Neue Formen der politischen Beteiligung als Herausforderung für engagierte Christinnen und Christen
Demokratie in Bewegung
Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Seit einigen Jahren zeichnet sich in unserem demokratischen Gemeinwesen eine Entwicklung zu einem Anspruch auf stärkere direkte Bürgerbeteiligung ab. An entscheidenden Punkten trägt das etablierte repräsentative, parlamentarische, nationalstaatlich und föderal organisierte politische System dem noch nicht Rechnung. Als Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ermutigen wir dazu, aus dem christlichen Glauben heraus Verantwortung in Gesellschaft und Politik zu übernehmen. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, die großen Herausforderungen der Zukunft am Gemeinwohl orientiert zu bewältigen. Dabei gilt es, die aktive Beteiligung möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger zu fördern und mit den bewährten, effektiven Prinzipien der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaates in Einklang zu bringen.
Neue Formen der politischen Beteiligung im Rahmen der repräsentativen Demokratie – Bestandsaufnahme, Bewertung und Perspektiven
Während in vielen anderen europäischen Staaten u. a. im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise in den vergangenen Jahren tiefgreifende gesellschaftliche und politische Konflikte und Umwälzungen aufgetreten sind, erscheint die Lage in Deutschland nach wie vor sehr stabil. Ein "entspannter Fatalismus" (Renate Köcher) kennzeichnet die politisch-kulturelle Befindlichkeit. Offener, gar radikaler Protest ist selten anzutreffen. Daraus eine Zufriedenheit der Deutschen mit dem politischen System abzuleiten, wäre allerdings die falsche Schlussfolgerung. Tastendes Misstrauen herrscht überall. Vertrauen ist nicht nur zwischen Banken und Kunden verloren gegangen, sondern auch zwischen Politik und Wählern. Dazu trägt auch ein Mangel an Transparenz bei, wenn viele Bürger den Eindruck gewinnen, dass politische Richtungsentscheidungen nicht in den Parlamenten fallen.
Die Krise der politischen Repräsentation ist aber nicht zementiert in Apathie und Agonie. Denn zeitgleich zur Vertrauenskrise lassen sich auch Suchbewegungen nach neuen Beteiligungsmöglichkeiten gerade in der Mitte der Gesellschaft entdecken. In der Regel wird nicht ein Mehr an Beteiligung gesucht, sondern eher eine andere Weise der Beteiligung. In diesem Kontext kommt auch Bewegung in das Parteiensystem, wie man am zeitweiligen Zuspruch für neue Parteien sieht.
Ernst gemeinte Beteiligung braucht Zeit und Wahlmöglichkeiten
Demokratische Prozesse und Bürgerbeteiligung sollen gewährleisten, dass mit der Kompetenz und dem Engagement der Bürger bestmögliche Lösungen gefunden werden. Zugleich dienen sie immer auch dazu, Akzeptanz des Ergebnisses zu stiften. Im Umkehrschluss ist in den letzten Jahren verstärkt festzustellen, dass viele Bürger ein Ergebnis, das von ihrer Vorstellung abweicht, nicht akzeptieren, wenn sie den Eindruck haben, zuvor nicht ausreichend beteiligt worden zu sein. Sie legen Wert auf eine rechtzeitige, bürgernahe Möglichkeit zur Mitsprache, dies umso mehr, wenn sie mit einem Bauvorhaben, einer Infrastruktur- oder Verkehrsplanung nachteilige Auswirkungen auf das eigene Lebensumfeld verbinden.
In den vergangenen Jahren wurde in mehreren Fällen offenkundig, dass korrekt herbeigeführte Planungsentscheidungen selbst bei vorheriger, im Planungsverfahren fest vorgesehener Bürgerbeteiligung noch keine ausreichende Legitimation und Akzeptanz stiften. Daran wird deutlich, dass die Bürgerbeteiligung nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftlich verankert sein muss. Sie darf nicht aufgrund der Komplexität der Planung und des Verfahrens nur für Experten zugänglich sein.
Die Weichen für eine gelingende Bürgerbeteiligung müssen zu Beginn eines Planungs- und Entscheidungsprozesses gestellt werden. Am Startpunkt der Politik und der Planung müssen für die Bürgerinnen und Bürger das Ziel der Maßnahme und Alternativen erkennbar sein. Bei ihnen muss das Signal ankommen, dass sie sich beteiligen können und dass ihre Beteiligung erwünscht ist. Dafür sind geeignete Vermittlungs- und Beteiligungsformate sowie vor allem ausreichend Zeit einzuplanen. Auf dieser Grundlage können Bürger ihre aus persönlicher Betroffenheit erworbene Kompetenz konstruktiv in den Planungsprozess einbringen. Die für eine sorgfältige und umfassende Bürgerbeteiligung benötigte Zeit und die dafür eingesetzten finanziellen Mittel werden sich letztlich als gute Investition erweisen, wenn die auf dieser Grundlage getroffene Planungsentscheidung dann über eine höhere Legitimation verfügt.
Nicht zuletzt die gewachsenen Möglichkeiten der Online-Kommunikation und -Mobilisie-rung bergen dazu große Potenziale – sowohl für eine konstruktive Beteiligung seitens der Politik und der Verwaltung als auch für die Herausbildung stabiler Protestformationen als Gegenöffentlichkeit. Ein besonders markantes Beispiel dafür waren die Bürgerproteste gegen das Infrastrukturprojekt "Stuttgart 21". In diesem Fall konnte erst das Instrument der öffentlich durchgeführten Schlichtung den Druck des Netzes und der Straße auffangen, indem es den interessierten Bürgern die Komplexität der Politik übersetzte und nahebrachte. Für Infrastrukturgroßprojekte wie z. B. den bundesweiten Ausbau der regenerativen Energiegewinnung und der Leitungsnetze im Zuge der Energiewende, bei der Suche nach einem Standort für ein Atommüll-Endlager oder bei Flughafenneubauten und -erweiterun-gen wird daher künftig von vornherein ein anderer Kommunikationsmodus notwendig sein. Dies gilt gleichermaßen für Planungs- und Entscheidungsprozesse auf der kommunalen Ebene, die schon bisher und auch in Zukunft den häufigsten Anlass zur Bürgerbeteiligung bieten. Ebenso wichtig wie der veränderte Kommunikationsmodus der staatlichen Seite wird es aber sein, dass die Beteiligungsmöglichkeit seitens der Bürger auch tatsächlich wahrgenommen und das Ergebnis des Prozesses akzeptiert wird.
Das Gemeinwohl muss Handlungsmaxime sein
Das Beispiel der im Stuttgarter Fall in die Öffentlichkeit getragenen Proteststimmung steht noch für ein weiteres wichtiges Signal. Es hat aufgezeigt, dass Protestbewegungen betroffener Bürger allein noch keine Repräsentativität für sich beanspruchen können. Einerseits werden sie von engagierten, artikulationsfähigen Minderheiten getragen. Andererseits sind sie eine Partizipationselite, die nicht alle Bevölkerungsteile gleichermaßen vertritt und nicht die gleiche Legitimation wie demokratisch gewählte Politiker hat. Erst die Protestbewegung hat in diesem Fall eine Volksabstimmung herbeigeführt. Diese Abstimmung hat durch die Mobilisierung der bis dahin "schweigenden Mehrheit" genau jenes Resultat bestätigt, das zuvor schon in einem rechtlich geregelten Verfahren, aber ohne ausreichende Verankerung in der gesamten betroffenen Bevölkerung erzielt worden war. Durch die Volksabstimmung wurde dieses Resultat auch im umfassenderen Sinne legitimiert. Der öffentlich artikulierte Protest entsprach im Ergebnis nicht der Mehrheitsmeinung, war aber wichtig dafür, dass der Mehrheitswille sich überhaupt durch das Plebiszit deutlich manifestieren konnte.
Für eine dem Gemeinwohl verpflichtete Willensbildung und Entscheidungsfindung ist diese Konstellation sehr aufschlussreich. Denn sie zeigt exemplarisch auf, dass es sich bei einem Bürgerprotest oder einer Bürgerinitiative häufig um eine einseitige Interessenartikulation handelt. Die Bewegungen werden meist von sozial abgesicherten, gut ausgebildeten und besonders artikulationsfähigen Akteuren getragen. Bildungsferne Gruppen und Menschen in prekären Lebenslagen sind dort deutlich unterrepräsentiert. Daher bedarf eine erweiterte Bürgerbeteiligung immer eines institutionellen Gegengewichts. Dies ist und bleibt eine Aufgabe der parlamentarischen Arbeit, die durch Elemente der Bürgerbeteiligung sinnvoll zu ergänzen, aber keineswegs zu ersetzen ist. In den Parlamenten übernehmen Politikerinnen und Politiker stellvertretend für die gesamte Bevölkerung Verantwortung. Sie sind vor allem dem Gemeinwohl und nicht nur einzelnen Interessen verpflichtet. Zugleich erwarten wir von den Trägern und Mitgliedern der Protestbewegungen nicht nur eine Vertretung ihrer Interessen, sondern dass sie auch das Gemeinwohl im Blick halten.
Auch die parlamentarische Arbeit weist indes die Tendenz einer Verengung auf privilegierte Gruppen auf. Diese Entwicklung birgt die Gefahr der Klientelpolitik. Ihr ist seitens der gewählten Mandatsträger durch die gemeinwohlorientierte Ausübung des politischen Mandats entgegenzuwirken. Eine wichtige Aufgabe der Parteien ist es, auf eine die Bevölkerung repräsentierende Zusammensetzung von Parlamenten hinzuwirken. Nicht nur außerparlamentarisch, sondern auch in den für die parlamentarische Arbeit konstitutiven Parteien gilt es, die Zugangsschwelle für die Partizipation interessierter Frauen und Männer aus unterschiedlichen Generationen und Milieus zu senken.
Stärkung und Qualifizierung der parlamentarischen Demokratie durch Bürgerbeteiligung
Mit dem Wunsch nach neuen Formen der Beteiligung geht keineswegs zwangsläufig eine Infragestellung und Gefährdung der repräsentativen Demokratie und der politischen Meinungsbildung in den Parteien einher. Deren Leistungsfähigkeit innerhalb des politischen Systems und der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung ist unstrittig und verdient nach wie vor große Anerkennung. Bürgerpartizipation steht dazu nicht im Gegensatz. Sie kann vielmehr in den Prozess der demokratischen Meinungs- und Willensbildung integriert werden und die Legitimation der am Ende mit parlamentarischer Mehrheit zu fassenden Beschlüsse stärken.
Um gute politische Repräsentation heute zu realisieren, sind neue Formate des kollektiven Aushandelns, des gemeinsamen Erarbeitens notwendig. Damit erweitert sich automatisch der Kreis der Beteiligten. Ein inklusiver Prozess der Entscheidungsfindung stärkt die Repräsentation. Es kommt nicht auf die Dauer der Entscheidungsfindung an, sondern auf die Qualität der Entscheidung, die am Ende im Parlament zu treffen ist. In vielen Fällen wird eine umsichtige Bürgerbeteiligung helfen, Folgekosten und Verzögerungen nach der Beschlussfassung zu vermeiden. Damit dies gelingt, muss auch darauf hingewirkt werden, dass Bürgerbeteiligung nicht im Hintergrund gesteuert und instrumentalisiert wird.
Am Ende eines solchen Meinungs- und Willensbildungsprozesses muss eine eindeutige, in ihrer Gültigkeit unangefochtene, von gewählten Mandatsträgern getroffene demokratische Entscheidung stehen, die allerdings die Ergebnisse des Bürgerbeteiligungsprozesses ernst zu nehmen hat. So wie dieser Prozess prinzipiell allen Bürgerinnen und Bürgern offenstehen muss, ist auch von allen Beteiligten die übergeordnete Legitimität und Geltung des rechtsstaatlichen Verfahrens zu respektieren. Der funktionierende, allseits anerkannte Rechtsstaat ist die unabdingbare Voraussetzung für die friedliche Regelung von Konflikten.
Wir unterstützen darüber hinaus auch Ansätze direkter Demokratie auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Die durch den Vertrag von Lissabon geschaffene Europäische Bürgerinitiative wird als weltweit erstes Instrument grenzübergreifender, verfasster Bürgerbeteiligung begrüßt. Sie weiter zu stärken und zu optimieren, ist gemeinsame Aufgabe von EU und Mitgliedsstaaten. Debatten über direkte Bürgerbeteiligung auf Bundesebene – etwa in zentralen Fragen der Europapolitik – sind sachlich und ergebnisoffen zu führen.
Das Netz als Erweiterung der politischen Öffentlichkeit
Durch die technische Entwicklung sinken die Transaktionskosten von Kommunikation stetig. Die Möglichkeiten, sich umfassend zu informieren und Gleichgesinnte zu mobilisieren, sind ungleich größer als noch vor wenigen Jahren. Darin liegen große Chancen für eine effektive Beteiligung von mehr Bürgerinnen und Bürgern an demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen. Die Möglichkeiten des Netzes können die weit verbreitete Ansicht, man könne außerhalb von Parteien und Parlamenten ohnehin politisch nichts ausrichten, revidieren und für einen Partizipationsschub sorgen. Um im Anschluss an Information und Mobilisierung auch nachhaltige politische Wirkungen entfalten zu können, bedarf es aber nach wie vor der Organisation in Interessensgruppen oder politischen Parteien, um die Impulse und Initiativen verstetigen zu können.
Die neuen Partizipationsmöglichkeiten durch das Internet dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen den gleichen Zugang zu ihnen haben. Derzeit ist der Zugang zum Internet schon aus technischen Gründen nicht in ganz Deutschland in gleicher Qualität möglich. Ältere, aber auch bildungsferne Menschen nutzen das Internet in unterdurchschnittlichem Maß und drohen deshalb von diesen neuen Beteiligungsformen ausgeschlossen zu bleiben.
Das Netz hat aber noch eine weitere demokratiepolitische, öffentlichkeitsbezogene Dimension. In den jüngeren Generationen ist die Sozialisation mit dem und im Netz zu einer lebensweltlichen Selbstverständlichkeit geworden. Diese Entwicklungen tragen zu gesteigerten, manchmal auch überhöhten Transparenz- und Partizipationsansprüchen an die Akteure des politischen Systems bei – Ansprüche, denen gerecht zu werden nicht nur eine technische, sondern auch eine kulturelle Herausforderung ist. Das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems und die Autorität seiner Amtsträger leiden darunter, dass sie im Netz permanent hinterfragt und ihre Schwachstellen enttarnt werden können. Dazu gehört leider auch, dass von manchen Netzakteuren – häufig im Schutz der Anonymität – mit destruktiven und verunglimpfenden Beiträgen die Grenzen der demokratischen Kultur überschritten werden. Das Ergebnis von mehr Transparenz darf nicht sein, dass politische Prozesse torpediert oder unmöglich gemacht werden. Es geht darum, dass demokratische Prozesse durchlässig für mehr Beteiligung werden, nicht darum, sie zu destabilisieren.
Um das Vertrauen dieser neuen politischen Generation zu gewinnen, bedarf es eines Mentalitätswandels. Die politische Meinungs- und Willensbildung kann durch die neuen politischen Akteure nur dann bereichert werden, wenn es auf allen Seiten eine Grundhaltung der Lernbereitschaft gibt. Dazu gehört auch, Fehler einzugestehen und einen einmal eingeschlagenen Kurs sachdienlich zu revidieren. Es wird nicht reichen, nach erfolgter Meinungsbildung im alten Stil mit einem zusätzlichen Bürgerdialog im Netz nur den Anschein von Modernität und Vernetzung zu erwecken. Ein ernstgemeinter Dialog muss auch Ergebnisse und konkrete Konsequenzen haben. Dies gilt nicht nur in der Politik.
Was bedeuten diese Entwicklungen für uns als Kirche?
1. Die kulturelle Kluft zu den Netzakteuren überwinden
Die Kirche steht wie die etablierten politischen Akteure vor der Herausforderung, die kulturelle Distanz zu den Netzakteuren zu überwinden und kommunikativ auf diese fraglos an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnende Gruppe zuzugehen. Dies ist umso wichtiger und chancenreicher, da es sich nicht um eine homogene Gruppe handelt. Eine wachsende Zahl von ihnen dürfte zwar kaum mit Religion und Kirche vertraut sein, aber gerade aufgrund ihrer Netzsozialisation durchaus überraschungsoffen sein.
Als ZdK arbeiten wir an unserer netzpolitischen Sprachfähigkeit und wollen für unsere interne Meinungsbildung gezielt digital gestützte partizipative Verfahren aufgreifen.
2. Chancen der Bürgerbeteiligung und der direkten Demokratie für die Förderung des Gemeinwohls nutzen
Christen sind aufgerufen, sich in demokratischen Parteien und Parlamenten zu engagieren. Doch auch ihre Mitwirkung in am Gemeinwohl orientierten Bürgerinitiativen und Bündnissen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ist von großer Bedeutung. Die Stimme der Christen und der Kirchen wird in diesem vorparlamentarischen Zusammenhang gerade dann gehört, wenn sie sich qualifiziert zu Sachfragen äußern und mit gesellschaftspolitischem Profil auftreten. Ein gutes Beispiel für ein sozialethisch motiviertes, am Gemeinwohl orientiertes Engagement hat der Diözesanrat des Erzbistums Berlin gegeben, der sich auf Landesebene für das erfolgreiche Volksbegehren "Unser Wasser" eingesetzt hat. Dabei wurde zudem deutlich, dass in einem kirchenfernen Umfeld im konkreten gesellschaftspolitischen Engagement auch die Chance für eine veränderte öffentliche Wahrnehmung der Kirche liegt, die von engagierten und sachkundigen Laien repräsentiert wird.
3. Das System der repräsentativen Demokratie stärken
In einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie steht die Arbeit der Abgeordneten als Volksvertreterinnen und -vertreter zu Recht unter besonders aufmerksamer Beobachtung. Das gleiche gilt für die politischen Parteien, denen in unserem politischen System eine entscheidende Rolle zufällt. Ihre Bedeutung nimmt angesichts neuer Aufbrüche in der Bürgerbeteiligung keineswegs ab. Denn nach wie vor sind sie es, die politische Handlungsfähigkeit gewährleisten. Wir ermuntern deshalb engagierte Christinnen und Christen, in Parteien aktiv mitzuwirken und sich selbst für verantwortungsvolle Aufgaben in Politik und Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Die wichtige, für unsere Gesellschaft konstitutive Arbeit in den Parlamenten und Parteien ist gerade in einem Klima des Misstrauens gegenüber etablierten politischen Organisationen und Institutionen auf gesellschaftliche Wertschätzung angewiesen.
Zu dieser Wertschätzung können die Kirchen sowie die Christinnen und Christen in mehrfacher Hinsicht beitragen. Zunächst ist die Ermutigung zum politischen Engagement gemäß den politischen Spielregeln zu nennen. Zu den Voraussetzungen der Demokratie gehört die grundsätzliche Bereitschaft, auch Kompromisse einzugehen. Politisches Handeln ist meistens mit der Abwägung von verschiedenen Sachverhalten, Interessen, Zielen und oft auch Werten verbunden. In den meisten Fällen ist es eine Abwägung mit pragmatischem Charakter. Auch die politische Handlungsfähigkeit einer Partei oder Fraktion ist ein demokratiepolitisches Gut.
Innerhalb einer Partei oder Fraktion wie auch seitens der Kirche ist aber zu respektieren, dass der oder die einzelne Abgeordnete nach dem eigenen Gewissen entscheidet. Dazu kann auch die Prüfung gehören, ob es dem verfolgten Ziel dient, die Wahl des "kleineren Übels" als Entscheidungsmaßstab zu nehmen. Der politische Kompromiss hat daher im Hinblick auf das Gemeinwohl einen eigenen ethischen Wert.
Die Wertschätzung der repräsentativen Demokratie muss aber auch von innen, durch die Akteure in Parteien und Parlamenten gefördert werden. Für die Glaubwürdigkeit des Engagements von Christinnen und Christen in der Politik kommt es in besonderer Weise darauf an, dass sie sich in der Ausübung von Mandaten wie auch im vorparlamentarischen Raum gemäß der christlichen Sozialethik am Gemeinwohl orientieren. Eine wichtige Orientierung für politisch engagierte Christinnen und Christen und ihre Zusammenschlüsse sollte es sein, im politischen System gerade denjenigen eine Stimme zu verleihen, die ansonsten in der politischen Debatte nicht zu Wort kommen.
4. Wählen gehen
Zentrale demokratiepolitische Entwicklungen der letzten Jahre zeigen: Es lohnt sich auch weiterhin und ist zur Stabilisierung unseres demokratischen Gesellschafts- und Rechtssystems unerlässlich, an den Wahlen zum Deutschen Bundestag wie auch an den Wahlen auf allen anderen politischen Ebenen teilzunehmen. Denn die Demokratie braucht Demokraten!
Die Herausforderungen einer veränderten Bürgerbeteiligung und der digitalen Demokratie sollten nicht als Vorboten irreversibler "Postdemokratie" verstanden werden. Sie sind Anfragen an alle demokratischen Akteure, für die sowohl aus der Gesellschaft wie aus dem von politischen Parteien getragenen parlamentarischen System heraus Antworten gefunden werden müssen. Für uns als gesellschaftlich und politisch engagierte Christinnen und Christen handelt es sich nicht um eine abstrakte Entwicklung, die wir von außen beobachten und abwarten könnten. Es geht um den konkreten Vollzug von Demokratie in unserer Lebenswelt: in Gesellschaft, Politik und Kirche.