"Soziale Lebenslaufpolitik – Zukunft wagen in einer Gesellschaft des langen Lebens"

Einführung von Eva Maria Welskop-Deffaa im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder des ZdK,

gute Politik möglich machen, das ist – betrachtet man die zurückliegenden Wochen und den Verlauf der Koalitionsverhandlungen – ein mühsamer Aushandlungsprozess.
Gute Politik möglich machen, das erscheint aus der Perspektive mittlerer Berliner Distanz wie die Arbeit eines Bienenstocks: Emsige Drohnen fliegen hinein und heraus, beladen mit Papieren und Formulierungsvor-schlägen. Kiloschwere Unterschriftensammlungen werden medienwirksam übergeben, Non-Papers zirkulie-ren mit dem Aufdruck "Vertraulich" und ermöglichen es Freunden und anderen Vertrauten, noch die eine oder andere Formulierung einzuspeisen. E-Mails und SMS transportieren Kompromissvorschläge.

Mitten hinein in diese aufgeregte Stimmung fällt die Herbst-Vollversammlung des Zentralkomitees der deut-schen Katholiken, in der neben einem neuen Präsidium auch neue Sprecherinnen und Sprecher für die Sachbereiche gewählt werden. Für mich endet heute meine Amtszeit und ich freue mich, diese Amtszeit beschließen zu dürfen mit der Vorlage und Beratung eines Papiers, das auch die Frage stellt nach guter Poli-tik – nach guter Politik in Zeiten des langen Lebens.

Wir haben uns im Sachbereich "Gesellschaftliche Grundfragen" in den zurückliegenden vier Jahren der Frage gestellt, wie wir die grundsätzlichen Herausforderungen, die wir gesellschaftlich beobachten, auf einen Nenner bringen können und wie wir aus diesem gemeinsamen Nenner konkrete Anforderungen und Erwar-tungen an gute Politik ableiten können. Der gemeinsame Nenner, auf den wir uns verständigt haben, ist die Lebensverlaufsperspektive, oder anders gewendet: Die großen gesellschaftlichen Megatrends – Globalisie-rung, Digitalisierung und demographische Dynamik – fügen wir zusammen im Bild der "Gesellschaft des langen Lebens".

Auf den ersten Blick ist es nur eine kleine Akzentverschiebung, wenn wir vom langen Leben statt vom Äl-terwerden sprechen. Bei näherem Hinsehen verändert sich durch diese Akzentverschiebung aber sehr grundsätzlich der Fokus: Von der statischen Betrachtung der Bevölkerungspyramide zur dynamischen Be-trachtung der gewonnenen Lebensjahre. Von der Last einer alternden Bevölkerung zur Gestaltungsaufgabe einer Gesellschaft des langen Lebens, einer Gestaltungsaufgabe, die jeden und jede Einzelne, aber auch die Politik vor neue Herausforderungen stellt.

Diesen Perspektivwechsel haben wir im Ständigen Arbeitskreis des Sachbereichs "Gesellschaftliche Grund-fragen" in dieser Arbeitsperiode vorgenommen und die Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens intensiv diskutiert. Ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern des Sachbereichs – den ZdK-Mitgliedern unter Ihnen und den Beratern und Beraterinnen – herzlich danken, für die Geduld und Beharr-lichkeit, mit der wir gemeinsam den Kern dessen herausgeschält haben, was wir Ihnen heute als Anforde-rungen an Soziale Lebenslaufpolitik vorlegen können. Ganz wesentliche Impulse verdanken wir Frau Prof. Heimbach-Steins, die leider heute verhindert ist. Sie hat durch ihre eigenen Arbeiten, aber auch dadurch, dass sie das Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften im Jahr 2012 der Lebenslaufpolitik gewidmet hat, entscheidend das Gelingen des Projekts erst ermöglicht. Ich empfehle das Jahrbuch zur Lektüre, da es genau das leistet, was ein kurzer Beschlusstext nicht leisten kann: Es entfaltet das Konzept Sozialer Lebens-laufpolitik in verschiedenen politischen Handlungsfeldern! Die Artikel im Jahrbuch widmen sich lebenslauf-orientierter Personalpolitik ebenso wie der Anerkennung von Kindererziehungszeiten für Kinder, die vor 1992 geboren wurden. Das Jahrbuch widmet sich der Verteilung von Sorgearbeit im Lebenslauf und den Möglichkeiten und Chancen mit einem reformierten Ehegüterrecht Risiken und Chancen im Lebenslauf von Paaren fair auszugleichen.

Ich danke aber auch Frau Sehrbrock und Herrn Prof. Wippermann, die über Monate den Löwenanteil der Redaktionsarbeit mitgetragen haben und Frau Hinrichs und Frau Seeberg, den beiden Geschäftsführerinnen des Sachbereichs, die nacheinander das Papier mit viel Aufmerksamkeit und Sympathie in seinem Entstehen begleitet haben. Dass zwischendurch auch Herr Dr. Wissing den Arbeitskreis betreut hat und bei der Vorbereitung des Fachgesprächs im letzten Dezember maßgeblich beteiligt war und dass der Hauptaus-schuss mehrfach konstruktiv kritisch Verbesserungen angemahnt hat, will ich gleichermaßen dankbar er-wähnen.

Das Papier, das nun vorliegt, entwirft das Konzept Sozialer Lebenslaufpolitik, greift dabei die bisherigen Er-klärungen des ZdK in den Bereichen Sozialpolitik, Familienpolitik und Bildung auf und führt die dort benann-ten Voraussetzungen und Bedingungen für die gesellschaftliche Teilhabe aller in unserer Gesellschaft zu einem sozialethisch begründeten Leitbild zusammen.

Das Beschlusspapier, das wir heute beraten, wird flankiert durch ein Grundlagenpapier, das die Herausfor-derungen einer Gesellschaft des langen Lebens ausführlicher darlegt, daraus das Leitkonzept der Sozialen Lebenslaufpolitik ableitet und praktische Leitfragen an die Hand gibt. Der Antragstext greift daraus pointiert die Kernelemente der Sozialen Lebenslaufpolitik auf und richtet unsere Erwartungen – an einem weichen-stellenden Übergang im politischen Geschäft – an die politischen Entscheidungsträger in der nun beginnen-den Legislatur des Bundestages und die neue Bundesregierung.

Ich freue mich, dass wir heute die Gelegenheit haben, mit fachkundigen Abgeordneten aus dem Deutschen Bundestag, mit Politikerinnen und Politikern verschiedener politischer Parteien, über das Konzept der Sozialen Lebenslaufpolitik und dessen Umsetzung in konkrete politische Vorhaben zu diskutieren.

Zur Einführung in den Text und zur Einführung in die politische Diskussion möchte ich Ihr Augenmerk kurz auf die vier Dimensionen richten, mit denen wir das Anforderungsprofil Sozialer Lebenslaufpolitik in einer Gesellschaft des langen Lebens beschreiben: Verantwortungsermöglichung, Folgerichtigkeit, Generationen-gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit.

1. Langes Leben und Verantwortungsermöglichung

Im Durchschnitt leben die Menschen in Deutschland heute 30 Jahre länger als unsere Ur-Großeltern vor 100 Jahren. Wer heute 14 ist, hat nicht 40, sondern 70 Lebensjahre vor sich. "Länger leben" – das geht uns alle an, die Jungen wie die Alten. Wer 60 ist, fragt sich nach den Gestaltungschancen der nächsten 30 Lebens-jahre und wer 30 ist, fragt sich, ob die Entscheidung zu heiraten – bis dass der Tod euch scheidet – nicht doch eine Entscheidung für eine allzu lange Zeit sein könnte.

Die ungeheure Veränderung der statistischen Lebenserwartung geht mit einer zunehmenden Vielfalt der Lebenswege einher. Eine Vielzahl an Entscheidungssituationen, insbesondere an weichenstellenden Über-gängen im Lebenslauf, prägt unser Leben. Jeder und jede Einzelne steht vor der (ständigen) Anforderung, das eigene Leben selbst zu gestalten und zu verantworten. Leitplanken in Form gesellschaftlicher Normen und tradierter (Rollen-)Erwartungen sind deutlich weniger maßgeblich geworden. Zu einem guten Leben gehört heute keineswegs mehr unhinterfragt eine bestimmte chronologische Abfolge von Lebensereignissen (Schulabschluss, Berufseintritt, Heirat, Geburt eines Kindes…). Ob ein zweites Studium, ein Berufswechsel, eine neue Partnerschaft, ein Umzug richtig oder vertretbar ist, ergibt sich nicht aus dem Abgleich mit einem Musterlebensentwurf, der als gesellschaftliche Norm breit akzeptiert wäre. Es sind eigene Entscheidungen und Wertungen gefordert.

Der Befähigung zur eigenverantwortlichen weichenstellenden Lebensentscheidung kommt daher große Bedeutung zu. Die Fähigkeit zur verantwortungsvollen Entscheidung fällt nicht vom Himmel. Wir sehen es als eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, den Prozess der Befähigung zur Verantwortung in Familie und Gesellschaft zu befördern. Diese Befähigung wird in der christlichen Sozialethik "Verantwortungsermög-lichung" genannt, in der internationalen Teilhabedebatte spricht man von "Empowerment". Dabei spielen auch intermediäre Institutionen wie Verbände und Vereine – eine ganz zentrale Rolle. Wesentliche Voraus-setzungen für Verantwortungsermöglichung stellen lebensbegleitende Bildungsangebote und ein umfas-sendes Informationsangebot über Folgen von Entscheidungsoptionen dar. Gleichzeitig braucht es institutio-nelle Netze – wie die sozialen Sicherungssysteme –, die negative Folgewirkungen von (Fehl-)Entscheidun-gen, Schicksalsschläge und entmutigende Risiken im Lebenslauf abfedern, sowie Übergänge und Neuan-fänge begleiten.

2. Langfristfolgen von Entscheidungen und Folgerichtigkeit

Das lange Leben bringt es mit sich, dass jede und jeder Einzelne im späteren Verlauf des Lebens – womög-lich mit 40 oder 50 Jahren Abstand – mit den Auswirkungen und langfristigen Folgen eigener Entscheidun-gen konfrontiert wird.
Schon immer hatten Entscheidungen Spätfolgen. Diese haben aber früher zumeist erst die nächste Genera-tion getroffen!  
Heute spüren wir: Die erforderliche Berücksichtigung von Langfristwirkungen ist kein Thema intergenerativer Gerechtigkeit allein, sondern ein Thema der eigenen Lebenslaufgestaltung!

Die Fähigkeit und Bereitschaft bei wichtigen Entscheidungen langfristige Folgen für das eigene Leben mit zu bedenken, ist allerdings keineswegs automatisch mit der Länge des Lebens mitgewachsen. Menschen neigen dazu, kurzfristigen Aspekten bei Entscheidungsabwägungen ein größeres Gewicht beizumessen als langfristigen.

Auch politischen Verantwortungsträgern fällt es schwer, Langfristeffekte in ihren politischen Entscheidungen adäquat zu berücksichtigen. Sie wissen – ähnlich wie die Bürgerinnen und Bürger – ebenso wenig sicher zu sagen, wie sich die Welt in 20, 30 Jahren verändert haben wird. Zum anderen gibt es unter Parlamentariern die begründete Vermutung, dass Wählerinnen und Wähler langfristig vorsorgende politische Entscheidungen für morgen, die heute wehtun, nicht unbedingt honorieren.

Das kurze Gedächtnis in Politik und Öffentlichkeit trägt zudem dazu bei, dass Politik von Sprunghaftigkeit und Inkonsistenz geprägt sein kann.

Dem Anspruch auf Widerspruchsfreiheit auf der Zeitachse, d.h. dem Anspruch an Folge-Richtigkeit von politischen und gesetzlichen Entscheidungen wird Politik unter diesen Bedingungen oft nicht ausreichend gerecht.
Folgerichtigkeit kommt aber in einer Gesellschaft des langen Lebens, in einer Zeit, in der Menschen länger leben, erhöhte Bedeutung zu. Die Rahmenbedingungen, unter denen Menschen heute ihre Entscheidungen treffen, müssen langfristig verlässlich sein. Es dürfen durch Gesetzesänderungen rückwirkend keine negati-ven Folgewirkungen für bereits getroffene Entscheidungen provoziert werden. Die Menschen, von denen wir vorausschauendes Handeln erwarten, müssen sich der (gesetzlichen) Rahmenbedingungen hinreichend sicher sein, an denen sie ihre eigenen folgenreichen Entscheidungen ausrichten.


3. Generationengerechtigkeit  

Mit der Lebenserwartung jedes Einzelnen hat auch die Zahl der gleichzeitig lebenden Generationen zuge-nommen – mit je unterschiedlichen generationenspezifischen Erfahrungen und Werten. Die Generation der digital natives, der jungen Berufseinsteiger unterscheidet sich von der nächst-älteren Altersgruppe – der Generation Golf, die Babyboomer-Generation und die Wirtschaftswunder-Generation unterscheidet mehr als das Geburtsjahr.
Sie sind von anderen (historischen) Ereignissen betroffen und stehen objektiv vor anderen Herausforderun-gen.  
Gesetzliche Reformen und Neuregelungen treffen diese Generationen simultan an sehr unterschiedlichen Wegepunkten im Lebenslauf! Die Reform größerer Gesetzesmaterien muss daher daraufhin gründlich ge-prüft werden, ob sie für Menschen verschiedener Altersgruppen und Generationen eine gleichermaßen faire Intervention darstellt und wie die Lebenschancen für alle fair gesichert werden können.
Eine generationsdifferenzierende Politikgestaltung, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Kohorten und Generationen wirklich berücksichtigt, ist nicht einfach. In unserer Gesellschaft des langen Lebens führt allerdings kein Weg an dieser Anforderung vorbei, denn die unterschiedlichen legitimen Erwar-tungen der verschiedenen Generationen an Gerechtigkeit im Zeitverlauf machen Generationenblindheit zu einem hohen Risiko im politischen Geschäft.

4. Wichtige Entscheidungen sind gemeinsame Entscheidungen.

Die Gestaltung des eigenen Lebens, in dem sich die Abfolge wichtiger Entscheidungen und Ereignisse im Lebenslauf zu einer Geschichte verbindet, ist in unserer Gesellschaft des langen Lebens meistens keine rein individuelle, sondern eine gemeinsame Aufgabe.
Entscheidungen an weichenstellenden Übergängen im Lebensverlauf werden in der Regel nicht von einer Person allein, sondern von mehreren Personen gemeinsam getroffen werden. Dies ist von großer Bedeutung für die neuen Gestaltungsanforderungen, denen sich die Einzelnen und die Politik in einer Gesellschaft des langen Lebens gegenübersehen.

Die (vielen wichtigen) von Frauen und Männern im Lebensverlauf gemeinsam getroffenen Entscheidungen sind typischerweise mit strukturell sehr unterschiedlich auf beide Geschlechter verteilten Risiken und Chan-cen verbunden! Wenn beide Partner gemeinsam entscheiden, dass nach der Geburt eines Kindes der Vater beruflich durchstartet und die Mutter eine längere familienbedingte Erwerbsunterbrechung einlegt, dann sind die Nachteile in der Rente für die Frau gravierend, die ökonomischen Vorteile einer nicht unterbrochenen Erwerbsbiographie liegen hingegen allein beim Mann.

Gemeinsame Entscheidungen von Frauen und Männern im Lebenslauf sind kein Auslaufmodell, sie sind – unter welchen Umständen auch immer – eine bleibende Realität. Ihre Folgen können und müssen in klugen (familien-)rechtlichen Regelungen berücksichtigt und ausgeglichen werden. Zu Recht hat es massiv Kritik an der Unterhaltsrechtsreform der vorletzten Legislaturperiode gegeben, die diesen Aspekt gänzlich vernach-lässigte.
Die gefährlich sich im Verlauf des Lebens potenzierenden Gerechtigkeitslücken, die sich mit bestimmten gemeinsamen Entscheidungen im Lebenslauf verbinden, werden hingegen nicht selten eher versteckt.
Auf rechtzeitige Warnungen und Gefahranzeigen können Paare sich nicht verlassen!
Manche Entscheidung wäre wohl anders gefallen, wenn man rechtzeitig deutlichere Hinweise auf deren – spätere – Auswirkungen erhalten hätte.


Fazit

Wir brauchen daher – um die Idee einer Sozialen Lebenslaufpolitik zusammenzufassen – eine Politikgestal-tung, die folgerichtig, generationen- und geschlechtergerecht ist und die die Befähigung zur eigenverant-wortlichen Entscheidungsfindung fördert und unterstützt. Dieser Anspruch verortet sich auf grundsätzlicher Ebene: Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung muss diesen Anspruch formulieren, institutionalisie-ren und absichern, ebenso wie (Wirtschafts-)Freiheit und sozialer Ausgleich institutionell abgesichert sind.
Ich freue mich auf die jetzt anschließende Podiumsdiskussion und auf die Beratung des Antragstextes mit Ihnen allen.

Eva Maria Welskop-Deffaa Sprecherin des Sachbereichs 3 "Grundfragen der Arbeit, der Wirtschaft, der Finanzen und der Sozialordnung (Gesellschaftliche Grundfragen)"

 

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