Was ich in den letzten drei Monaten gelernt habe

Statement von Pater Dr. Klaus Mertes SJ zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Katholischen Kirche im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

1. Opfer und Institution

Zum Missbrauch gehören zwei Aspekte: Die Missbrauchstat im engeren Sinne sowie die unangemessene Reaktion der Institution, in welcher der Missbrauch geschieht. Gerade dieser zweite Aspekt schmerzt viele Opfer heute noch, oft noch mehr als der erste Aspekt des Missbrauchs. Die Betroffenen melden sich ja bei der Institution (in meinem Fall: beim Canisius-Kolleg), nicht bei den Tätern. Meistens wollen die Opfer mit diesen gar nichts mehr zu tun haben. Aber sie wollen ihr Verhältnis zur Institution klären, vielleicht sogar versöhnen.

In dieser Situation besteht seitens der angesprochenen Institution die Grundentscheidung darin, den Opfern als Vertreter der Institution gegenüberzutreten. Ich gehöre in meiner Eigenschaft als Jesuit, Priester und Schulrektor zur Institution und distanziere mich von der Institution nicht, gerade auch nicht in der Begegnung mit den Opfern. Die Opfer brauchen jemanden, der ihnen bestätigt: „Ja ihr seid bei mir an der richtigen Adresse, um Eure Geschichte zu erzählen, euren Zorn zu zeigen, anzuklagen und Forderungen zu stellen.“ Das ermöglicht den Opfern zu sprechen. Alle Versuche, die Institution ihrerseits als Opfer der Täter oder gar als Opfer der Opfermeldungen zu präsentieren, gehen daneben. In gewisser Weise sind solche Umdeutungen der eigenen Ausgangsposition sogar eine Fortsetzung des Missbrauchs. Zum Missbrauch gehört es ja, den Opfern als Institution auszuweichen und ihnen stattdessen gar nicht oder mit dem Therapeutenohr oder mit einem anderen Ohr zuzuhören. Man könnte es auch so sagen: Die Opferperspektive einzunehmen bedeutet, für sich selbst zu klären: Wir sind nicht die Opfer, sondern die Opfer sind die Opfer.

2. Der Geschmack des Missbrauchs

Ein Missbrauch in der Familie Müller schmeckt nach Familie Müller, ein Missbrauch in der Odenwaldschule schmeckt nach Reformpädagogik, ein Missbrauch in einer katholischen Schule schmeckt nach katholischer Kirche. Die Familie als Institution muss nicht abgeschafft werden, wenn in ihr Missbrauch geschieht. Die Reformpädagogik ist durch ihren Missbrauch auch nicht per se desavouiert. Dasselbe gilt auch für die kirchliche Pädagogik einschließlich ihrer Sexualpädagogik. Abusus non tollit usum. So weit so gut.

Aber auch diese banale Wahrheit kann man missbrauchen, um sich selbst und das eigene Denken einer kritischen Überprüfung zu entziehen. Der Missbrauch stellt die Institution und ihr Selbstverständnis auf den Prüfstand. Dem kann ich als Jesuit ebenso wenig entkommen wie als Lehrer und als katholischer Priester.

Um mit der Selbstprüfung weiter zu kommen, hilft es, den Opfern zuzuhören: Welche Erfahrungen haben sie mit Strukturen in der Kirche, mit kirchlicher Sexualpädagogik und mit Schweigen in der Kirche gemacht? Zum Beispiel hat die Wucht der Schuldgefühle bei den Opfern einen spezifisch katholischen Aspekt, der mit der Lehre zusammenhängt, wie mir viele Opfer berichten.

Auch das Weghören hat einen spezifisch katholischen Geschmack. Die von Missbräuchen betroffenen Schüler am Canisius-Kolleg schrieben 1981 an die Autoritäten: „Der Bereich der Sexualpädagogik liegt in alleiniger Verantwortung des geistlichen Leiters. Ein vernünftiger Austausch findet nicht statt. Eine weibliche Bezugsperson für heranwachsende Mädchen ist nicht da. Sexualität wird tabuisiert, und mit Verboten wird versucht, die Sexualität gezielt zu steuern und zu beeinflussen. Wir verweisen ferner auf die auch in der offiziellen katholischen Lehre ungelösten Probleme homosexueller Jugendlicher, die sich schwerwiegenden Belastungen ausgesetzt sehen müssen und vielfach mit ihren Problemen alleingelassen werden und erfahren müssen, widersittliche und unnatürliche Auffassungen von Sexualität zu haben.“ Die Frage, die mich quält, lautet: Was hat uns daran gehindert, solche Beschwerden zu hören und nachzufragen, welche konkreten Erfahrungen dahinter stecken? Und was hindert uns heute, zuzuhören, wenn Opfer unserer Pädagogik und Pastoral sprechen?

Ich möchte dazu einen Aspekt nennen: Nicht hören können und nicht sprechen können hängt zusammen. Wer nicht sprechen kann, kann auch nicht hören. Natürlich muss auch schweigen können, wer hören will. Das hörende Schweigen ist hier nicht gemeint. Vielmehr meine ich die Sprachlosigkeit, die mit Verschweigen, mit verängstigtem Schweigen, vielleicht auch mit Überforderung zu tun hat. Die Sprachlosigkeit ist der Preis des Schweigens. Das trifft auch auf Institutionen zu. Da scheint mir eine tiefe und wichtige Frage zu liegen: Gibt es Themen, bei denen wir als Kirche sprachlos sind? Sprachlos, weil wir uns gefährden, wenn wir darüber sprechen? Sprachlos, weil die auszusprechende Wahrheit zu bitter, zu unschön ist? Mich interessiert die Frage im Interesse der Opfer und im Interesse der Kirche. Es interessiert mich sehr, wenn in der Aussprache im Plenum dazu etwas zu hören wäre.

3. Geistliche Vollmacht und Missbrauch

Mit der Weihe ist eine geistliche Vollmacht gegeben, die Papst Benedikt in diesem Jahr des Priesters besonders herausgearbeitet hat durch den Hinweis auf den Pfarrer von Ars. Es gibt eine besondere priesterliche Vollmacht. Ich glaube daran. Sie gehört zum Wesen der Kirche dazu.

Die Opfer, über die wir sprechen, werden im Rahmen eines Machtgefälles zu Opfern; das Kind wird von den Eltern missbraucht, der Schüler vom Lehrer, der Patient vom Arzt. Das Ganze geschieht in einer für das Opfer unausweichlichen Vertrauensbeziehung. Beim Priester kommt der Missbrauch der geistlichen Vollmacht hinzu. Auch die Beziehung zum geistlichen Amt ist unausweichlich für diejenigen, die Christus in der Eucharistie, in der Absolution, aber auch als Hirten und Lehrer begegnen wollen. Wenn der, der in persona Christi handelt, missbraucht, dann wird der Zugang zu Christus, zum Glauben an Christus beschädigt, wenn nicht sogar zerstört. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Ich bin entsetzt, wenn ich sehe, wie viele der härtesten Kirchenfeinde, denen ich in den letzten Wochen begegnet bin, eine Kirchenbiographie im Hintergrund haben, der mit Machtmissbrauch durch Priester zusammen hängt.

Die Frage nach der geistlichen Macht in der Kirche und ihren Strukturen ist eine Frage von allgemeinem kirchlichen Interesse. Auf den Klerus bezogen: Was bedeutet uns Klerikern Macht? Reflektieren wir überhaupt angemessen, dass wir sie haben? Was bedeutet uns Macht für unsere eigenen Beziehungs- und Anerkennungsbedürfnisse? Wo können wir sie mehr teilen? Wo können wir in der Kirche Empfangende sein. Wie kommunizieren wir mit Nicht-Klerikern? Wie konfrontieren wir Klerikalismus, der ja nicht nur eine Eigenschaft von Klerikern ist?

4. Staatsanwaltschaft und Opferschutz

Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung aus aktuellem Anlass, da Erzbischof Zollitsch gestern mit der Bundesjustizministerin zusammengetroffen ist. Selbstverständlich muss und will die Kirche mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeiten. Die Fürsorgepflicht des Bischofs gegenüber Priestern und kirchlichen Angestellten darf nicht Verstecken vor der Strafverfolgung, Täterschutz legitimieren. Aber Opfer müssen einen Weg gehen, bis sie in der Lage sind, Täter vor der Gericht zu konfrontieren. Für diesen Weg brauchen sie Schutz. Die Staatsanwaltschaft ist keine Opferschutzinstitution. Es gibt genügend Fälle, in denen sie im Sinne des Opferschutzes gerade kontraproduktiv agiert hat. Hier stehen wir vor einem Dilemma. Wenn das Prinzip „Opferschutz hat Vorrang“ gilt, dann muss es auch in diesem Falle das ausschlaggebende Kriterium für die diversen Verfahrensfragen sein, die zu stellen sind. Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Kasuistik einsteigen, aber der Hinweis sei erlaubt: Mir kommt in der Debatte um die Staatsanwaltschaft die Frage nach dem Opferschutz zu kurz. Oder sehe ich das falsch? Für Diskussionsbeiträge zu diesem Thema wäre ich dankbar.

P. Klaus Mertes SJ

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