Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik

Rede von Prof. Dr. Konrad Hilpert im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Die katholische Sexualethik ist seit einigen Jahren wieder ins Gerede gekommen, in und außerhalb der kirchlichen Öffentlichkeit. Das Interesse ist aber nicht wertschätzender Art, wie man es einem Orientierungskomplex entgegenbringt, den man begrüßt, überzeugend oder auch nur bedenkenswert findet. Eher kann man den Eindruck haben, das Interesse ist von der Art, wie man es einem berüchtigten Argument entgegenbringt, das man schon für ausgestorben hielt, das aber erstaunlicherweise immer noch lebt, und dem man alles, auch das Schlimmste zutraut. Was ist da eigentlich passiert, dass das so ist?

 

I.

Das deutlichste Ereignis im Sinne eines auslösenden Vorgangs war das Bekanntwerden der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Anvertrauten durch Priester. Besonders die Häufigkeit der Fälle und die schlimmen, oft lebenslangen Folgen für die Opfer schockierten. Als reflexive Schwachstellen wurden das Verhältnis von Nähe und Distanz, die Vernachlässigung der ganzheitlichen Ausbildung zu einer integralen Persönlichkeit und die Auswahlmechanismen der künftigen Priester offenbar. Erst recht beschädigte der – wie sich im Nachhinein herausstellte – allzu diskrete Umgang mit den Tätern und die Mechanismen des Selbstschutzes der Institution Ansehen und Vertrauen gegenüber der Kirche und ihren sonst so hochgehaltenen sexualethischen Standards. Die Aufkündigung des Auftrags einer großflächigen kriminologischen Untersuchung vor wenigen Monaten befeuerte zusätzlich den Verdacht, man nehme das Problem jetzt doch nicht so schwer. Zwischen diesen beiden Vorgängen nahm eine schon länger währende Debatte über die Verwendung von Kondomen als Präventionsmittel gegen die Ansteckung mit HIV an Fahrt auf, ausgelöst durch einen einzigen Satz des Papstes in einem vielen Stunden dauernden Interview, der von vielen als Beginn einer Öffnung der traditionellen Position interpretiert wurde; der aber bei nüchterner Betrachtung auch Verwunderung darüber auslösen konnte, dass um eine Bemerkung über die Verwendung von Kondomen bei männlichen Prostituierten so viel Aufhebens gemacht wird. Könnte man hier nicht fragen, ob die Kirche keine wichtigeren Probleme haben sollte? Zuletzt löste das Bekanntwerden des Falls einer vergewaltigten Frau große Empörung aus, der in zwei katholischen Krankenhäusern in Köln von den jeweils diensthabenden Ärzten Hilfe verweigert wurde. Die entsprechenden Richtlinien wurden daraufhin ungewöhnlich rasch geändert, mit Hinweis auf die nichtabortative Wirkung neuer Medikamente; aber sowohl in der Argumentation wie auch im Procedere blieben hier viele Fragen offen.

Man könnte sagen – und viele wollten es auch so sehen – das sind schlimme Einzelfälle, bedauerlich genug, aber eben doch Einzelfälle. Andere wollten es als Ungeschicklichkeiten werten, bei denen eine komplizierte Angelegenheit an die falschen Leute geraten war oder man hilflos in eine öffentliche Falle getappt ist, die ausgelegt worden sei, um das Image der Kirche als altmodisch, sexualfeindlich, unsensibel gegenüber Frauen bestätigt zu bekommen. Es brauche lediglich eine feinere kirchliche Regulierung und eine Ergänzung der geltenden ethischer Standards.

Aber das alles reicht offensichtlich nicht. Es spricht vielmehr alles dafür, dass die genannten Probleme und Debatten in einem Kontext und in einer verhängnisvollen Entwicklungslinie stehen und dass sie eben nicht ohne Grund so passiert sind, wie wir es wahrnehmen und als Katholiken über uns ergehen lassen mussten. Sie sind Symptome der Verfassung, in der sich die Institution auf diesem Terrain befindet. Dazu kommt erschwerend, dass es auch eine Reihe neuer Situationen und Fragen im sexualethischen Feld gibt, die in den unzähligen kirchlichen Papieren und Stellungnahmen keine oder allenfalls grobe Antworten erhalten, etwa die jüngst von einer Boulevardzeitung groß aufgemachte Frage, wie der Pornokonsum die Vorstellungen von Kindern und die Sexualität von Jugendlichen gefährlich verändert.

Die Gründe für die schwierige Lage der Sexualethik liegen offenbar nicht nur bei ungeschickten Akteuren und den Repräsentanten, die in den Medien als Anwälte der kirchlichen Positionen auftreten oder nach dem Grundsatz „Je absonderlicher, desto besser für die Dramaturgie“ um ihr Votum gebeten werden. Sondern sie hat auch mit der Art des ethischen Argumentierens, mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und mit dem Verhältnis von Kirche, Hierarchie und Theologie sowie auch etwas mit Spiritualität zu tun. Ich spreche deshalb im Folgenden einfach von Problemen der Theorie, Problemen der gesellschaftlichen Entwicklung, Problemen der Kirchlichkeit und Problemen der Spiritualität.

 

II.

1. Probleme der Theorie: Die beiden misslichsten Punkte in der traditionellen Sexualethik sind die Bezugnahme auf die menschliche Wesensnatur und der Durchgriff auf konkrete Verbote der Tradition. Beides hat zweifellos seine Berechtigung und seine Größe. Aber „Natur“ kann immer nur einen Raum der Unbeliebigkeit chiffrieren, der auch noch ständig neu vermessen werden muss; und konkrete Handlungsempfehlungen, wie wir sie in der Tradition finden, benötigen eine Hermeneutik, die den geschichtlichen und den gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt. Man braucht ja nur die Gegenprobe zu machen und zu registrieren, was alles schon einmal mit diesen Argumenten gerechtfertigt wurde, und es wird einem schnell klar, wie willkürlich oder machtaufgeladen solche Argumente sein können, gerade im Hinblick auf die Gestaltung von Sexualität.

 

2. Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung: Ich darf mich hier auf drei Hinweise beschränken, nämlich die Möglichkeit der Steuerung der Empfängnis, wie es sie in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat, die Notwendigkeit der Identitätsarbeit und deren Auswirkungen auf die Partnersuche und die gewachsene Selbstständigkeit der Frauen. Durch die Möglichkeiten, Empfängnis zu steuern, ist „die Macht des Schicksals“ zumindest erheblich eingeschränkt. „Wer Sexualität praktiziert, muss mit Schwangerschaft rechnen“ machte die eigentliche Logik der traditionellen, hauptsächlich aus Verboten bestehenden Sexualethik aus. Auch heute wollen die meisten eine Sexualität mit Verantwortlichkeit. Aber die wenigsten akzeptieren, dass sie erzwungen werden soll mittels Verboten der Steuerung von Schwangerschaft. Hinsichtlich der Partnersuche hat sich die Situation für die meisten jungen Leute erheblich kompliziert, insofern die Akteure nicht  ihrer selbst gewiss sind, wenn sie den Zeitpunkt der Geschlechtsreife erreicht haben, und erst recht nicht ihres Partners, den sie ja meist nicht mehr in gleichem Milieu finden und wertschätzen lernen. Und schließlich: Frauen verstehen sich nicht mehr ausschließlich von der wahrscheinlichen späteren Rolle als Mutter her, sondern sie haben eigene Pläne und Erwartungen an ihre Biografie. Nicht Versorgtwerden ist das entscheidende Lebensziel, sondern mehrere Optionen haben, also Beruf, Mutterschaft, selbstständiges Gestalten des eigenen Lebensraumes, Karriere realisieren dürfen und dies alles ausgehandelt auf Augenhöhe.

3. Probleme der Kirchlichkeit: Das Problem der Kirchlichkeit von Glaube und Theologie wurde lange Zeit so gesehen, dass es um möglichst weitgehende Geschlossenheit mit der Hierarchie und dem Lehramt geht. Diese Geschlossenheit wurde einerseits kräftig unterstützt und gefördert, und von der anderen Seit her wurde ihr mit Kontrollmaßnahmen nachgeholfen. Von bestimmten Gruppen in der Kirche abgesehen klappt das eine nicht mehr, auch weil die Menschen Alternativen haben und Orientierungen nicht einfach vom hohen Sockel geholt werden können; andererseits gelingt das nicht mehr, weil sie merken, dass sie die jeweils von ihnen eingenommenen Standpunkte doch mühevoll für sich plausibilisieren und gegenüber den anderen verteidigen müssen. Was aber durchaus noch geht, jedenfalls teilweise, ist die Kontrolle mittels Beanstandungen, Vorbehalten bei Berufungen und notfalls dem Entzug der Lehrbefugnis. Zum Glück passiert das nur ganz selten; aber die Angst davor ist zweifellos da, und sie ist dafür verantwortlich, dass die Sexualethik inzwischen ein besonders schwach und wenig bearbeitetes Feld des theologischen Nachdenkens ist – ganz im Gegensatz zu anderen Bereichen des menschlichen Handelns und der Gestaltung von Gesellschaft. Man vermeidet das Problem, indem man nicht darüber spricht. Zum Glück ist dies in den letzten zwei bis drei Jahren besser geworden, was sichtlich mit der Erschütterung über die Missbrauchsfälle zu tun hat.

4. Probleme der Spiritualität: Wenn ich es richtig sehe, ist der eigentlich Punkt, an dem wir in der derzeitigen kirchlichen Realität leiden, die Glaubwürdigkeit. Es hat einen massiven Vertrauensentzug gegeben, von außen, wo Kirche sich gern als Anwältin der Moral gibt oder ihr diese Rolle angemutet wird, aber eben auch von innen, wo viele Kirchenmitglieder empört sind und ihre Erwartungen auf null abgesenkt haben oder sogar zu globalen Verdächtigungen neigen, sicher häufig zu unrecht. Es gibt eben die gelebten, auch wahrgenommenen, aber doch versteckt gelebten Priesterehen, es gibt ein erhebliches Maß an Homosexualität bis in die Zentralen hinein – und gleichzeitig hat man so viele starke Bedenken gegen bessere Lösungen für die Wiederverheiratet-Geschiedenen und die Teilnahme evangelischer Ehepartner an der Eucharistie. Es ist eine Frage moralischer Redlichkeit der kirchlichen Binnenkultur, wie wir mit konfliktären Lebenslagen umgehen, aber es ist auch eine Frage der eigenen Spiritualität. Und wenn das so ist, gehört zu dieser Redlichkeit der kirchlichen Binnenkultur auch, dass die Verantwortlichen Irrwege und die Belastung der Gewissen eingestehen und zu den Fehlern der Kirche stehen. Sowohl das II. Vatikanum in mehreren Dokumenten als auch Johannes Paul II. mit seinen Vergebungsbitten im Jahr 2000 haben hier doch einen ermutigenden Anfang gemacht.

Also: „Das“ Problem gibt es nicht, sondern das „Problem“ ist mehrdimensional. Und deshalb gibt es auch keine einfachen Lösungen und Alternativen, wie man das sexualethische Sprechen von Kirche möglichst schnell, nachhaltig und mit möglichst großer Bewunderung der Öffentlichkeit heilen könnte. Ausdrücklich hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf zwei Illusionen, die auch bei Wohlwollenden sehr verbreitet sind, nämlich: Es handle sich lediglich um ein Sprachproblem, und die genannten Probleme träten vor allem bei den Kindern und Jugendlichen auf. Um ein Sprachproblem handelt es sich sicher auch, aber nur: auch. Das reicht schon viel tiefer. Und bei Kindern und Jugendlichen fällt mir immer auf, dass Vorträge über diese Themen in ganz Deutschland zwar bis auf den letzten Platz besetzt sind, aber dass der ganz überwiegende Teil der Besucher zu den Ü60jährigen gehört. Und die wenigen Jüngeren, die sich für die Meinung der Kirche zu diesem Bereich interessieren und die Probleme nicht mit sich selbst und den Gleichaltrigen ausmachen, wollen das nicht in der Öffentlichkeit diskutieren, sondern in kleinen geschlossenen Kreisen, wo man einander bestärkt.

Wenn es also weder nur um die richtige Formulierung geht noch um ein Problem, das nur Jugendliche auf dem Weg des Erwachsenwerdens haben, was könnte dann aber die Zielrichtung einer Erneuerung sein?

 

III.

Ich meine, dass wir gut daran täten, bei der Festlegung dieser Zielrichtung an die Intentionen der Pastoralkonstitution Gaudium et spes anzuknüpfen, in der vor 50 Jahren das II. Vatikanische Konzil sich zu einer programmatischen Neubestimmung dessen, was der Sinn und die Aufgabe von Kirche unter den Menschen von heute ist, durchgerungen hat. Wir treffen in diesem Text zunächst auf einen methodischen Paradigmenwechsel, der beinhaltet, dass Kirche zwar nicht eigentlich mit Gesellschaft identisch ist, aber vor allem auch nicht eine völlig selbstständige, eigengesetzliche und sich selbst genügende soziale Größe, sondern ein Teil der Gesellschaft und des kulturellen Lebens. Das ist von erheblicher Bedeutung, weil die Situation der Gesellschaft als in tiefgreifenden Wandlungsprozessen befindlich beschrieben wird (Art. 5,6,7). Mit dem Topos von den Zeichen der Zeit, die es aufmerksam zu registrieren und zu erforschen gelte, und die dann auch im Licht des Evangeliums gedeutet werden müssten (4), ist eine Verpflichtung proklamiert, das, was sich an Entwicklungen in der Gesellschaft abspielt, wahrzunehmen und ernst zunehmen; selbst wenn sie sich nicht aus der theologischen Tradition aufdrängten, seien sie von theologischer Relevanz. In den Texten selbst werden seit der Enzyklika Pacem in terris, die zum ersten Mal diesen Topos verwendet hat, eine Reihe von Beispielen für Zeichen der Zeit genannt, etwa die Anerkennung der Grund- und Menschenrechte, das wachsende Bewusstsein der eigenen Würde, die Gründung der UNO und die Erklärung der Menschenrechte von 1948 und anderes mehr. Aus der Sexualethik findet sich nichts ausdrücklich darunter. Aber es gibt weder Sinn noch Grund, bei den genannten Beispielen von Zeichen der Zeit stehen zu bleiben und nicht auch Entwicklungen, die danach in Gang gekommen sind, als Zeichen der Zeit zu würdigen, etwa das Bemühen um mehr Partnerschaftlichkeit zwischen den Geschlechtern, das Bemühen, den Kindern auch unabhängig von den Eltern Rechte zuzuerkennen, das Bemühen um Nichtdiskriminierung, die Verbesserung der rechtlichen Lage von Geschiedenen, das Bemühen um mehr Inklusion usw.

Ein zweiter Anstoß aus Gaudium et spes ist das Selbstverständnis des gelebten Weltverhältnisses: Das Grundverhältnis ist nicht das des Bestimmens und des moralischen Beurteilens von allem und jeden aus der übergeordneten Position des Besserwissens, sondern das des Fragens und des Lernens. Das ist natürlich etwas anderes als die bloße Selbstaufforderung sich anzupassen. Lernen – das heißt: wahrnehmen, heißt: auf den Anderen hören können, heißt, sich die Mühe machen, die Erfahrungen zu würdigen, die andere in ihrem Lebensumfeld, in ihrer Umgebung, auch im Laufe ihrer Biografie gemacht haben, auch die Erfahrungen mit dem Glauben und mit der gewählten Lebensform und dem Versuch, Glauben in gestaltetes Leben zu übersetzen. Das umfasst im Blick auf die Sexualethik auch das Leben mit Ehe und Familie, aber auch die Lebenssituation Wiederverheiratet-Geschiedener, das Leben in anderen Beziehungsformen, die Suchbewegungen in Beziehungen, die noch nicht Ehe sind. Das Ziel kann natürlich nicht sein, dass alles über einen Kamm geschert und für gleich gut erklärt wird, aber sehr wohl, dass gesehen wird, was da an Suche, an Ernst, aber auch an Verpflichtung und an Werten gelebt wird – auch in den Konstellationen, die, rein an der Norm gemessen, nicht den Erwartungen entsprechen.

Und da ist als drittes die große Anstrengung in Gaudium et spes selbst (Art. 47-52), Ehe und Familie anders als bis dahin, nämlich stärker personal und weniger rechtlich zu bestimmen. Die Ehe wird primär als Lebensgemeinschaft zweier Personen verstanden, gedeutet mit Hilfe der theologisch schwer aufgeladenen biblischen Kategorie des Bundes und eben nicht mehr primär als Vertrag, in dem die gegenseitigen Rechte und Pflichten objektiv definiert sind. Die Liebe wird als wesentliche Voraussetzung und als Gehalt und Ziel der Lebensgemeinschaft und der sexuellen Begegnung gewürdigt, die in sich ein Wert ist und nicht nur ein unterstützendes Mittel zur Erzeugung der Kinder. Das II. Vatikanum hat dabei  zugegebenerweise nur Ehe und Familie in den Blick genommen ist gar nicht auf die nichtehelichen Beziehungen eingegangen. Aber es hat damit die jahrhundertelang dominierende naturalistische und funktionalistische Sicht der Sexualität im Prinzip überwunden. Die Diskussion um die Erlaubtheit der Empfängnisverhütung, die schließlich in die Enzyklika Humanae Vitae mündete und in Familiaris Consortio eine Zuschärfung erhielt,  hat dieser Sicht die Spitze abgebrochen oder sie in eine andere Richtung gelenkt. Sicher! Trotzdem ist die entschiedene Einforderung der Personalität als einem Grundprinzip der kirchlichen Sozialverkündigung für die Sexualethik ja in keiner Weise revidiert worden! Und deshalb scheint es mir völlig legitim und auch notwendig, die Fixierung der sexualethischen Diskussion auf Humanae Vitae als Verengung aufzubrechen und das, was sich entwickelt hat und gelebt wird, auch von Katholiken, nicht einfach nach dem Raster „Ehe oder Nicht-Ehe“ zu beurteilen, sondern im Blick auf das Ziel, wie in den diversen Beziehungsgestalten und überall dort, wo Sexualität gelebt wird, mehr personale Liebe Platz bekommen kann, das heißt konkret: mehr Achtung und mehr Achtsamkeit, mehr Wahrhaftigkeit, stärkere Treue, mehr Sensibilität und Rücksichtnahme, mehr Bereitschaft, sich auf den Partner einzulassen realisiert werden kann.

 

IV.

Ich meine, da sollten wir hin; das sind Ziele, die – fünfzig Jahre nach dem II. Vatikanum – nicht vergessen und nicht zurückgenommen, sondern durchaus eingefordert werden sollten. Und dann bleibt man durchaus auf solidem kirchlichen Boden von Ganzheitlichkeit, vorbehaltloser Zusage und Fruchtbarsein in Neuem als den entscheidenden Werten von Ehe, auch wenn manchen Repräsentanten das nicht gefällt und einige Gruppen sogar meinen, die Sendung zu haben, einem das gerade abzusprechen. Damit möchte ich mich jetzt aber nicht auseinandersetzen, sondern noch einen Blick darauf werfen, was der Stand der moraltheologischen Bemühungen um die Sexualethik ist. Um dies zu skizzieren, benutze ich noch einmal die vorhin erwähnten Punkte als Perspektiven der Kristallisation, also:

1. Was die Theorie betrifft, so lässt sich die markanteste Verschiebung durch das Stichwort „Beziehungsethik“ charakterisieren. Es will besagen, dass Sexualität unter Menschen nicht in erster Linie als Mittel zu einem Zweck – sei es die Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses oder aber die Fortpflanzung – sondern als spezielle Art von Kommunikation aufgefasst wird, in der personale Güter, also etwa Zuneigung, Anerkennung, Wertschätzung, Zugehörigkeit, Fürsorge, Bereitschaft zu Solidarität, Annahme, Trost mitgeteilt werde. Und es will im Blick auf die Innenseite der handelnden Subjekte besagen, dass hier nicht um die Bestimmung der Grenzen geht, innerhalb derer Befriedigung erlaubt und jenseits derer sie verboten ist, sondern um Verantwortung für Beziehungen zu Menschen, denen man emotional und leiblich nahekommt und mit denen man auf vielen Ebenen interagieren kann. Von Bedeutung ist bei der sexuellen Begegnung im Kontext von Beziehungen des weiteren, dass ihre Sicht als punktuelle Akte nicht der Tatsache gerecht wird, dass es sich um die Interaktion von Personen handelt, die sich ganzheitlich einbringen können und die ein sehr viel umfangreicheres Spektrum gegenseitigen Miteinander Umgehens haben als nur genitale Akte. Sexualethik muss also von den Beziehungen her gedacht und ausgestaltet werden und nicht umgekehrt, also in der Weise, dass die aufgrund von naturalen Vorgaben bereits genormte Sexualität als der Rahmen genommen wird, von dem her Beziehungen als erlaubt oder als unerlaubt beurteilt werden. Das objektive Wesen und die subjektiv mögliche Sinnfülle von Sexualität unter Menschen wird dort realisiert und entfaltet bzw. verfehlt, wo sie in den Kontext der Beziehungsdimension menschlichen Daseins eingestellt wird. Dieser Perspektivenwechsel von der Sexualethik herkömmlicher Art zur Beziehungsethik hebt die Orientierungsbedürftigkeit menschlicher Sexualität keineswegs auf, sondern macht sie im Gegenteil anspruchsvoller, weil Beziehungen zwar maßgeblich durch die Persönlichkeiten der Partner geprägt sind und auf diese wiederum zurückwirken, aber zugleich als etwas bewusst gemacht werden, was fragil ist, also neben Chancen auch spezifische Risiken enthält; als etwas, was gerade wegen der Unterschiedlichkeit der Menschen und der Vielfalt der Begegnungsebenen gestaltet, stabilisiert und sozial gefördert werden muss; und schließlich auch etwas, was erst entwickelt und durch immer wiederholte und für Wachstum offene Interaktion gegen den Fluss der Zeit auf Dauer gestellt werden muss. Dazu sind Vertrauen, Verlässlichkeit, Annahme, Verantwortung, Treue wichtiger als das Wissen um ganz detaillierte Verbotsnormen.

2. Was die gesellschaftlichen Entwicklungen betrifft, so scheint mir das hervorstechendste Element die gewachsene Sensibilität für Verletzbarkeit zu sein, die in die Sexualethik positiv aufgenommen und zu maßgeblicher Entfaltung gebracht werden muss. Diese Beachtung der Verletzbarkeit gilt für alle, auch für Mann und Frau in ihrem gegenseitigen Miteinander, aber besonders im Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern und Jugendlichen und allen anderen Anvertrauten bzw. sich Anvertrauenden. Denn die Erwachsenen bzw. professionell als Helfer Tätigen sind einerseits durch die Vorleistung von Vertrauen, und andererseits durch die Überlegenheit an Wissen und Erfahrung überlegen. Umgekehrt sind Kinder und Jugendliche gerade nicht fertig, sondern auf ihre Entwicklung ausgerichtet. Diese ist auf Zukunft hin offen, weshalb es bei ihrer Begleitung sowohl darauf ankommt, ihnen ein stabiles und förderliches Umfeld zu geben, als auch, ihre besondere Offenheit und Unerfahrenheit vor Ausbeutung, Verführung und Fremdsteuerung zu schützen. Wegen der besonderen Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen genügt es ihnen gegenüber gerade nicht, was oft als die entscheidende oder sogar alleinige ethische Orientierung für sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen geltend gemacht wird, nämlich das gegenseitige Einverständnis. Die Achtung vor der Person des Kindes und seiner Entwicklungsfähigkeit und Offenheit für die Zukunft erfordert vielmehr, dass sein Interesse und seine Optionen für die Zukunft erhalten bleiben und dass sie davor geschützt werden, von Anderen, die ihnen aus ganz anderen Gründen sehr nahe sind, sexuell instrumentalisiert zu werden. Das ist nicht nur eine Angelegenheit besserer Praxis und Disziplin, sondern sollte auch ein Thema der erneuerten Sexualethik sein.

Der geschärfte Blick für die Verletzbarkeit betrifft übrigens nicht nur die Bedingungen der Begleitung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene, sondern erstreckt sich darüber hinaus auch auf den Binnenraum von Beziehungen und auch bis in die Lebensform Ehe. Denn auch innerhalb dieses, auf Vertrauen und Zugehörigkeitsgefühl gegründeten privilegierten Rahmens kann Nähe und Schutzlosigkeit missbraucht, Überlegenheit ausagiert und können Grenzüberschreitungen stattfinden.

3. Wenn wir von der Kirchlichkeit der Sexualethik sprechen, dann sollte es einerseits um die Sorge für ein Klima gehen, in dem gelernt, Erfahrungen ausgetauscht werden können, aber auch beraten wird und Scheitern angenommen wird. Aber es soll andererseits auch darum gehen, dass die Anvertrauten Schutz erfahren und dass organisationsethische Strukturen ausgebildet werden, die darauf hinwirken, dass die moralischen Haltungen des achtsamen und teilnehmenden, zugleich aber respektvollen Umgangs mit den Menschen in der Verschiedenheit ihrer Lebenslagen gestärkt werden. Ferner, dass es transparente Regeln gibt für den Umgang mit Verstößen, mit Verdacht und mit Hilfebedürftigkeit. Und schließlich auch, dass bei der Rekrutierung des zukünftigen Personals die Entwicklung der Persönlichkeit einschließlich der Integration der Sexualität in diese gefördert und problematische Neigungen aufmerksam erkannt und Bewerber gegebenenfalls für eine berufliche Tätigkeit im eigenen Bereich deshalb nicht zugelassen werden.

4. Zum vierten Stichwort, nämlich zur Spiritualität, scheinen mir zwei Dinge von herausragender Bedeutung zu sein. Das Eine hängt mit der Art des sexualethischen Sprechens und Argumentierens zusammen. Während bisher das Sprechen im Gestus des Belehrens und Unterweisens vorgeherrscht und der Eindruck entstehen konnte, es handle sich bei der kirchlichen Sexualethik um ein regelrechtes und weitgehend komplettes Lehrgebäude, sollte das Lehren in Zukunft stärker als Kommunizieren und Anregen und Hilfengeben zum Personsein gestaltet werden. Gemeint ist hiermit vor allem, dass das Lehren in einem Sprechmodus erfolgt, der die Fragen der Menschen aufnimmt und Denkprozesse anregt, der die Adressaten mit ihren Erfahrungen und Überzeugungen einbezieht und als Subjekte, die sich um ein authentisches Leben aus dem Glauben bemühen, auch in ihrem Suchen und in ihrem Scheitern ernst nimmt, und der schließlich auch der Stimme der Verletzten, Verlassenen, Missbrauchten und Gedemütigten Gehör schenkt. Ermutigendes und Verantwortung bestärkendes Sprechen statt verbietendem und rügendem also. Ziel einer solchen kommunikativen Entfaltung kann dann aber weder eine möglichst vollständige Sexualethik noch die Fixierung konkreter Verhaltensregeln sein, sondern Ziel muss die Bereitstellung von Hilfen und Kriterien für die Gewissensbildung von Subjekten sein, die eigene Entscheidungen fällen und die Verantwortung dafür vor Gott, vor Anderen, vor ihrem eigenen Selbst übernehmen müssen (Geoffrey Robinson).

Das andere Anliegen hängt mit der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung derer zusammen, die sich in der Ausbildung und Vorbereitung einer Profession befinden, die sich der Arbeit mit anvertrauten Menschen widmet. Sie müssen, gleich ob sie später in einer Beziehung mit einem Lebenspartner leben oder auf Ehe verzichten möchten, einen psychosexuellen Reifungsprozess durchlaufen. Wer Beziehungsarbeit zum Schwerpunkt seines Berufs macht, muss selber ein unbefangenes Verhältnis zu seiner Sexualität gewinnen, sich ihrer entwicklungsspezifischen Ausprägung gestellt haben, sie kennen und sich selbst als Mann bzw. als Frau realisieren. Die psychosexuelle Entwicklung betrifft nicht nur die Integration der körperlichen Gegebenheiten und Entwicklungen ins eigene Selbsterleben und ins Selbstverhältnis, vielmehr findet sie notwendigerweise in einem sozialen Beziehungsfeld statt, in dem das jeweilige Selbstbild gegenüber anderen dargestellt, erprobt, in Beziehung gesetzt, balanciert, abgegrenzt und behauptet werden muss. Diese sozialen Kontextuiertheit stellt die Personen, die auf tragende Beziehungen aus sind, und auch die, die durch Beziehungsangebote andere, sich ihnen zu einem bestimmten Zweck Anvertrauende, fördern und unterstützen sollen, vor die Aufgabe, die Fähigkeit zu Nähe und Distanz und zur konsequenten Unterscheidung beider zu erwerben, und sie verlangen die Fähigkeit, sich an etwas oder andere hinzugeben und dennoch sie selbst zu bleiben. Sie müssen mit anderen Worten authentisch sein werden, das heißt den vielfältigen und inhomogenen Erwartungen gegenüber, die via sozialer Leitbilder, ästhetische Moden, Gruppendruck u.a.  auf sie einstürmen, den Willen und auch den Anspruch haben, mit den eigenen Wertoptionen kongruent und in der eigenen Identität im Verlauf der biografischen Entwicklung kohärent zu bleiben. Dieser Wille zur Authentizität erweist sich unter den Bedingungen zunehmender Pluralität der Lebensstile und zugleich der Weltanschauungen als notwendige Bedingung gelingender Beziehung wie auch als zentrales Kriterium der persönlichen und der rollenspezifischen Glaubwürdigkeit. Auch das muss ein Thema erneuerter katholischer Sexualethik sein.

Ich persönlich glaube, dass in der Gewinnung von Authentizität auch der Ansatzpunkt liegt, die leidige Diskrepanz zwischen amtlichen Forderungen und gelebten inneren Überzeugungen des Großteils der Gläubigen, auch derer, die der Kirche als Ganzer und dem Amt gegenüber wohlwollend eingestellt sind, anzugehen und zu überwinden. Authentizität also statt bloßem Festhalten an Idealisierungen und Normierungen der Tradition, deren Sinn und Berechtigung kaum jemand nachvollziehen kann. Zwar können Ideale wertvolle Zielgestalten und Vorgaben sein, insofern sie uns helfen, einen aus vielen kleinen Schritten bestehenden Weg zu einem Ziel trotz aller Schwierigkeiten zu gehen und indem sie uns motivieren weiterzugehen und nicht aufzugeben. Aber man muss sehen, dass Ideale auch etwas Gefährliches sein können, nämlich dann, wenn sie Harmonie vortäuschen, wo in der Realität vor allem Probleme sind, und vor allem wenn sie die Kräfte der Menschen, denen sie doch eigentlich helfen sollen, ihre Lebensführung gelingen zu lassen, ständig und erheblich überfordern oder ihre Lebenswirklichkeit gar nicht treffen. Eine solche Pro forma-Aufrechterhaltung von Idealen gegen die Realitäten wird mit der (in vielen empirischen Untersuchungen belegten) Reduzierung der Relevanz kirchlicher Vorgaben für die Orientierung und die Suche nach Antworten auf eigene Nöte und Problemlagen überhaupt bezahlt und ist insofern gar nicht harmlos. Denn sie überlässt die Menschen Einflüssen, Praktiken und Szenen, die in neuer Weise Normen vorgeben, Sexualität zur käuflichen und permanent verfügbaren Ware machen und Menschen, die nach Nähe suchen, verdinglichen.

 

Prof. Dr. Konrad Hilpert

 

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