Soziale Lebenslaufpolitik: Zukunft wagen in einer Gesellschaft des langen Lebens
Beschluss der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Globalisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel bestimmen die Veränderungsdynamik unserer Zeit: Wir leben in einer schnelllebigen "Gesellschaft des langen Lebens".
In einer Gesellschaft, in der die durchschnittliche Lebenserwartung inzwischen mehr als 80 Jahre beträgt, stehen die Einzelnen ebenso wie die Politik vor der Herausforderung, Langfristeffekte von weitreichenden Entscheidungen umfassend berücksichtigen zu müssen: Um faire Teilhabechancen für alle zu gewährleisten, bedarf es einer Sozialen Lebenslaufpolitik.
Die verlässlich faire Teilhabe aller braucht spezifische Voraussetzungen, die das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) in seinen Erklärungen zur Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in den letzten Jahren wiederholt beschrieben und sukzessive weiterentwickelt hat. Es ging um den Umgang mit alten und neuen Risiken und ihre soziale Absicherung, um sich verändernde Generationenbeziehungen, Geschlechtergerechtigkeit und eine nachhaltig tragfähige Neuausrichtung der Sozialen Marktwirtschaft zu einer Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft. Die zunehmende Vielfalt selbstbestimmter Lebensentwürfe und die schwindende Bindungskraft wertebildender Institutionen als normative Rahmung der eigenen Lebensgestaltung stellen wachsende Anforderungen an Verantwortungsbereitschaft und Entscheidungsfähigkeit.
Im lebendigen Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der christlichen Sozialethik hat das ZdK nun die Grundzüge für ein Konzept der Sozialen Lebenslaufpolitik erarbeitet, das die Anforderungen an folgerichtige Politik in einer Gesellschaft des langen Lebens systematisierend beschreibt. Das ZdK bietet damit eine orientierende Perspektive für die nachhaltige Gestaltung unserer Wirtschafts- und Sozialordnung in einer Gesellschaft des langen Lebens.
Vier Dimensionen – Verantwortungsermöglichung, Folgerichtigkeit, Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit – konstituieren das Anforderungsprofil Sozialer Lebenslaufpolitik. Sie gemeinsam, gleichzeitig und ausgewogen zu berücksichtigen – darauf kommt es an.
Langes Leben und Verantwortungsermöglichung
Die steigende durchschnittliche Lebenserwartung und das längere Leben der Einzelnen führen heute zu einer hohen Zahl von verantwortungs- und voraussetzungsvollen Entscheidungen im Lebenslauf, die langfristige Konsequenzen haben: Ihre (Spät-)Wirkungen im eigenen Leben sind manchmal erst mit Verzögerung spürbar, ineinander verschränkt und oft schwer abschätzbar. Als Christinnen und Christen wissen wir, dass unsere Zukunft in Gottes Hand liegt und niemals vollständig planbar ist. Dies entbindet uns jedoch nicht davon, Entscheidungen verantwortet zu treffen und unser von Gott geschenktes Leben aktiv zu gestalten.
Die Fähigkeit zur verantwortungsvollen Entscheidung muss erlernt werden. Es ist eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, diesen Lernprozess in Familie und Gesellschaft zu befördern. In der Sozialethik wird dies als "Verantwortungsermöglichung" bezeichnet, in der internationalen Teilhabedebatte als "Empowerment". Wesentliche Voraussetzungen für Empowerment und Verantwortungsermöglichung sind ermutigende, lebensbegleitende Bildungsangebote und umfassend zugängliche Informationen über Folgen von Entscheidungsalternativen.
Empowerment heißt Ermächtigung jeder und jedes Einzelnen, damit sie/er mit Entscheidungssituationen selbstbestimmt umgehen und frei wählen kann. Da Menschen in Beziehungen (Herkunftsfamilie, ggf. PartnerIn, Kinder) leben, bedeutet Verantwortungsermöglichung auch, die Konsequenzen und möglichen Risiken von gemeinsam getroffenen Entscheidungen für das eigene weitere Leben einschätzen zu können: Zivilgesellschaftlichen Organisationen – (katholischen) Verbänden und Vereinen ebenso wie Gewerkschaften, Selbsthilfeorganisationen, Frauen- und Berufsverbänden – kommt als Agenten von Befähigung und Ermächtigung in einer Gesellschaft des langen Lebens große Bedeutung zu. Gleichzeitig braucht es institutionelle Netze wie die Sozialversicherung, die negative Folgewirkungen von (Fehl-)Entscheidungen, Schicksalsschläge und entmutigende Risiken im Lebenslauf abfedern, Armutsrisiken verringern sowie Übergänge und Neuanfänge begleiten.
Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit
Das demokratische Mandat auf Zeit stellt im Verbund mit der Möglichkeit, unbeschränkt häufig wieder gewählt zu werden, für politische Akteure einen Anreiz dar, ihr Verhalten jeweils am nächsten Wahltermin zu orientieren. Das kurze Gedächtnis in Politik und Öffentlichkeit trägt dazu bei, dass Politik im Verlauf nur weniger Jahre von Sprunghaftigkeit und Inkonsistenz geprägt sein kann.
Dem Anspruch auf Widerspruchsfreiheit auf der Zeitachse – dem Anspruch an Folge-Richtigkeit – wird Politik daher keineswegs automatisch gerecht. Es ist ein notwendiges Korrektiv, dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren Folgerichtigkeit als Anforderung an Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung immer prominenter formuliert. Gerade im Bereich der sozialen Sicherung und der Gesellschaftspolitik kommt Folgerichtigkeit in einer Gesellschaft des langen Lebens erhöhte Bedeutung zu: Die Menschen, von denen wir bei der Gestaltung ihres Lebens Verantwortung und vorausschauendes Handeln erwarten, müssen sich der gesetzlichen Rahmenbedingungen, ihrer Maßstäbe und Nachvollziehbarkeit, hinreichend sicher sein können, um daran ihre eigenen folgenreichen Entscheidungen auszurichten.
Generationenvielfalt und Generationengerechtigkeit
In unserer Gesellschaft des langen Lebens lebt jeder Einzelne länger und damit hat auch die Zahl der gleichzeitig lebenden Generationen zugenommen. Generationen sind von unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Zeitenwenden und epochalen Ereignissen geprägt, die Frauen und Männer gemeinsam aber auch stark unterschiedlich erleben oder erlebt haben. Diese Generationenvielfalt, ihre jeweils objektiv unterschiedlichen Erwartungen und die verschiedenen Anforderungen an jede Generation müssen bei allen politischen Maßnahmen berücksichtigt werden, denn eine heute wirksam werdende politische Entscheidung trifft Angehörige verschiedener Generationen zu unterschiedlichen Wegmarken ihres Lebenslaufs.
Die Reform größerer Gesetzesmaterien, gerade in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, muss daher daraufhin geprüft werden, ob sie für Menschen verschiedener Altersgruppen und Kohorten eine gleichermaßen faire Intervention darstellt. Eine Engführung von "Generationengerechtigkeit" auf die heute Alten im Vergleich zu den "zukünftigen Generationen" greift zu kurz. Um die legitimen Erwartungen verschiedener gleichzeitig lebender Generationen an Gerechtigkeit im Zeitverlauf berücksichtigen und fair ausgleichen zu können, ist inter- und intragenerative Solidarität zu gestalten und zu stärken.
Gemeinsame Entscheidungen und Geschlechtergerechtigkeit
Die skizzierte Gestaltungsaufgabe, die Abfolge wichtiger Entscheidungen und Ereignisse im Lebenslauf zu einer eigenen Lebensgeschichte zu verbinden, die ihnen Sinn verleiht, trifft in unserer Gesellschaft des langen Lebens Menschen nach sozialer Lage, Generation oder Geschlecht sehr unterschiedlich und: unentrinnbar gemeinsam!
Die Tatsache, dass Entscheidungen an weichenstellenden Übergängen in der Regel nicht von einer Person allein, sondern von mehreren Personen gemeinsam getroffen werden, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Gestaltungsanforderungen, denen sich die Einzelnen und die Politik in einer Gesellschaft des langen Lebens gegenübersehen. Die gemeinsam getroffenen Entscheidungen, z. B. die Entscheidung für Kinder, sind typischerweise mit strukturell ungleich auf beide Geschlechter verteilten Risiken und Chancen verbunden. Langfristig ziehen gemeinsame Entscheidungen häufig sehr unterschiedliche (ökonomische) Folgen für die Beteiligten nach sich. Diese Folgewirkungen werden oft erst zu einem späteren Zeitpunkt, beispielsweise beim Zerbrechen einer Ehe, Partnerschaft oder Familie, sichtbar. Es braucht institutionelle Rahmungen individueller und (!) gemeinsamer Entscheidungen, die einen fairen Ausgleich gewährleisten. Nur wenn dies gesichert ist, werden alle, die eine Entscheidung (mit-)getroffen haben, auch deren langfristige Folgen gemeinsam tragen.
Politische Rahmenbedingungen müssen auf ihre sehr unterschiedlichen Anreize und strukturellen Auswirkungen für Frauen und Männer überprüft werden. Es gilt, eine systematisch geschlechtshierarchische Verteilung von Chancen und Risiken gemeinsamer Entscheidungen zu verhindern und die Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf zu fördern. Geschlechtergerechtigkeit ist als wesentlicher Faktor einer Sozialen Lebenslaufpolitik und als Voraussetzung gesellschaftlichen Zusammenhalts geltend zu machen.
Soziale Lebenslaufpolitik 2013-2017
Zu Beginn der neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestages fordert das ZdK die politischen Akteure auf, das Anforderungsprofil einer Sozialen Lebenslaufpolitik maßgeblich in ihre Politikgestaltung aufzunehmen und langfristige Folgewirkungen bei ihren politischen Entscheidungen zu berücksichtigen.
Der Nachhaltigkeit und Widerspruchsfreiheit politischer Weichenstellungen kommen in einer Gesellschaft des langen Lebens besonders große Bedeutung zu. Politische und gesetzliche Rahmenbedingungen, unter denen heute Entscheidungen getroffen werden, müssen langfristig verlässlich, Reformen generationen- und geschlechterdifferenzierend abgewogen und umfassend nachvollziehbar sein. Auf bundespolitischer Ebene müssen die drängenden Herausforderungen in den Handlungsfeldern Pflege, Alterssicherung, (Aus-)Bildung, Arbeitsmarkt, Demografie sowie in der Steuer- und Subventionspolitik aus der Perspektive einer Sozialen Lebenslaufpolitik aufgegriffen, überzeugende Lösungen gefunden und konsequent umgesetzt werden.
Das ZdK sieht sich in der Verantwortung, die politischen Prozesse und Entwicklungen kontinuierlich und kritisch zu begleiten und wird dabei die Anforderungen Sozialer Lebenslaufpolitik themenübergreifend auch in seinen eigenen Überlegungen, beispielsweise zur Familienpolitik, zum Maßstab machen.