Tag der Verände
Statement von Weihbischof Dr. Bernhard Haßlberger
anlässlich des Treffens der Deutschen Bischofskonferenz mit Vertretern von katholischen Personalverbänden am 29. Mai 2013 in Frankfurt -es gilt das gesprochene Wort.
1. Mit der eindringlichen Aufforderung von Papst Franziskus, sich intensiver um die Menschen an den Rändern der Gesellschaft zu kümmern, ist die Radikalität der christlichen Botschaft wieder stärker in den Fokus gerückt. Dieser Appell stellt auch für Verbände, die auf sozialem und gesellschaftlichem Feld tätig sind, einen Kairos dar, der dazu genutzt werden könnte, im Einklang mit dem Anliegen des Papstes das Profil zu schärfen.
Die Bitte des Papstes, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, ist alles andere als eine programmatische Reminiszenz an sein großes Namensvorbild. Denn die sozialen Probleme sind global betrachtet trotz der unbestreitbaren Fortschritte in manchen Schwellenländern nicht geringer geworden. Daneben haben sich in Europa im Kontext der aktuellen Krise die Lebensverhältnisse vieler Menschen in einer Weise verschlechtert, wie man dies vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Vor allem durch die Jugendarbeitslosigkeit, die zum Teil dramatische Ausmaße angenommen hat, besteht die Gefahr, dass mitten in Europa eine verlorene Generation heranwächst.
2. In Bezug auf das vom Zweiten Vatikanischen Konzil der Kirche aufgegebene Gebot, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“1, erfüllen die Verbände einen wichtigen Dienst. Um dieser „Antennenaufgabe“ nachzukommen, bedarf es eines wachen Geistes. Auf der anderen Seite kann diese Sensibilität für die Gegenwart aber auch die Verbände selbst vor der Versuchung bewahren, Antworten zu geben, die an den Fragen und Bedürfnissen der Menschen vorbeigehen. Zudem stärkt die Offenheit für die „Zeichen der Zeit“ die „Kampagnenfähigkeit“ der Verbände, ein Aspekt, der im April dieses Jahres auch im Mittelpunkt eines gemeinsamen Symposions von Deutscher Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken zur „Präsenz der Kirche in Gesellschaft und Staat“ stand.
3. Die durch die gegenwärtige Krise hervorgerufene Verunsicherung der Menschen äußert sich auch in einem gestiegenen Bedürfnis, neu über gesellschaftliche Fragen nachzudenken. Auch hier sind die Verbände gefordert, sich dieser besonderen Herausforderung zu stellen und das Verlangen nach einer vertieften Reflexion unserer Wertefundamente aufzugreifen. Hierbei können die katholischen Verbände auf die Normen der katholischen Soziallehre zurückgreifen. Vor allem die Vertrautheit mit dem christlichen Menschenbild liefert vielfach einen verlässlichen Maßstab für eine adäquate Beurteilung ökonomischer und gesellschaft-licher Entwicklungen. Die Aufgabe, ihren Mitgliedern auch entsprechende Wertorientierungen zu vermitteln, geht zudem konform mit einem Bildungsauftrag, der bereits im Beschluss „Räte und Verbände“ der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschlands benannt wurde: „Mitverantwortung erfordert Sachkenntnis. Die vielfältigen Dienste der Mitverantwortung können nur dann wirksam geleistet werden, wenn alle Verantwortungswilligen entsprechend ihren Fähigkeiten und Aufgabenbereichen weitergebildet werden. Diese Bildungsarbeit zielt darauf ab, Einstellungen, Wissen und Können im Sinne des Evangeliums zu verändern.“2
4. Im gemeinsamen Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ wurde ganz programmatisch formuliert: „Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen.“3 Um Politik möglich zu machen, bedarf es nicht nur geeigneter Konzepte, sondern auch Frauen und Männer, die sich mittels ihres Engagements in den Parteien auf den unterschiedlichsten Ebenen der Politik aktiv für christliche Werte einsetzen. Viele der Politiker, die die Politik der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten mitgestaltet haben, kamen aus den Verbänden – auch auf diesem Feld haben die Verbände einen wichtigen Dienst für Kirche und Gesellschaft geleistet. Die Bereitschaft junger Christen, sich politisch zu engagieren, scheint heute geringer zu sein. Umso wichtiger ist es, dass in den Verbänden weiterhin ein Bewusstsein dafür besteht, dass sich für jeden Christen die Aufgabe stellt, in der Gesellschaft Zeugnis für die eigene Wertorientierung abzulegen. Praktisch besehen bedeutet dies, geeignete Personen aktiv in ihrem politischen Engagement zu unterstützen und entsprechend zu fördern. Damit einher geht die Hoffnung, dass die Verbände auch künftig einen fruchtbaren Nährboden für den politischen Nachwuchs bilden.
5. Des Weiteren sind die Verbände zusammen mit der Pfarrei ein wichtiger Ort kirchlicher Gemeinschaftserfahrung. Durch die Neustrukturierung der pastoralen Räume zu größeren Einheiten, die heute in allen deutschen Diözesen zu gravierenden Veränderungen im Leben der Katholiken führt, sind auch die Verbände herausgefordert, ungeachtet ihrer grundsätzlichen Eigenständigkeit, nach ihrem Beitrag bei diesem Transformationsprozess zu fragen. Die Verbände stehen zum einen vor der Aufgabe, auch in Zukunft ihren Mitgliedern in den Pfarreien eine verlässliche Heimat zu geben. Wenn Priester und hauptamtliche Mitarbeiter nicht mehr alle Bereiche der Pastoral abdecken können, dann sind die Gläubigen vor Ort dazu herausgefordert, selbstständig Aufgaben und damit auch Verantwortung zu übernehmen. Dazu müssen sie sich befähigt fühlen, und gerade die Verbände verfügen durch ihre erfolgreiche Arbeit über ein Reservoir engagierter Christen, die erfahren darin sind, ihre Charismen für die Sendung der Kirche aktiv einzusetzen. Mit diesem Potential gilt es zu wuchern. Außerdem ging der Blick der Verbände schon immer über das Gebiet der Pfarrei hinaus, eine überpfarrliche oder sogar überdiözesane Perspektive gehört seit je her zum Proprium der Verbandsarbeit. Deshalb können die Verbände die Gläubigen heute auch darin ermutigen, dass die Verortung in größeren Regionen nicht bedeutet, die Verbundenheit untereinander zu verlieren.
6. Die Solidarität mit denjenigen, die in der Gesellschaft benachteiligt werden, ist die Basis ihres Engagements. Seit die Sozialverbände im 19. Jahrhundert ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit und Armut erhoben haben, hat sich die Form der Ausgrenzung von Menschen verändert, sie ist aber nicht verschwunden. Zwar muss in Deutschland niemand verhungern, aber die Verweigerung gesellschaftlicher Teilhabe grenzt auch heute Menschen aus. Eine Gesellschaft, die sich dem Ziel der Menschenwürde verpflichtet weiß, muss sich stets daran messen lassen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Um dies bewusst zu machen, braucht es Mahner, die die Verantwortlichen auf ihre spezifische Verpflichtung hinweisen, und es braucht die kreative Leistung, Konzepte für die Überwindung von Ausgrenzungen zu entwickeln und in die gesellschaftlichen Debatten einzubringen. Die Verbände sind somit auch heute „Stachel im Fleisch“4 einer selbst-zufriedenen Gesellschaft.
Neu ist dagegen die Notwendigkeit einer erweiterten Perspektive ihres Sendungsauftrags: Wenn heute Strategien zur Überwindung ungerechter Lebensverhältnisse entwickelt werden, dann reicht hierbei eine rein nationale Betrachtungsweise nicht mehr aus. Insbesondere der Blick auf Europa erscheint unverzichtbar. Denn nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Kontinents sind inzwischen eng miteinander verflochten, sondern auch die sozialen Herausforderungen lassen sich immer weniger getrennt voneinander betrachten – was durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise überdeutlich wird. Europa ist heute unser aller Schicksalsraum, weshalb ein möglichst enger Schulterschluss zwischen den verschiedenen Sozialverbänden auf europäischer Ebene notwendiger denn je ist, man kann hier unbesehen von einem „Zeichen der Zeit“ sprechen. Diesen Perspektivwandel bei ihrer Arbeit aufzunehmen und in entsprechende Handlungsstrategien umzusetzen, dazu möchte ich sie abschließend eindringlich auffordern.
1 Zweites Vatikanisches Konzil: Gaudium et spes – Pastoralkonstitution über die Kirche in der
Welt von heute, Nr. 4.
2 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung
(Offizielle Gesamtausgabe, Bd. 1), Freiburg 1976, S. 657.
3 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Gemeinsame
Texte 9), Hannover/Bonn 1997, Nr. 4.
4 Vgl. 2 Kor 12,7.
Weihbischof Dr. Bernhard Haßlberger