Gemeinsam lernen Inklusion von Menschen mit Behinderung im Bildungswesen
Erklärung der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Bildung. Dieses wichtige Anliegen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist zugleich ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Menschenbildes. Seit über 150 Jahren sind nicht zuletzt aus christlichem Engagement Einrichtungen entstanden, um den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung gerecht zu werden. So haben sich in Deutschland komplexe Hilfsstrukturen entwickelt. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten vielen Menschen mit Behinderung eine differenzierte individuelle Förderung und Bildung eröffnet. Das Engagement der Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen sowie der Einrichtungen verdient hohe Anerkennung.
Das Leitbild einer inklusiven Gesellschaft setzt auf gemeinsames Leben und Lernen. Es fordert heraus, bestehende Strukturen mit Blick auf umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu überdenken und zu verändern.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) macht sich dieses Anliegen zu eigen und fordert zum Ausbau inklusiver Strukturen für das gesamte Bildungssystem auf. An die aktuellen Bemühungen zur Umsetzung der UN-Konvention sind zentrale Beurteilungskriterien anzulegen, die zugleich Bedingungen des Gelingens sind:
- Das Wohl jedes einzelnen Menschen muss im Mittelpunkt aller Veränderungsprozesse stehen. Inklusion darf in keinem Fall zu einer Verschlechterung der bisherigen individuellen Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung führen.
- Realistische Möglichkeiten der optimalen Förderung in einem inklusiven System hängen auch von Art und Grad der Behinderung ab.
- Die Hilfe und die dazu notwendigen Ressourcen müssen den Menschen mit Behinderung und ihrer Bedarfslagen folgen, nicht die Menschen der Förderung.
- Inklusion muss dem Erziehungsrecht der Eltern und dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Behinderung Rechnung tragen.
- Inklusion braucht die dafür notwendigen Ressourcen und darf nicht als Sparmaßnahme verstanden werden. Die Einrichtungen müssen personell, räumlich und sächlich entsprechend ausgestattet werden.
- Inklusion darf nicht zu Unterforderung oder Überforderung sowie zu einer Reduktion von Bildungsmöglichkeiten von Menschen ohne Behinderung führen. Sie ist eine besondere Chance für das soziale Lernen.
Die Weiterentwicklung eines inklusiven Bildungssystems, das Menschen mit Behinderung und ihren Bedürfnissen gerecht wird, ist eine große Herausforderung für Politik und Gesellschaft. Inklusion ist eine lange, alle gesellschaftlichen Bereiche betreffende Entwicklung. Die erforderlichen Veränderungsprozesse werden sich nicht kurzfristig, sondern nur schrittweise verwirklichen lassen. Den Prozess eines wachsenden Miteinander-Lernens im gesamten Lebensverlauf gilt es gemeinsam verantwortungsbewusst zu gestalten.
1. In der frühkindlichen Bildung und Erziehung ist gemeinsames Lernen von Anfang an zu ermöglichen. Eltern müssen die Möglichkeit haben, sich für eine inklusive Kindertageseinrichtung zu entscheiden.
2. Die Eltern von Kindern mit Behinderung sollen zwischen unterschiedlichen Schulen wählen können. Dazu bedarf es eines pluralen Schulangebotes von Förderschulen, inklusiven Schulen und Kooperationsmodellen. Damit Eltern verantwortungsvoll entscheiden können, ist eine unabhängige, fachkompetente Beratung zu gewährleisten, in der das Wohl des Kindes und die bestmögliche individuelle Förderung im Mittelpunkt stehen. Nicht alle Schulen werden alle Bereiche und Ansprüche zwischen seelischer, körperlicher und emotionaler Behinderung gleichermaßen abdecken können.
3. Die Qualität der bisherigen sonderpädagogischen Förderung darf in beiden Systemen – Förderschulen und allgemeinen Schulen – nicht herabgesetzt werden. Damit Inklusion in Schulen gelingt, bedarf es vielfältiger Anstrengungen bei der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen. Lehrerinnen und Lehrer müssen für diese neue Aufgabe qualifiziert werden. Inklusion stellt eine besondere Herausforderung für sie dar. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass sie diese neuen Aufgaben auch bewältigen können. Der Unterricht wird auch künftig spezifisch ausgebildete Förderpädagogen erfordern.
4. Lernen findet nicht allein in schulischen Kontexten statt. Träger außerschulischer Kinder- und Jugendarbeit sind gefordert, Kinder und Jugendliche mit Behinderung noch stärker in den Blick zu nehmen und inklusive Freizeitangebote auszubauen. Hier leisten besonders die katholischen Jugendverbände seit Jahren eine vorbildliche Arbeit und bedürfen der weiteren Unterstützung.
5. Auch für junge Menschen mit Behinderung sind der Zugang zu einem dualen Ausbildungsplatz und der Abschluss einer Berufsausbildung von entscheidender Bedeutung für ihre berufliche Zukunft. Sie und die ausbildenden Betriebe sind daher intensiv zu beraten und zu unterstützen. Berufsbildende Schulen sind schrittweise für Inklusion zu ertüchtigen.
6. Damit Hochschulen wirklich "Hochschulen für alle" werden können, sind Nachteilsausgleiche im Studienalltag noch flexibler auf der Grundlage von Einzelfallentscheidungen zu gewähren. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf für Assistenzleistungen ist auf Masterstudiengänge und Promotionen auszuweiten. Auch eine Auslandsförderung sollte eingeschlossen sein. Projekte, Modelle und Instrumente der Netzwerkbildung und Ermutigung von Studierenden mit Behinderung sind zu fördern und weiter auszubauen. Eine weitgehende bauliche und kommunikative Barrierefreiheit der Gebäude, Vorlesungen und Seminare sowie der Prüfungen ist zu gewährleisten.
7. Die Diskussion um eine inklusive Erwachsenenbildung hat gerade erst begonnen und ist dringend zu intensivieren. Bildungsangebote sollten so gestaltet sein, dass im Bedarfsfall räumliche und kommunikative Barrierefreiheit gewährleistet werden kann.
8. In den Bereichen schulischer, lebensbegleitender und religiöser Bildung ist die Kirche, sind Pfarrgemeinden, katholische Organisationen und Verbände sowie Diözesen als Träger eigener Einrichtungen und mit eigenen Angeboten engagiert. Sie setzen sich vor Ort für die Inklusion von Menschen mit Behinderung ein und leisten einen eigenen Beitrag dazu.
Das Bildungswesen stellt nur einen Teilbereich dar, der im Hinblick auf die Umsetzung von Inklusion von Menschen mit Behinderung im Gemeinwesen von Bedeutung ist. Die Forderung nach umfassender Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft und ihre Verankerung in der UN-Konvention dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung ein unabgeschlossener Prozess bleibt, in dem in allen Lebensbereichen auch Widersprüche sichtbar werden. Die Auswahl des menschlichen Lebens in seinem frühesten, vorgeburtlichen Stadium widerspricht nicht allein dem christlichen Menschenbild, sondern auch dem Leitbild der Inklusion.
Die beginnende konkrete Umsetzung der UN-Konvention wird individuelle und gesellschaftliche Lernprozesse in Gang setzen, sie wird neue Erfahrungswelten eröffnen und zu neuen Denkweisen herausfordern. Als Katholikinnen und Katholiken wollen wir diesen Prozess aktiv mitgestalten. Daher rufen wir die Räte und Organisationen auf, sich des Themas "Inklusion" anzunehmen, es breit zu diskutieren und damit zu dem notwendigen gesellschaftlichen Wandlungsprozess beizutragen.