zur Homosexualität ist in verschiedenen Regionen der Welt und damit auch in der Weltkirche tiefgreifend unterschiedlich – was im Übrigen auch innerhalb des Lutherischen Weltbunds und im Weltkirchenrat zu großen Spannungen und Verwerfungen führt.

 

Deshalb wäre es auch eine Engführung, wenn wir für die Ergebnisse nur unseren deutschen und europäischen Maßstab gelten lassen. Es ist aber dringlich notwendig, dass der mit der ersten Umfrage zur Familiensynode eröffnete Prozess der angstfreien Kommunikation zu diesen bislang weithin verdrängten und tabuisierten Themen weitergeht, die fruchtbare Weiterentwicklung der Lehre und der Pastoral nicht gestoppt, sondern als Prozess weiter offen bleibt und gefördert wird.

 

Papst Franziskus hat mit der Ausrufung des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit bereits ein großes Signal gesetzt, dass dieser Weg der Erneuerung, der eine Vertiefung des Glaubens und der Glaubenspraxis bedeutet, nicht beendet werden darf.

 

Darauf setzen wir, darauf hoffen wir, darum bitten wir den Heiligen Geist.

 

Ich darf Sie alle bitten, in Ihren Gemeinschaften auch eigene Beiträge zum Jahr der Barmherzigkeit zu leisten. Es muss unser aller Sache sein! Wir werden dies auch in der Vorbereitung des 100. Deutschen Katholikentags im nächsten Jahr in Leipzig beherzigen.

 

Dialogprozess der katholischen Kirche in Deutschland

 

Vorher steht im Jahr 2015 noch der Abschluss des Dialogprozesses der Kirche in Deutschland auf dem Programm.

 

Ich will einer Bewertung im Einzelnen nicht vorgreifen. Es war ein fruchtbarer Prozess. Die drängende Frage ist nun, in welcher Weise und auf welchen geeigneten Wegen nun die Beteiligung des Volkes Gottes an der Entwicklung der Kirche in Deutschland weiter erfolgen soll. Mit dem Abschluss der Veranstaltungsreihe in Würzburg sollte unbedingt auch klar sein, wie der Weg weitergeht. Darüber müssen wir in den nächsten Wochen noch bei uns selbst, aber vor allem auch mit den Bischöfen intensiv beraten.

 

Wir dürfen uns aber nicht nur auf die Strukturfragen konzentrieren. Noch mehr müssen wir in unserer Auswertung des Dialogprozesses und in unseren Schlussfolgerungen die inhaltlichen Ergebnisse und Impulse herausarbeiten und weiterführen. Dazu gehört ganz aktuell auch die insgesamt positive Entwicklung bei der Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts, die es so ohne diesen Dialogprozess nicht gegeben hätte.

 

70. Jahrestag des Kriegsendes

 

Meine Damen und Herren, ich möchte schließen mit einer Erinnerung. Heute vor 70 Jahren, am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr, wurde die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht besiegelt. Dieser Tag – so sagte der einstige Bundespräsident Richard von Weizäcker heute vor 30 Jahren – "hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft". Vor diesem Tag jedoch lagen die schrecklichsten Jahre der deutschen Geschichte. Auch die schrecklichen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung zählen dazu.

 

In diesen Tagen habe ich verschiedene Berichte über die letzten Kriegstage in meiner Heimat gelesen. Ein Geschehen, das nicht irgendwo und allgemein war, sondern im vertrauten Lebensraum. Unvorstellbar das Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit von Hass, Fanatismus, Vernichtungswut gegenüber dem eigenen Volk auf der einen Seite und Mut und Hilfsbereitschaft auf der anderen.

 

Es galt der Befehl: "Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen." Überall, wo Menschen es trotzdem riskiert haben, um ihre Orte zu schützen, wurden nicht wenige umgehend ermordet. Blinder Fanatismus bis zum Schluss!

 

Warum sind diese Erinnerungen wichtig? Warum sollen wir dieses Grauen wachhalten?

 

Wichtig und wertvoll sind diese Tatsachenberichte, wenn wir nicht in distanzierter Selbstgerechtigkeit unsere Neugierde befriedigen, sondern wenn wir uns der Frage stellen, wie sich dieses Terrorsystem des Nationalsozialismus entwickeln und zu solchem menschlichen Verhalten und zu einer solchen Katastrophe führen konnte.

 

Was lernen wir daraus?

 

Wir müssen unser Interesse vom schrecklichen Ende den Anfängen zuwenden. Nur so werden wir die Entwicklung verstehen lernen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen.

 

"Wehret den Anfängen" – was heißt das immer wieder aufs Neue? Es heißt vor allem: allen Anfängen von Stimmungsmache, Hetze gegen Menschen, allen versteckten und offenen Formen von Rassismus entschlossen Widerstand leisten. Und wenn wir uns etwas umschauen: Diese Berichte über Bombennächte, Not, Verzweiflung, menschliche Abgründe sind ja nicht abgeschlossene Geschichte.

 

In der Ukraine, in Syrien und in vielen anderen Ländern erleben viele Menschen jetzt, auch in dieser Stunde, diese Abgründe, diese Hölle des Lebens. Wenn wir die Lektion unserer eigenen Geschichte erkennen, werden wir uns gegenüber diesen aktuellen dramatischen Situationen nicht besserwisserisch und distanziert verhalten, sondern uns mit allen uns gegebenen Möglichkeiten für Frieden und Gerechtigkeit, für Solidarität mit den Bedrängten und Verfolgten einsetzen. Das ist auch eine Lehre aus unserer Geschichte und ein Gebot der Stunde.

 

Wir wollen heute Nachmittag im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Juden, Dr. Josef Schuster, und durch die Teilnahme an der Kundgebung der christlichen Kirchen hier in Würzburg ein unmissverständliches Signal geben, dass wir uns der Aufgabe stellen, immer aufs Neue wachsam und engagiert für Frieden und eine stabile Friedensordnung einzustehen.

 

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre Beiträge und unseren Austausch.x

 

Alois Glück Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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