HIV/Aids – Eine Frage der Gerechtigkeit

Zentrale Lernergebnisse und Folgerungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Exposure- und Dialogprogramms "HIV/Aids – Gesellschaftspolitische Herausforderung und christliche Verantwortung" im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

"Für nichts, was es auch immer sei – Spiritualität oder soziales Apostolat – gibt es eine Abkürzung. Es ist immer ein langer Weg. Zu wirklichem Wandel und wirklicher Erkenntnis kommt man nur durch einen langen Prozess. Der erste Schritt dabei ist immer der Kontakt – Kontakt mit Personen, Kontakt mit Situationen. Ohne Personen zu treffen, können wir sehr theoretisch sein. Wir können viel Energie und Zeit darauf verwenden, theoretisch zu diskutieren, und in diesem Kontext streiten wir dann auch häufig miteinander. Realität ist, wo Menschen um ihr Überleben kämpfen, eine Existenz sichern, Liebe erhalten und vertiefen, Familien versorgen und Beziehungen pflegen. Theorie ist gut, um Erfahrungen zusammenzufügen, aber ohne Erfahrungen werden Theorien sehr schwach." Pater Adolfo Nicolás SJ

Das ZdK hat auf Initiative des Sachbereichs 9 "Weltkirchliche Solidarität und Entwicklungszusammenarbeit" gemeinsam mit dem Exposure- und Dialogprogramm e. V. vom 29.10. bis 07.11.2010 ein Exposure- und Dialogprogramm in Südafrika durchgeführt, um sich dem Thema HIV/Aids als gesellschaftspolitische Herausforderung in christlicher Verantwortung zu stellen. 21 Personen – Mitglieder des ZdK, Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus katholischen Verbänden, Diözesanräten und Hilfswerken, staatlicher Entwick-lungszusammenarbeit und Politik, Vertreter der Pharmaindustrie und Presse – haben vier Tage mit Menschen in südafrikanischen Townships zusammengelebt, die in der HIV/Aids-Arbeit tätig sind. Sie engagieren sich in Projekten in Orange Farm, Tumahole, Durban und Pietermaritzburg, die von der Südafrikanischen Bischofskonferenz, missio oder Misereor unterstützt werden. Die Teilnehmer durften bei ihnen wohnen, mit ihnen essen, sie in ihrer Arbeit begleiten und dabei sehen, wie sie sich den Herausforderungen von HIV/Aids in ihrem täglichen Handeln stellen. Eindringliche Erlebnisse von hohem Engagement trotz widriger Lebensumstände, von Mut, Stärke und christlicher Hoffnung trotz der Übermacht von Krankheit und Armut, aber auch von strukturellen Problemlagen, persönlicher Verzweiflung und extremer Schwächung durch HIV/Aids konnten anschließend mit Verantwortungsträgern vor Ort reflektiert werden. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zentrale Lernergebnisse und Folgerungen formuliert:

HIV/Aids ist zuerst und vor allem eine Folge von Armut. Armut erwächst aus sozialer Ungleichheit und Arbeitslosigkeit, führt zu Arbeitsmigration und der dadurch bedingten Trennung von Familien. Folgen sind Prostitution, Hunger und Ausweglosigkeit. HIV/Aids betrifft nahezu alle Bereiche südafrikanischer Le-benswirklichkeit. Die Auswirkungen der HIV-Epidemie sind hier omnipräsent und hochkomplex. Natürlich trifft eine HIV-Infektion oder eine Aids-Erkrankung zuerst die unmittelbar betroffene Person, ihre Kinder, ihre Eltern, die Geschwister und den größeren familiären Kontext. Aber die HIV/Aids-Epidemie umfasst auch kulturelle, genderspezifische, religiöse und historische Aspekte und damit verbundene politische und wirtschaftliche Herausforderungen. Sie hat zudem kurz-, mittel- und langfristige volkswirtschaftliche und betriebliche Auswirkungen sowie Konsequenzen für die Gesundheits- und Sozialsysteme.

Der Vielzahl der Auswirkungen der Epidemie muss die Entwicklungsarbeit im Bereich HIV/Aids konzeptionell gerecht werden. Die jeweiligen kulturellen, politischen und ökonomischen Auswirkungen der Epidemie erfordern systemische Antworten in den jeweiligen Handlungsfeldern. Es bedarf in der gesamten Entwicklungsarbeit besonders betroffener Länder eines HIV/Aids-Mainstreamings. Dabei werden HIV und Aids in die verschiedenen Projekte der Entwicklungszusammenarbeit als Querschnittsthema einbezogen mit dem Ziel, einen wichtigen Beitrag in der Prävention und in der Linderung der Auswirkungen von HIV und Aids zu leisten. Mit dem Mainstreaming-Ansatz ergibt sich die Chance, die Fragestellung nach HIV/Aids und Maßnahmen der Unterstützung in die verschiedenen Bezüge der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung einzuspeisen. Er stellt eine notwendige Antwort auf die Komplexität der Herausforderungen dar.

Der freie und leicht erreichbare Zugang zur antiretroviralen Therapie muss für alle Menschen mit HIV/Aids weltweit sichergestellt werden. Dies ist nur möglich, wenn eine kostenfreie Therapie für Menschen in Armut gewährleistet wird. Neben den Medikamenten schließt dies auch die zugleich nötigen Diagnose-maßnahmen, die Leistungen der Ärzte und anderer Fachkräfte, Beratung und Begleitung der Patienten sowie die Arzneimitteldistribution ein. Um die Behandlung möglichst vieler Menschen sicherstellen zu können, müssen daher umfassende Behandlungsprogramme organisiert werden. Dazu bedarf es auch der Ausbildung medizinischen und pharmazeutischen Fachpersonals.

Für die bestehenden Einrichtungen vor Ort bedarf es einer langfristigen Verlässlichkeit finanzieller Zuwendungen und Kooperationen, um insbesondere die lebenslang auf medizinische Versorgung angewiesenen Patientinnen und Patienten zu betreuen. Immer wieder gefährden begrenzte oder verringerte finanzielle Mittel und das Auslaufen von Projektprogrammen die Durchführung adäquater Therapien bzw. die Neuaufnahme von Patienten, die die Behandlung benötigen. Hier sind besonders die nationalen Regierungen gefordert, ihre öffentlichen Haushalte so zu gestalten, dass sie den Grundbedürfnissen ihrer Bevölkerung nach Gesundheit und Bildung gerecht werden. Dazu bedarf es auch eines progressiven Steuersystems, das insbesondere die Unternehmer und Bezieher höherer Einkünfte in die Pflicht zum Beitrag am Gemeinwohl nimmt. Darüber hinaus ist eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen sich (weiter-)entwickelnden staatlichen Gesundheitsprogrammen und nichtstaatlichen Gesundheitseinrichtungen, Präventionsinitiativen und Projekten für Aids-Waisen erforderlich.

Es bleibt eine Aufgabe internationaler Solidarität, den am schwersten von HIV und Aids betroffenen Ländern auch Finanzmittel zur Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht insbesondere durch den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM) und andere große Geldgeber, aber auch durch bilaterale Entwicklungshilfeabkommen, durch Hilfswerke, Public-Private-Partnerships und zivilgesellschaftliche, besonders auch kirchliche Initiativen. Eine Vereinbarung zur Kontinuität von Seiten der Geber und der durchführenden Organisationen ist für ein verantwortliches Handeln gegenüber den Menschen mit HIV und Aids-Kranken unerlässlich. Deutschland ist aufgefordert, die in internationalen Konferenzen zugesagten Entwicklungsausgaben auch wirklich bereitzustellen.

Unsichere Zuwendungen und finanzielle Deckelungen für Medikamente schaffen unzumutbare ethische Konflikte für das Gesundheitspersonal. Die Entscheidung, welcher Aids-Patient die lebensnotwendige antiretrovirale Therapie erhält und welcher nicht, und somit zu einer Entscheidung über Leben und Tod wird, darf nicht den behandelnden Ärzten aufgezwungen und sie mit ihr allein gelassen werden.

Träger der Entwicklungsarbeit im Kontext HIV/Aids sind die Menschen, die vor Ort mit den Betroffenen arbeiten. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und die Betroffenen selbst, die sich im Gesundheitswesen, in Pflege-Programmen, in der Sozial- oder Gemeinwesenarbeit sowie in der Selbsthilfe engagieren, sind diejenigen, die Behandlung und HIV-Tests anbieten, gemeinsam mit den Betroffenen Trauerarbeit leisten, sie psychosozial begleiten und Angehörige in ihrem Heilungsprozess unterstützen, den Kranken einen Umgang mit Infektion oder Erkrankung ermöglichen, gemeinsam Lösungen und neue Lebensperspektiven entwickeln. Die für eine nachhaltige Finanzierung wichtigen politischen Fragestellungen dürfen diese Dimension nicht verstellen. Es gilt in diesem Rahmen auch, psychosoziale und seelsorgliche Angebote zur Unterstützung der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und pflegender Angehöriger zu entwickeln und auszubauen.

Insbesondere die Frauen leisten in den gewachsenen, aber oftmals geschwächten Gemeinschafts- und Familienstrukturen, meist notgedrungen und zugleich mit großer Selbstverständlichkeit, einen bedeutenden Beitrag, um die gravierenden Folgen der HIV/Aids-Epidemie konkret zu bewältigen. Familie, das sind in (Süd-)Afrika erweiterte Familienstrukturen: Großeltern, Onkel, Tanten, Nichten Neffen, auch entfernte Verwandte gehören zur Familie mit weitgehender moralischer und rechtlicher Verantwortung und Konsequenzen. Insbesondere für die Aids-Waisen wäre eine Lebensperspektive im südlichen Afrika ohne die Bereitschaft der Familien – meist der Großmütter und Tanten –, diese Kinder aufzunehmen und damit auch die eigene Lebensplanung und die eigene wirtschaftliche Basis infrage zu stellen, häufig nicht gegeben. Ähnliches gilt für die Pflege von Aids-Kranken und die Arbeit in Home-based-Care-Programmen. Ohne die Bereitschaft, diese Dienste am Nächsten zu erbringen, ist die Arbeit der Entwicklungshilfe zum Scheitern verurteilt. Entwicklungsarbeit stützt diese familiären Hilfssysteme und muss dies auch weiter zentral tun.

Das gleichberechtigte Zusammenleben von Frauen und Männern ist eine Bedingung für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen, die sich aus der HIV-Epidemie ergeben. Damit dies verstärkt möglich wird, bedarf es der Förderung eines selbstbestimmten Lebens für Frauen und ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Die Frauen in Südafrika tragen zu großen Teilen die sozialen und psychischen Folgen der Epidemie. Sie brauchen Unterstützung, wenn sie Verantwortung für ihre Sexualität und Partnerwahl übernehmen wollen, sie brauchen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten, sie sind angewiesen auf eigenes Erwerbseinkommen. Lernen kann man von den unzähligen starken Frauen, die sich für Menschen mit HIV/Aids engagieren und oft selbst HIV-positiv sind. Zugleich müssen Männer ermutigt werden, ihre Rollenbilder zu hinterfragen, sich nicht über Gewalt oder sexuelle Machtausübung gegenüber Frauen zu definieren und Verantwortung in der Familie zu übernehmen. Viele Männer sind in ihrem traditionellen Selbstbild erschüttert und kompensieren Verunsicherung durch Alkoholmissbrauch und Gewalt meist gegenüber Frauen und Kindern. Die Kirche in Südafrika hat in Gemeinden und Diözesen Angebote auch für Männer und Jungen entwickelt, die erste hoffnungsvolle Entwicklungen zeigen. Frauen erfahren von der Kirche viel Unterstützung, oft auch informell durch Beratung und Ermutigung in Problemen häuslicher und familiärer Gewalt.

Unabdingbar für das Aufbrechen des Zusammenhangs von HIV/Aids und Armut ist ein bedarfsgerechtes Bildungs- und Ausbildungssystem für junge Menschen und Erwachsene in Townships und ländlichen Re-gionen. Bildung und Ausbildung sind ein Grundbaustein der Armutsbekämpfung und die zentrale Voraus-setzung für dringend erforderliche, qualifizierte und professionelle handwerkliche Dienstleistungen, für die Gründung von kleinen und mittleren Unternehmen und die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Ausbildung muss dabei schrittweise von Trainingspersonal und Schulen auf Betriebe verlagert werden. Darüber hinaus bedarf es der Unterstützung zur Erschließung von Absatzmärkten für handwerkliche Produkte und Dienstleistungen, die die Zusammenarbeit mit bestehenden Unternehmen sucht.

Tabuisierung des Problems, Diskriminierung und Stigmatisierung der Menschen sind eine Wirklichkeit, die wir wahrnehmen müssen. Die Angst vor Stigmatisierung und auch posthumer Rufschädigung führt zum Verschweigen der eigenen Infektion, zum Verschweigen von Krankheits- und Todesursache und damit zur Gefährdung des eigenen Lebens und das pflegender Angehöriger. Auch in Deutschland hält sich die Bereitschaft, sich mit der Herausforderung HIV/Aids auseinanderzusetzen, in Grenzen. Die Spendenbereitschaft für betroffene Menschen ist, mit Ausnahme für Kinder, gering. Aufklärung über die Ursachen und Folgen der HIV-Epidemie kann entscheidend zum Abbau von Tabuisierung von HIV und Stigmatisierung von HIV-positiven Menschen in Südafrika wie in Deutschland beitragen. Dazu können die Kirchen in ihren Publikationen, Medien, Veranstaltungen und Gottesdiensten einen wichtigen Beitrag leisten.

Die katholische Kirche ist mit ihren Projekten und Behandlungszentren in Südafrika ein wichtiger und glaubwürdiger Akteur im Kampf gegen die HIV-Epidemie, sie leistet hervorragende medizinische und psychosoziale Unterstützung. Der Erfolg dieser Programme ist nicht allein ausgezeichneter medizinischer Be-handlung und Beratung zu verdanken, sondern auch den in Gemeinden integrierten umfassenden Hilfen der HIV-Prävention, der häuslichen Pflege, der Sorge um die Waisen, der Begleitung von Angehörigen und der Armutsbekämpfung.

Das hohe Engagement der katholischen Kirche zur Überwindung der weltweiten Pandemie und zur Unters-tützung von HIV-positiven Menschen und Aids-Kranken wird jedoch nur sehr eingeschränkt wahrgenommen, da oft die Ablehnung der Nutzung von Kondomen zur HIV-Prävention im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Kondome sind in bestimmten familiären Konstellationen und Lebenslagen Mittel zur Verhinderung von Tod. Eine Zustimmung der katholischen Kirche zur Verwendung von Kondomen zum Schutz des Lebens wird aufgrund der Komplexität der Problemlage nur ein kleiner, für einige Menschen aber lebensrettender Beitrag zur Verhinderung der Ausbreitung von HIV sein. Die katholische Kirche ist herausgefordert, theologische und ethische Antworten auf HIV und Aids zu geben, die im Alltag der Menschen praktisch wirksam werden und eine echte Hilfe zur Lebensbewältigung darstellen. Neben Fragen der Prävention und verantworteter Sexualität sind dazu auch Fragen der Rollenbilder von Männern und Frauen unter der Maßgabe von Geschlechtergerechtigkeit, der medizinischen Versorgung und der Selbstbestimmung über die Gesundheit zu diskutieren.

Menschen mit HIV/Aids benötigen Beratung, Fürsorge, Nähe und Liebe. Hier beziehen Christinnen und Christen aus ihrem Glauben eine besondere Stärke und tragen Verantwortung. Es ist die Aufgabe der Christen und der Kirche – in Deutschland ebenso wie in Südafrika – für die Menschen mit HIV/Aids und ihre Angehörigen da zu sein. HIV/Aids ist auch eine Anfrage an den individuellen Glauben, HIV-Betroffene dürfen in ihrem Glauben und ihren Glaubenszweifeln nicht allein gelassen werden. Auch in ihren eigenen Reihen muss die Kirche gegen Stigmatisierung und Benachteiligung angehen. Es sind – wo noch nicht geschehen – klare Positionen zur Unterstützung von HIV-positiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefragt, auch wenn es sich dabei um Mitglieder von Ordensgemeinschaften und um Priester handelt. Sie darf nicht zulassen, dass Menschen sterben oder vereinsamen, weil sie nicht den Mut haben, sich mitzuteilen, ihre Krankheit anzunehmen und sich behandeln zu lassen.

Unsere Schwestern und Brüder haben Aids, "der Leib Christi hat Aids" hat Bischof Kevin Dowling aus Rus-tenburg herausgestellt. Die katholische Kirche in Südafrika hat eine Option getroffen, sie steht an der Seite der von HIV/Aids betroffenen Menschen. Diese Diasporakirche (etwa 9 % der Bevölkerung sind Katholiken) setzt sich mit einer unbeschreiblichen Energie für das Leben ein und legt in ihrem Handeln Zeugnis ab für Jesus Christus. Sie tut dies in enger Kooperation mit Andersgläubigen, öffnet sich Menschen verschiedenster Konfessionen und Religionen in Partnerschaft und weiter Ökumene. Die katholische Kirche in Sü-dafrika stellt nicht die Frage, wie viel sie leisten kann, sondern stellt sich die Frage, wo die Priorität ihres Handelns liegen muss. Sie macht in ihrem Handeln ernst mit der Option für die Armen, kämpft authentisch aus einer tiefen Spiritualität heraus und zugleich pragmatisch für Gerechtigkeit. Darin kann die südafrikanische Kirche ein echtes Vorbild für uns Katholiken in Deutschland sein.

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