Gott auf die Spur kommen: Kirche neu und an neuen Orten

Vorstellung des Grundlagenpapiers des Arbeitskreises "Pastorale Grundfragen" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) von Hans-Georg Hunstig im Rahmen der Vollversammlung des ZdK -es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Schwestern und Brüder,
ich möchte mit einem persönlichen Erlebnis beginnen:

Karfreitag und Karsamstag waren vorbei, die Osternacht mit dem kräftigen „Christ ist erstan-den“ war gefeiert und dann traf ich am Ostersonntag vor zwei Jahren an der Nordsee in St. Peter-Ording auf dieses Holzschild zwischen Meer und Dünen: „Hier stand bis 1727 die
2. Ordinger Kirche. Sie wurde wegen Versandung durch wandernde Dünen um 800 m nach Osten versetzt.“ Die Kirche war wegen „Versandung durch wandernde Dünen versetzt“ worden. Was will mir das sagen, dachte ich, und ausgerechnet am Ostertag des Jahres, in dem wir den Dialogprozess  über neue Wege unsere Kirche gestartet haben?

Was ist bei uns nicht alles "versandet" und muss "versetzt" werden? Versuchen wir uns nicht zu oft den "wandernden Dünen“ entgegenzustemmen - letztlich erfolglos?  Dieser Gedanke kann uns beflügeln, wenn es darum geht, die „ecclesia semper reformanda“ zu erneuern, der Ver-sandung zu entziehen, „neu und an neuen Orten“ zu positionieren, in diesem Sinne mit „Osteraugen“ und nicht mit Karsamstagsaugen zu gestalten.

Ich bin sicher, dass jede und jeder von uns schildern kann, wie in ihrem/seinen Verband neue Wege beschritten wurden, wie mit neuen Projekten in einer Stadt oder einer Gemeinde neue Zielgruppen erreicht werden, wie letztlich Strukturfragen zweitrangig sind, wenn das unter-schiedliche Leben der Menschen Maßstab für kirchliches Handeln wird. Nach solchen Bei-spielen haben auch wir im Sachbereich 1 in den vergangenen drei Jahren gesucht und uns dort in einen Lernprozess begeben.

Unter dem Titel "Kirche neu und an neuen Orten" haben die Mitglieder unseres Arbeitskreises ausgewählte Stätten besucht, an denen Kirche sich an neuen Orten und/oder in neuer Weise realisiert.  Wir haben dabei Kirche als Kirche in Bewegung und im Neuwerden wahrgenommen, die nach einer veränderten Gestalt und Praxis sucht, die ihrem eigentlichen Auftrag angemessen ist, im Leben nach den Spuren Gottes zu suchen, kurz: das Evangelium zu entdecken und so zu verkündigen.

Wenn Sie auch Gelegenheit hatten, das Ergebnis unserer Arbeit bereits in gedruckter Form zu betrachten, soll es heute der Vollversammlung des ZdK und der Öffentlichkeit vorgestellt werden, wobei ich Ihnen wesentliche Punkte unseres Grundlagenpapiers hier vorstelle.

Diese Orte haben wir besucht:

1. Die Citykirche Wuppertal (Erzbistum Köln)  geht seit 2004 neue, kreative Wege zu den Men-schen - auf den Straßen und Plätzen der Stadt, in Kaffeehäusern und Kinos, im Internet.
Besonders die Wuppertaler Graffiti-Krippe spricht Menschen an. Sie wird in der Adventszeit von einem Graffiti-Künstler erstellt und wächst in der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest. Erst am Heiligen Abend wird die Krippe durch "Einsprühen" des Christkindes komplettiert. Sie bringt Menschen miteinander ins Gespräch und lässt die Adventszeit in einer ganz anderen Weise zu einer Zeit der Erwartung werden. Die Verantwortlichen sagen uns:

„Citypastorales Handeln nimmt die Lebensweise der Menschen ernst, die sich eben nicht mehr nur an einen Ort binden. Gott ist in der Stadt. Die Kirche braucht bloß hinzugehen. Citypastoral definiert sich durch ein stringentes 'Geh-hin'-Konzept, ist Mission, also Gesandt-Sein, im besten Sinn des Wortes."

2. Die Internetkirche St. Bonifatius / funcity (Bistümer Osnabrück, Hildesheim, Offizialat Vechta) befindet sich in einer virtuellen Stadt, der community funcity. Sie bietet ein Portal mit unter-schiedlichen Begegnungsmöglichkeiten mit Seelsorger/innen. Diese sind rund um die Uhr per  E-Mail erreichbar und sind persönlich ansprechbar, wenn es gewünscht ist. Es gibt regelmäßige Chat-Zeiten und geistliche Impulse wie Exerzitien im Alltag oder ein Online-Gemeindebrief.  Die Verantwortlichen sagen uns:

"Wenn Sorgen groß und Gesprächsangebote klein sind, ist es gut, im Internet echte Ansprech-partner der Kirchen zu finden. Das Kirchenteam der St. Bonifatius-Kirche bietet in der kosten-losen Community www.funcity.de eine leicht zu erreichende und vor allem anonyme Möglichkeit des Kontaktes, der Begleitung und der Seelsorge an. "

3. Die Jugendkirche Jona, Frankfurt (Bistum Limburg) nutzt die Kirche von St. Bonifatius in Frankfurt-Sachsenhausen. Für Leute zwischen 14 und 25 werden sonntags spezielle abendliche Gottesdienste angeboten. Sie werden von Jugendlichen-Teams vorbereitet. Dabei wird kreative Licht- und Musikgestaltung ebenso eingesetzt wie szenisches Spiel. Es werden spezielle Tage für Schüler/innen gestaltet. Ein Jugendcafé wurde eingerichtet, in dem Jugendliche Mitverant-wortung tragen. Es haben sich diverse Kooperationen mit staatlichen Schulen entwickelt. Die Verantwortlichen sagen uns:

„Wir sind ein Ort, an dem Jugendliche neue und positive Erfahrungen mit Kirche machen , an dem wir junge Menschen in Kontakt mit dem menschenfreundlichen, barmherzigen und leben-digen Gott Jesu Christi bringen und sie darin bestärken, ihren eigenen Glauben zu entdecken, und Jugendlichen spirituelle Erfahrungsräume zur Verfügung stellen“

4. Die Kirche im Europapark Rust, Südbaden (Erzbistum Freiburg und Landeskirche Baden)  bietet mitten im Vergnügungspark in ökumenischem Miteinander Besucherinnen und Besuchern christliche Glaubenszugänge im Kontext der Freizeitmöglichkeiten des Parks, Begegnung und Gespräch an. Oft erwachsen hieraus Gruppengottesdienste, Ehejubiläen, Hochzeiten, Taufen – letztlich längerfristige Kontakte. Sie unterstützt Menschen auf der Suche nach Auszeiten in ihrem Leben. Die Verantwortlichen sagen uns:

„Die eher zufällige Begegnung erhält im herzlichen Willkommen der Empfangenden und in der Offenheit der Besucher ihre Bedeutung und Würde. Wird es möglich, Gehör mit meinem persönlichen Befinden, mit meiner Geschichte als Gast zu finden, so ist für die Beschenkten damit vielleicht ein kurzes Absetzen der Last, ja eine Steigerung des Wohlbefindens verbunden.“
5. Die Campingkirche in Schillig / Nordsee (Bistum Münster, Offizialat Vechta)
ist mit einem modernen Kirchbau am größten Campingplatz Deutschlands präsent. Auf diesem selbst gehen die Aktivitäten vom Kirchenzelt der Urlauberseelsorge aus, die von engagierten ehrenamtlich tätigen Leitungsteams getragen werden. Viele Besuchende erfahren hier christ-liche Gemeinschaft ganz neu und kommen wirklich über Gott und die Welt ins Gespräch. Die Mußezeit des Urlaubs erscheint als Gegenwelt, die für religiöse Kommunikation offen ist. Die Verantwortlichen sagen uns:

„Was früher der Sonntag war, ist für viele Menschen heute der Urlaub. Darauf reagieren wir mit den besonderen Angeboten für campende Menschen außerhalb der üblichen Gemeindearbeit. Wir haben die Chance einer besonderen 'Spiritualität der Landschaft', mit der gerade auch Menschen erreicht werden, die 'fern' sind von ihrer jeweiligen Heimatgemeinde."

6. Die Grabeskirche St. Josef, Aachen (Bistum Aachen) ist ein Wahrzeichen im Aachener Stadt-bild. Sie wurde zum Begräbnisort mit Urnenstelen umgewidmet und als Kirchenraum architek-tonisch völlig umgestaltet. Neben der Begräbnisliturgie und dem Totengedenken liegt der pasto-rale Schwerpunkt in der Trauerbegleitung und in der Zusammenarbeit mit anderen Gruppie-rungen rund um das Thema Sterben, Tod und Auferstehung. Die Verantwortlichen sagen uns:

„Die Grabeskirche St. Josef wird weiterhin – aber anders als zuvor – als 'Kirche' erlebt, nicht zuletzt aufgrund ihrer Ästhetik. Als katholischer Friedhof soll sie den christlichen Glauben an die Auferstehung bekunden. Auf einem kirchlichen Friedhof begräbt die Gemeinde ihre Toten, tröstet die Trauernden und mahnt die Lebenden zur Umkehr. Dies sind die Vorgaben für das 'pastorale Programm' an der Grabeskirche.“

7. Die Caritaskirche St. Nikolaus, Duisburg-Buchholz (Bistum Essen) entstand durch die Um-strukturierung. Eine der aufzugebenden Kirchen wurde baulich in ein Caritas-Zentrum umge-widmet. Die Kirche ist von außen als solche noch erkennbar. Im Innenraum entstanden Bera-tungs- und Konferenzräume. Die Vernetzung der Caritas zu den Gremien der Pfarrei und der Gemeinden stärkt den diakonalen Dienst der Kirche vor Ort. Die Caritas wird als Vollzug von Kirche wahrgenommen, und die Kirche wirkt durch die Caritas in den Lebensraum der Menschen hinein. Die Verantwortlichen sagen uns:

"In dem seiner Form nach erhaltenen Gotteshaus von St. Nikolaus steht nun nicht mehr die Liturgie, dafür aber gelebte Nächstenliebe im Fokus der Verkündigung. Es ist weiter als spiri-tueller Ort mit einem besonderen einladenden und offenen Charakter erkennbar und erlebbar. Entscheidend ist für uns, dass wir als Kirche mit bleibender Aufmerksamkeit auf das achten, was die Menschen vor Ort bewegt.“

Unsere Reflexionsergebnisse

In der Reflexion dessen, was wir an den "neuen Orten" wahrgenommen haben, haben wir Kriterien entwickelt, die möglicherweise bei der Gestaltung anderer "neuer Orte" von Kirche unterstützen und Orientierung geben können. Hier eine Auswahl:

• Gegenwartsfreude
Den neuen Orten der Kirche ist gemeinsam, dass sie wirkliche "Gegenwartsfreude" ausstrahlen: Freude an der Gegenwart der Menschen, so wie sie sind. Denn Gott wirkt unter ihnen lange bevor es die Kirche tut. ("Was willst du, dass ich dir tun soll?" Lk 18,41 und: "Dein Glaube hat Dir geholfen!" Lk 8,48).

• Innovationslust
Den neuen Orten der Kirche ist gemeinsam, dass sie experimentieren, dass sie lern- und inno-vationsbereit sind, Traditionen nicht um ihrer selbst willen fortführen, sondern in ihrer aktiven Kraft für Menschen heute erschließen.
• Gemeinwohlorientierung
Den neuen Orten der Kirche ist gemeinsam, dass sie am Gemeinwohl orientiert sind, dass sie daher den Sozialraum, in dem sie selbst verwurzelt sind, genau wahrnehmen und immer wieder überlegen, was die christliche Botschaft in ihm und für ihn konkret bedeutet und was sie daher fordert.

• Sichtbarkeit aller in den Liturgien
Den neuen Orten ist gemeinsam, dass sie der liturgischen Kompetenz aller Christinnen und Christen, ja aller Menschen Raum geben. Die Liturgie ist der "Raum aller christlichen Räume", in dem jeder und jede vor Gott kommen kann, so wie er ist und mit allen seinen Freuden und Hoffnungen, mit seiner Trauer und seinen Ängsten.

• Unterbrechung im Alltag
Die religiöse Kommunikation an den "neuen Orten" orientiert sich am Bedürfnis derer, die aus eigenem Antrieb kommen. Sie ist bereit, sich auf fremde Lebenswelten einzulassen. Dabei scheinen es insbesondere außeralltägliche Situationen zu sein, die die Frage nach dem Verhält-nis von Alltag und Unterbrechung als günstige Situationen für den Glaubensausdruck in neuer Weise aufwerfen.

• Lokale und überlokale Relevanz
Neue Orte und neue Räume bereichern die Charismen und ziehen diese an. Durch die kreative Umwidmung oder Umgestaltung von Kirchengebäuden und durch das pastorale "Hineinzelten" auf Plätzen mit jeweils eigenen – primär nicht-religiösen – Logiken entstehen ebenso irritierende Neuanordnungen von Gütern und Menschen und Handlungen wie im virtuellen Raum.


Theo-Logik

Es ist uns wichtig, unsere oft neuen Wege in die Verbindung zu den Spuren Gottes zu stellen. Theo-Logik nennen wir den Abschnitt dazu, in dem es heißt:

Gott geht die Wege der Menschen durch alle Zeiten mit: in der Jugendzeit, in der Freizeit, im Urlaub, in der Sozialzeit und in der Zeit von Sterben und Trauer. Die Aufgabe der Kirche(n) ist es, auf die Spuren Gottes in der Gegenwart aller Menschen aufmerksam zu machen, sich dabei selbst auf Spurensuche zu begeben und sich selbst von diesen Spuren bei anderen überraschen zu lassen.


Ausblick

Während unserer Arbeit stießen wir auf viele Gleichgesinnte:

-    Im Februar gab es in Hannover „Kirche hoch zwei - Ein ökumenischer Kongress“, der von demselben Grundgedanken ausging. Die Grundbotschaft der Veranstalter lautete: „Raus aus den kirchlichen Milieus, rein in den Alltag der Menschen. Wenn die Kirche zu den Menschen aufbricht und mit ihnen das Evangelium neu entdeckt, wird sie sich verändern.“ (www.kirchehochzwei.de)

-    Das Erzbistum München, die Evangelisch-lutherische Kirche und die ACK in Bayern haben ein Projekt  "Spurenleger. Gemeinsam. Freiräume. Entdecken" gestartet. Dieses vermittelt  innovative, ökumenische Projekte, um die dort gewonnenen Erkenntnisse für die eigene Praxis fruchtbar zu machen.  Dort fand ich den treffenden Satz von Martin Nicol: „Lasst uns in utopischer Treue und frommer Unruhe bei unserer Sache bleiben."       (www.Projekt-Spurenleger.de)

-    Der BDKJ arbeitet an einer „Theologie der Verbände“. Als erste Ansätze werden u.a. beschrieben: Die Kinder- und Jugendverbände haben in ihrer spezifischen Form Anteil an der Sendung der Kirche in der Welt von heute. Sie orientierten sich an der Lebenswelt junger Menschen und sind Anders-Orte im Alltag der Kinder und Jugendlichen. Sie ver-wirklichen die kirchlichen Grundvollzüge nah an der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen. Wir dürfen alle sehr gespannt sein auf das Ergebnis, das bis Mai 2015 vorliegen wird.

-    Nur sehr unvollständig verweise ich z.B. auf das ökumenische Forum Hafencity in Hamburg (www.oekumenisches-forum-hafencity.de), den Kristallisationspunkt für das kreative Schaffen in St. Michael am Brüsseler Platz in Köln (www.artundamen.de),
eine Jugendkirche in einem mehr ländlichen Raum in Langenberg, Erzbistum Paderborn:
(www.dickerfisch.eu), Freiräume in einer alten Kirche in Hamm mit verschiedenen Gottesdienstformen, Installationen, Ausstellungen, Irritationen, Begegnungen (www.moonlightmass-hamm.de). Vieles von dem möchten wir in Verbindung bringen mit unserem Grundlagenpapier. Es gibt verschiedene Ideen dazu – über die Homepage bis zu einem Austauschtreffen. Wir hoffen, auch von Ihnen Berichte über weitere Beispiele zu bekommen.

Der Arbeitskreis "Pastorale Grundfragen", verbindet mit diesem Grundlagenpapier die Hoffnung, dass möglichst viele Glieder der Kirche die exemplarischen "neuen Orte" als eine Aufforderung und Ermutigung aufnehmen, ihrerseits zu experimentieren, Kirche in neuer Weise zu gestalten und sich so auf gemeinsame Lernwege zu einer Kirche zu begeben, die Sinn und Bedeutung des Evangeliums für die Gegenwart und die Zukunft entdeckt und den Menschen das Evange-lium nahebringt. Wir wenden uns an alle, die auf unterschiedlichen Ebenen kirchengestaltend handeln. Papst Franziskus hat uns schon viel mit auf den Weg gegeben, so auch dieses: „Gott begegnet man im Heute.“ Ich hoffe sehr, dass wir mit diesem Impuls einen wichtigen Beitrag für diese Begegnung geben

Und noch etwas: Dann können wir die mit dem Schild von St. Peter Ording angesprochene Versandung der Kirche verhindern, die auf diesem Bild schon weit fortgeschritten ist.

 

Alle Informationen zu "Kirche neu und an neuen Orten" finden Sie hier

Hans-Georg Hunstig Sprecher des Sachbereichs 1 "Pastorale Grundfragen"

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