Einführung "Kirche bei den Menschen: Verantwortung der Christen angesichts HIV/AIDS"

von Peter Weiß MdB im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren,

stellen Sie sich vor, Sie sind in einem großen Krankenhaus auf einer Entbindungsstation. Täglich erblicken hier Kinder das Licht der Welt. Es herrscht ein reges Treiben von glücklichen, aufgeregten und erschöpften Familienangehörigen. Die Oberschwester lässt Sie einen Blick in die Patientenakten werfen, Sie haben die Gelegenheit, die Akten durchzublättern. Auf jeder zweiten Akte der jungen Mütter, die in den vergangenen Wochen hier ein Kind geboren haben, gibt es einen kleinen Vermerk – er lautet HIV-positiv. 50 Prozent der Schwangeren sind HIV-infiziert. Dann stehen Sie mitten in einem Krankenhaus in Südafrika und erleben die Seite des Landes, die uns der kurze Film von missio mit seinen eindringlichen Statements und Bildern gerade gezeigt hat.

Diese geschilderte Szene ist nicht frei erfunden, ich habe sie genauso erlebt, Anfang November vergangenen Jahres in einem Krankenhaus in Pietermaritzburg, der Hauptstadt der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal, beim Exposure- und Dialogprogramm des ZdK. Dieses Programm ist auf Initiative des Sachbereichs 9 "Weltkirchliche Solidarität und Entwicklungszusammenarbeit" gemeinsam mit dem Exposure- und Dialogprogramm e. V entwickelt worden. Warum jetzt ein solches Programm zum Thema HIV/Aids? Warum dieses Thema heute auf der Tagesordnung der ZdK-Vollversammlung?

Kevin Dowling, einer der südafrikanischen Bischöfe hat formuliert:
"Der Leib Christi hat Aids, die Kirche hat Aids, denn unser Volk leidet und stirbt an diesem Virus." Über 30 Millionen Menschen weltweit sind derzeit HIV-infiziert, allein in Südafrika leben mehr als 5 Millionen HIV-positive Menschen. Es gibt Fortschritte in der Eindämmung der Ausbreitung des Virus. Und durch antire-trovirale Medikamente ist Aids für viele Menschen zur chronischen Krankheit geworden. Vom Stopp der Ausbreitung und von einem Zugang zur Behandlung für alle Infizierten sind wir aber immer noch weit entfernt. Aber nach vielen Jahren des Kampfes gegen HIV und nach den Erfolgen der Präventionsarbeit in den Industrieländern ist eine zunehmende Erschöpfung im weltweiten Engagement gegen HIV und Aids zu verzeichnen. Die öffentliche Aufmerksamkeit sinkt beständig, obwohl HIV / Aids im südlichen Afrika weiterhin die zentrale entwicklungspolitische Problemlage bleibt und sich in Osteuropa sowie in Asien zunehmend zu einer solchen entwickelt.

Und kaum beachtet wird auch, dass die Kirchen zu den wichtigsten Trägern in der Aids-Arbeit weltweit gehören. Sie leisten in vielen Ländern einen bedeutenden Beitrag zur Prävention, Aufklärung und Lobbyarbeit sowie zum Aufbau des Gesundheitswesens, zu Therapie und Pflege. Und zugleich wird der katholischen Kirche vorgeworfen, durch ihre Verkündigung nicht hinreichend verantwortlich mit der Thematik umzugehen. Papst Benedikt XIV. hat mit seinen Aussagen zu HIV in dem kürzlich erschienenen Interviewbuch eine innerkirchliche Debatte angestoßen, die im Päpstlichen Rat für die Pastoral im Krankendienst weitergeführt wird. An diese möchten wir ebenso anknüpfen wie an die Erfahrungen der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, die 2006 eine Studienreise zum Thema "HIV / Aids" nach Südafrika unternommen hat.

Ausgehend von der entwicklungspolitischen Bedeutung der Aids-Pandemie stand für den Sachbereich Weltkirche fest, diese Thematik muss zurück auf die vorderste Seite der internationalen Tagesordnung, wir sind im Rahmen weltweiter Solidarität geradezu verpflichtet, einen differenzierten Blick auf die komplexe Problemlage zu werfen. Wir wollten aber nicht einen weiteren langen Erklärungstext zu diesem Thema produzieren, sondern haben einen neuen, erfahrungszentrierten Zugang gesucht. Auf diese Weise ist das erste vom ZdK selbst initiierte Exposure- und Dialogprogramm entstanden.

Beflügelt von dieser Idee konnte eine große, sehr heterogene Gruppe von 21 Personen für dieses EDP ge-wonnen werden: Mitglieder des ZdK, Teilnehmer aus katholischen Verbänden, Diözesanräten und Hilf-swerken, der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit und Politik, Vertreter der Pharmaindustrie und Presse. Ich freue mich sehr, dass einige von ihnen auch heute unserer Einladung gefolgt sind und an der Beratung der Vollversammlung teilnehmen. Wir hatten im Rahmen des Exposure-Programms die Möglichkeit, vier Tage mit Menschen in südafrikanischen Townships zusammenzuleben, die sich hauptberuflich oder ehrenamtlich in der HIV/Aids-Arbeit engagieren. Sie tun dies an unterschiedlichen Orten in Südafrika in verschiedenen Projekten, die von der Südafrikanischen Bischofskonferenz, missio oder Misereor unterstützt werden. Wir konnten bei unseren Gastgeberinnen wohnen, mit ihnen essen, sie in ihrer Arbeit begleiten und dabei sehen, wie sie sich den komplexen Herausforderungen von HIV/Aids in ihrem täglichen Handeln stellen. Dabei haben wir Teilnehmer eine Fülle bewegender Erfahrungen gemacht, Erfahrungen von hohem Engagement trotz widriger Lebensumstände, von Mut, Stärke und christlicher Hoffnung trotz der Übermacht von HIV und Armut, aber auch Erfahrungen von persönlicher Verzweiflung und extremer Schwächung durch Krankheit. Davon werden Sie gleich noch Konkreteres hören. Anschließend wurden die Erfahrungen mit Verantwortungsträgern vor Ort reflektiert und erste Perspektiven für eine weiterführende Zusammenarbeit entwickelt.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen meinen Dank auszusprechen, die dieses Exposure- und Dialog-programm möglich gemacht haben:

- zuallererst unserem Kooperationspartner, dem Exposure- und Dialogprogramme e. V., der das Programm organisiert und durchgeführt hat,
- missio und Misereor, die die Auswahl der Projekte begleitet haben,
- dem Verband der Deutschen Diözesen und der Stiftung Lumen Gentium für ihre Unterstützung,
- den Partnern in Südafrika, insbesondere der südafrikanischen Bischofskonferenz für die Gesamt-koordination des Programms vor Ort,
- den Verantwortlichen in den Projekten und den Gesprächspartnern im Dialogworkshop.
- Und ganz besonders danke ich unseren Gastgeberinnen für ihre Bereitschaft, die Tür zu ihren Häusern und Arbeitsstätten weit zu öffnen und uns in großer Gastfreundschaft aufzunehmen.

Dieses Programm hat mehr und stärker als es jedes Studium von Statistiken und Berichten je leisten
könnte, drastisch vor Augen geführt und konkret erfahrbar gemacht, wie sehr HIV / AIDS zu einem zentralen Entwicklungshemmnis geworden ist. Wir konnten erleben, was es für die Menschen bedeutet, dass HIV/Aids in Südafrika gesellschaftliche und familiäre Strukturen zerstört, großen volkswirtschaftlichen Schaden verursacht und so politische, ökonomische und gesellschaftliche Destabilisierung fördert. Es wurde für uns alle in eindringlicher Weise deutlich, wie omnipräsent und hochkomplex die Auswirkungen der HIV-Epidemie in Südafrika sind.

Zentrale Lernergebnisse und Folgerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Exposure- und Dialog-programms haben wir Ihnen unter dem Titel "HIV/Aids – Eine Frage der Gerechtigkeit" bereits schriftlich vorgelegt. Sie sind gemeinsam auf der Grundlage unserer unterschiedlichen Erfahrungen entstanden, welche Erlebnisse konkret hinter ihnen stehen, dazu werden gleich einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichten.

Drei Themenkreise haben sich dabei als besonders wichtig erwiesen:

Wir haben erstens erfahren, wie wichtig die langfristige Verlässlichkeit finanzieller Zuwendungen für die dauerhafte Sicherung des Zugangs zur antiretroviraler Therapie und der Unterstützung von HIV-positiven Menschen ist. Wer lebenslang auf medizinische, medikamentöse Versorgung angewiesen ist, braucht ein stabiles Gesundheitssystem, das diese gewährleisten kann.

Zweitens ist deutlich geworden, dass ohne familiäre Hilfssysteme die Folgen von HIV/Aids nicht bewältigt werden könne. Ohne die Bereitschaft auch oft entfernter Verwandter – fast ausschließlich Frauen –, Aids-Waisen und zu pflegende Angehörige aufzunehmen, hätten viele von ihnen keine Lebensperspektive.

Drittens konnten wir eine katholische Kirche in Südafrika erleben, die trotz ihrer Diasporasituation mit einem Katholikenanteil von 9 % der Gesamtbevölkerung mit ihren Projekten und Behandlungszentren ein wichtiger und glaubwürdiger Akteur im Kampf gegen die HIV-Epidemie g ist. Uns ist dabei auch klar geworden, dass eine Zustimmung zur Verwendung von Kondomen zum Schutz des Lebens dort nur einen sehr kleinen Beitrag zur Verhinderung der Ausbreitung von HIV leisten wird, und wie Bischof Kamphaus schon gesagt hat, kein Allheilmittel ist, für einige Menschen kann sie aber lebensrettend sein. Wir haben in Südafrika eine katholische Kirche erlebt, die geleitet ist von einer praktischen Spiritualität. Eine Kirche, die sich eindeutig an die Seite derer stellt, die ihre Hilfe am meisten benötigen, auf die Seite der HIV-infizierten Menschen. Wir sind davon überzeugt, diese Erfahrung kann zu einem wichtigen Anstoß für uns Christen in Deutschland im Erneuerungsprozess unserer Kirche werden.

Lernen und Verstehen kann und darf nicht folgenlos bleiben. Aus diesem Grund haben wir im Sachbereich 9 eine kurze Verpflichtungserklärung entwickelt, die Handlungsoptionen für das ZdK selbst, für seine Mitglieder und für das Gespräch mit den Bischöfen formuliert. Sie umfasst Verpflichtungen zum Engagement für HIV-positive Menschen weltweit, im südlichen Afrika und bei uns in Deutschland. Diese Handlungsverpflichtungen liegen Ihnen als Entschließungstext zur Diskussion und Abstimmung vor.

Eine wichtige Handlungsoption bietet das Aktionsbündnis gegen Aids. Viele der hier Anwesenden sind Mitglieder in diesem außergewöhnlichen Netzwerk unterschiedlichster Akteure im Engagement gegen HIV und Aids. Das Aktionsbündnis entwickelt Handlungsimpulse, Aktionen und Kampagnenmaterial, mit denen Sie sich sehr konkret an der Bekämpfung der Pandemie beteiligen können, einige Informationen dazu sind auch ausgelegt. Die derzeitige Kampagne "In neun Monaten" setzt sich gegen die Übertragung von HIV von Müttern auf ihr Baby ein. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Übertragung lässt sich durch eine regelmäßige Einnahme antiretroviraler Medikamente von bis zu 40 % auf unter 5 % senken. Und so waren auch von den 50 % HIV-positiven Müttern, deren Akten ich in Pietermaritzburg in den Händen gehalten habe, nur ein sehr kleiner Teil der Kinder infiziert – wenn die Mütter die Behandlung angenommen haben. Ein Hoffnungsschimmer!

Peter Weiß, MdB Sprecher des Sachbereichs 9 "Weltkirchliche Solidarität und Entwicklungszusammenarbeit"

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