Miteinander sprechen – aber worüber?
Impuls von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch im Rahmen der Arbeitstagung von Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 04./05. November -es gilt das gesprochene Wort.
Impulspapier bei der gemeinsamen Arbeitstagung von Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken am 4./5.November 2010 in Bensberg
von Joachim Wanke
Im Protokoll der Herbstvollversammlung der DBK 2010 ist zu lesen: „Der Vorsitzende (sc. der DBK) regt einen neuen, gemeinsamen und zielgerichteten Gesprächsprozess an mit Priestern, Diakonen, Ordenleuten und Laien...“
Diese Initiative korrespondiert mit Erwartungen des ZdK, das immer wieder sein Interesse an einem grundsätzlichen, thematischen Gespräch mit den Bischöfen bekundet hatte, zuletzt etwa in dem Papier „Für eine Pastoral der Weite“ vom 21. Mai 2008. Es trägt den Untertitel: Ein Gesprächsanstoß. Dort wünscht sich das ZdK eine „leidenschaftliche Grundsatzdebatte über den Auftrag und die Gestalt der Kirche in der Welt von heute“ (S.6). Ich erinnere sodann an die Begegnung zwischen Bischöfen und Vertretern des ZdK am 26./27. April dieses Jahres in Würzburg, das m.E. sehr konstruktiv war, aber dann leider überschattet wurde durch die Turbulenzen um die Kandidatur zum Präsidentenamt des ZdK. Gern weise ich auch hin auf das, was Präsident Alois Glück am 13. September dieses Jahres in seiner Erklärung „Einen neuen Aufbruch wagen“ ausgeführt hat: „Die grundlegende und ausschlaggebende Frage ist, ob es uns in einer gemeinsamen Anstrengung gelingt, in unserer Kirche eine Kultur des Ge-sprächs, der Debatte und auch der notwendigen Auseinandersetzungen zu gestalten, mit der die vielen Kräfte in unserer Kirche fruchtbar gemacht werden können.“
Nun haben der Vorsitzende der DBK, Erzbischof Robert Zollitsch, und die Herbstvollver-sammlung diese Initiative ihrerseits aufgegriffen und die Bereitschaft zu solch einem Gespräch zum Ausdruck gebracht. Also: Guter Wille von allen Seiten – aber was könnte Inhalt eines „zielgerichteten“ Gesprächsprozesses sein? – Ich sehe drei mögliche Gesprächsschritte:
1. Veränderungen in Kirche und Gesellschaft wahrnehmen („Sehen“)
Seit dem 2. Vatikanum und der nachfolgenden Würzburger Synode haben sich die Rahmenbedingungen kirchlich-katholischen Lebens in unseren Diözesen beträchtlich verändert. Manches an innerkirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen hat sich verschärft, anderes ist in den Hintergrund getreten. Neue Horizonte haben sich aufgetan. Seit der friedlichen Revolution 1989/90 und der nachfolgenden Wiedervereinigung ist der Anteil der nichtchristlichen Bevölkerung gewachsen. Der Prozess der europäischen Einigung ist weiter gegangen. Weltweit haben sich neue Herausforderungen in den Vordergrund geschoben: das Phänomen des Terrorismus etwa, die Klimabedrohung, die Energiefrage, aber auch ein erwachendes neues Selbstbewusstsein der großen Religionen, etwa des Islam mit den daraus erwachsenden Spannungen und Konflikten.
Für die Kirche in Deutschland ist die Erfahrung eines sich verschärfenden Säkularismus, ja eines zum Teil aggressiven Atheismus eine geistliche Herausforderung, auf die es zu antworten gilt. Der Prozess der gesellschaftlichen Freisetzung des Einzelnen von Vorgaben und Traditionen jedweder Art geht weiter – bei gleichzeitiger Zunahme neuer, besonders ökonomischer Zwänge, die vielen zu schaffen machen. Es wächst „das Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor). Es wachsen die Sorgen, wie denn der innere Zusammenhalt der Gesellschaft auf Dauer gesichert bleiben kann.
Innerkirchlich haben sich in den letzten Jahren zunehmende Spannungen ergeben, die sich bis in den Kern unserer Gemeinden, aber auch unter Priestern und kirchlichen Mitarbeitern bemerkbar machen. Meist machen sich diese an der Frage fest, wie die Kirche auf den anhaltenden Rückgang der Priester- und Ordensberufe reagieren soll. Die Forderung nach der Ausweitung der Weihezulassung für Verheiratete und Frauen wird nachdrücklicher gestellt. Die Kirchenaustrittszahlen nehmen weiterhin zu, wobei die Gründe hierfür unterschiedlich sind. Es gelingt oft nicht, die nachfolgende Generation in das Leben mit der Kirche einzubinden. Sparzwänge und deren Folgen machen sich bemerkbar. Die herkömmliche Struktur der Gemeinden wird weitmaschiger, was mancherorts viel Unmut bereitet. Vielerorts ist eine resignative, ja verbitterte Grundstimmung zu beobachten. Dazu kommen Spannungen, die sich aus weltkirchlichen Vorgaben etwa für die Zulassung zu den Sakramenten ergeben. Viele leiden an dem öffentlichen Ansehensverlust der Kirche wegen der jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle durch Kleriker und Ordensleute. Die sexualethischen Weisungen der Kirche sind in manchen Bereichen schwer vermittelbar. Manche meinen, die hierarchische Verfasstheit der Kirche selbst, die Art, wie in ihr Macht ausgeübt wird, sei eine der Ursachen ihrer Reformschwäche. Es gibt Anfragen an das überkommene Verhältnis von Staat und Kirche. Der so genannte „Dritte Weg“ im Arbeitsrecht und die Rolle der Kirche als Arbeitgeberin sind nicht unumstritten.
Das alles sollte besprochen, nüchtern analysiert bzw. in seiner theologischen und kirchlichen Bedeutsamkeit gewichtet und bedacht werden. Es kann dabei durchaus auch deutlich werden, dass wir für manche Fragen derzeit keine Antworten haben, zumindest keine, die wir in Deutschland allein geben können.
Was bedeutet das Verblassen bzw. das Zerbröseln einer nicht mehr „christentümlichen“ Gesellschaft für unsere Kirche, für ihre Stellung in der Öffentlichkeit und den „Stil“ ihres Wirkens? Was sagt uns die Tatsache, dass sich die Bindungsfähigkeit der Menschen schwächt? Welche Gründe gibt es dafür? Was macht das Durchhalten einer Ehe heute schwieriger als früher, trotz des guten Willens der Einzelnen? Ist die Ausweitung von Hand-lungsmöglichkeiten im Blick auf die Natur und das menschliche Leben für unseren Glauben und die sittliche Bewertung mancher Entscheidungen von Bedeutung? Was zeigt sich an neuer Suche nach „Lebensfülle“ in der Gesell-schaft, auch wenn dieses Suchen derzeit oft an den Kirchen vorbeigeht? Was macht die Dominanz des Ökonomischen mit uns? Was erhoffen und wie leben junge Menschen heute? Der hier nur kurz angedeutete Gesprächsgang könnte helfen, vertiefter die Wirklichkeit um uns (und unter uns) wahrzunehmen, auch wenn uns das mit manchen Ratlosigkeiten kon-frontiert.
In diesem Gesprächsgang ginge es also vornehmlich um das „Hören“, von dem Erzbischof Zollitsch in seinem Herbstreferat sprach. Wir sollten versuchen wahrzunehmen, ob in den „Zeichen der Zeit“, und zwar der gegenwärtigen Zeit, möglicherweise Hinweise des Geistes enthalten sind, die uns besser den Willen Gottes für seine Kirche erkennen lassen.
2. Das Evangelium neu in den Blick nehmen und in seinem Anspruch und seinem Zuspruch tiefer verstehen („urteilen“)
Wenn sich das Gespräch nicht in den heute meist oberflächlich diskutierten strittigen Fragestellungen (Zölibat, Priesterweihe für Frauen, Umgang mit geschieden Wiederverheirateten u. ä.) verlieren soll, bedarf es eines neuen Blicks auf die Mitte unseres Glaubens: die Verheißungen Gottes und die sich daraus ergebende Antwort der persönlichen und kirchlichen Umkehr und Erneuerungsbereitschaft. Allein vor diesem, aus dem Evangelium gewonnenen Horizont heraus, ist das Gespräch auch über strittige Einzelthemen (und manches andere mehr) zielführend. Das sollte angstfrei und offen geschehen, gegebenenfalls auch kontrovers, doch in einer Haltung des gemeinsamen Fragens nach dem Willen Gottes für uns heute, in einer Gesinnung, die Einmütigkeit anstrebt und von der Liebe zur Kirche gespeist ist.
Darum mein Vorschlag: Es muss alles auf den Prüfstand, was im Leben un-serer Ortskirchen eine säkulare Eigendynamik entwickelt und sich von der Mitte des Evangeliums entfernt hat. „Suchet zuerst Gottes Reich...“ dieses Wort muss wieder einen überzeugenden Ort in der Prioritätensetzung unseres kirchlichen Handelns gewinnen. Damit meine ich durchaus keine spirituelle Lyrik.
Der Auftrag der Kirche ist es, Gott zum Vorschein zu bringen, nicht sich selbst. Es ist einfach falsch zu meinen, wir müssten als Kirche eine Gegengesellschaft zur Welt bilden, vielleicht noch perfekter als diese werden. Gerade diese Mentalität hat in der Vergangenheit manche strukturelle Heuchelei verursacht. Der Schein war dann wichtiger als das Sein. Die Kirche muss sich als Ferment im Ganzen verstehen, nicht als Rückzugsort für die Vollkommenen und Reinen. Der Auftrag der Kirche ist es, Gott zum Vorschein zu bringen, nicht sich selbst. Zudem gilt es den „eschatologischen Vorbehalt“ zu beherzigen, dem auch unser kirchliches Tun unterworfen ist. Wir brauchen den Mut, das auch Unvollkommene, aber in der konkreten Situation Evangeliumsgerechtere zu wagen. Hier greift das zweite Stichwort aus der Rede von EB Zollitsch: Wir sind eine „pilgernde“ Kirche.
Es gilt Verkrampfungen zu lösen, die daraus entstehen, immer genau zu wis-sen, was das „Katholische“ ist. Das lässt uns in Parteiungen zerfallen, weil wir dann dem Geist Gottes, der uns in der Wahrheit hält, nichts mehr zutrauen. Die latenten und z. T. offenen Schismen in unserer Kirche (Bischöfe vs. Priester; Amtsträger vs. Gottesvolk, Konservative vs. Fortschrittler, Hauptamtliche vs. Ehren
amtliche etc) sind „Früchte“ des Unglaubens. Ist es wirklich unsere Aufgabe, Gott „unter die Arme“ zu greifen? Was soll der falsche Eifer, der so manche Gruppen im rechten oder linken Kirchenspektrum umtreibt und aufeinander einprügeln lässt? Solche Polarisierungen atmen den Geist der Welt, der alles auf die Spitze treiben will und nichts von jener anderen Vollendung weiß, um die wir im Glauben wissen.
Das sollte uns freilich bewegen: Hat unsere kirchliche Durchorganisiertheit, genauer: die Erwartungen, die wir daraus ableiten, noch mit dem Evangelium zu tun? Ist ein phantasieloses Festhalten an Gewohntem und Vertrautem (Stichwort: Pastoralstrukturen) mit christlicher Hoffnung vereinbar? Ist glaubhaft, dass wir auch kirchlich in „Zelten“ leben sollten, weil die Gestalt dieser Welt (und doch wohl auch der Kirche) vergeht? Und ein ganz heißes Thema: Ist eine Diakonie, die sich gänzlich (!) von öffentlichen Geldern abhängig macht, noch Caritas Christi? Lügen wir uns nicht mit manchen kirchlichen Einrichtungen in die Tasche? Oder: Ist Kirchenzugehörigkeit auch für jene praktisch und existentiell lebbar, die nicht allen kirchlichen Erwartungen entsprechen? Oder: Warum ist hierzulande das Zeugnis für das Evangelium Nichtglaubenden gegenüber so merkwürdig verhalten und ängstlich?
Dieser Gesprächsgang wird – so vermute ich einmal – schmerzlich sein. Aber er ist bitter notwendig.
3. Verabredung konkreter, aber verbindlicher Schritte („handeln“)
Dabei sollten Handlungsfelder den Vorrang haben, bei denen wirklich etwas gemeinsam zu bewegen ist, beispielsweise etwa folgende:
Lebensdienliche Kirche bleiben und noch mehr werden
Es ist meine Erfahrung: Dort leuchtet das Evangelium am überzeugendsten auf, wo Christen Barmherzigkeit in die Strukturen dieser Welt einbringen. Die Versager, die Zu-Kurz-Gekommenen, die Fortschrittsverlierer müssen hören: „Du bist keine Fehlkonstruktion, sondern du bist (für mich, für unsere Kirche) eine Sonderanfertigung Gottes!“ Hier lagen und liegen die überzeugenden Stärken unserer Caritas, unserer katholischen Verbände und Gemeinschaften.
Diese „Einfärbung“ der Lebensdienlichkeit muss freilich auch die Kirche selbst durchdringen, ihre Strukturen, ihre Pastoral. Ohne Erbarmen keine Umkehr zu Gott – das ist eine bleibende Erfahrung der Seelsorgsgeschichte. Hier wären Bischöfe, Seelsorger und Theologen gefordert, den auch kirchenrechtlich gegebenen Spielraum für Lösungen in biographischen Härtefällen auszuloten. Bloßes Verurteilen und Ausgrenzen als einzige Antwort auf heutige Lebensprobleme verdunkeln das Evangelium. Auch der Gescheiterte kann sich auf Christus hin in Bewegung setzen, wenn auch manchmal nur auf Krücken.
Hier geht es um das dritte Stichwort in der Rede unseres Vorsitzenden: Die Kirche ist am meisten bei sich selbst und ihrem ureigensten Auftrag, wenn sie „dient“. Dienende Kirche sind wir gottlob schon auf vielfältigste Weise, öffentlich und verborgen, als Einzelne und gemeinschaftlich, auch in der Seelsorge, in der Begleitung, im Angebot des Bußsakraments. Wir fangen mit der Barmherzigkeit nicht beim Nullpunkt an. Freilich: Wie sieht heute konkret Barmherzigkeit aus? Wissen wir das wirklich? Gerade nichtprofessionelle „Barmherzigkeitsdienste“ werden künftig noch mehr gefragt sein. Es lohnt sich, darüber zu reden.
Zu beachten wäre auch gerade wegen der weitmaschiger werdenden Pfarrei-strukturen diese Chance: Manche kirchlichen Einrichtungen, besonders solche sozialer Art, erreichen täglich viele auch nichtkirchliche Menschen. In ihrer seelsorglichen Bedeutung nicht zu unterschätzen sind unsere Kindergärten, aber auch Schulen, Betreuungs- und Beratungseinrichtungen. Immer hängen an solchen Einrichtungen und Häusern auch Angehörige und Besucher, die solche „Brücken“ zur Kirche hin eher betreten als Kirchen und Pfarrhäuser. Wie können wir das stark machen, worin Kirche heute als „lebensdienlich“ erfahren wird? Die Deutsche Post z. B. scheut sich nicht, postalische Dienstleistungen in Lebensmittel-Discountern anzubieten. Sind wir kirchlich noch zu phantasielos, zu sehr von der Vergangenheit fixiert?
Das Handeln der Laien in der Kirche fördern und profilieren
Ich schlage vor, den Ausbau und die „Ermächtigung“ laikaler Beauftragungen und Dienste weiter voranzubringen (Stichwort: „Beauftragungen“). Wenn das Weiheamt bei seinen spezifischen Diensten bleiben soll, wird den Getauften und Gefirmten vermehrt neue, eigenständige, aber nicht unbegleitete Verantwortung in der Verkündigung, der Liturgie, der Leitung und „ekklesialen Vernetzung“ zuwachsen.
Ich weiß um die Unersetzbarkeit des Weiheamtes. Aber diese Unersetzbarkeit darf sich nicht so absolut setzen, als ob ohne das Weiheamt vor Ort Glaube, Hoffnung und Liebe unmöglich würden. Das demütige Selbstbewusstsein aller Getauften und Gefirmten muss gestärkt werden. Das wird auf Dauer auch positive Auswirkungen haben für ein anders akzentuiertes Dienstprofil der weniger werdenden Kleriker. Wir haben mehr und mehr Gläubige, die in Glaubensdingen wieder neu für andere auskunftswillig und auskunftsfähig sind. Das macht mich zuversichtlich für die Kirche von morgen – übrigens auch für die Weckung geistlicher Berufungen.
Hier gälte es Strategien der Weckung, der Akzeptanz und der Vernetzung solcher Kompetenzen zu entwickeln. Die Kirche morgen wird sich weniger auf Institutionen verlassen können, sondern sich mehr durch Gesichter ausweisen. Es muss sich noch mehr herumsprechen, dass wir die Sakramente nicht allein für uns selbst empfangen. Getauft- und Gefirmt-Sein ist immer auch Beauftragung für die Glaubensstärkung anderer. Wie sehen heutige Formen an verbindlicher, vielleicht zeitlich begrenzter Laienermächtigung aus, auch in der Pastoral? Was bewirkt Freude am Mitmachen? Was stärkt in übernommener Eigenverantwortung? Manche Möglichkeiten neuer kirchlicher Communio-Formen sind noch lange nicht ausprobiert. Ich sehe vieles wachsen, was nach Ermunterung, Begleitung (vermutlich auch nach Korrektur) ruft. Es gälte von Formen heutigen bürgerschaftlichen Engagements zu lernen.
Auf kirchliche „Leuchttürme“ setzen
In größeren Räumen sind „Leuchttürme“, die orientieren, unersetzlich. Die Kirche in Deutschland , ein Bistum, eine Region sollte überlegen, was für sie solche „Leuchttürme“ sein können und deswegen gestärkt werden müssen. Anzusetzen wäre dort, wo Menschen etwas als für sich wichtig erfahren: Wallfahrten, bistumsweite Initiativen, herausragende kirchliche „Orte“ mit Ausstrahlung, nicht zuletzt durch eine Präsenz von Menschen, die „Türen“ offen halten. Manche Ordenshäuser sind kostbare Anlaufstellen für den geistig vagabundierenden Zeitgenossen. Nicht die Vielzahl, sondern die Qualität wäre entscheidend. Was sich als wertvoll ausweist, zieht von allein an. Mir ist deutlich: Es gibt mehr „Gottesfürchtige” und am Glauben Interessierte als wir meinen. Nicht der sich säuberlich abschließende Kokon ist Grundfigur von Kirche, sondern das Netzwerk, in das man sich einklinken und mit Eigenem einbringen kann.
Was hieße das konkret? Für das Gespräch mit der säkularen Gesellschaft? Für den Stil kirchlicher Präsenz in den Medien? Für die Bündelung von Kräften im Hochschul- und Ausbildungsbereich? Wir schieben oft genug noch notwendige Entscheidungen vor uns her und vergeben so Chancen. Unsere Bistümer, besonders in der Diaspora werden „Missionskirchen neueren Typs“ sein, die nicht flächendeckend, aber mit Anlauf- und Kontaktstellen zur Gesellschaft hin arbeiten müssen. Für neue Formen des Kirche-Seins kommt uns eine neue Beweglichkeit vieler Menschen entgegen. Generell gilt: Nicht unser Kleiner-Werden ist das Problem, sondern eher eine mentale Selbstmarginalisierung, für die es eigentlich keinen Grund gibt. Hier wäre auch manches von Minderheitskirchen anderswo zu lernen, zumindest von deren Selbstbewusstsein und spiritueller Ausstrahlung.
Den „geistlichen Grundwasserspiegel“ anheben
Das Christliche wird sich in Zukunft stärker qualitativ präsentieren und weniger quantitativ. Auch heute gilt das Wort: „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Es braucht in einer sich ins Subjektive und Beliebige weiter verlierenden Moderne eine Spiritualität, die dem einzelnen Christen Stehvermögen verleiht und ihm hilft, sich dem ande-ren gegenüber zu öffnen. Was zeichnet heute menschenfreundliches, profiliertes Christ-Sein aus? Wie sieht „Glaubwürdigkeit“ aus, die sich dem Evangelium verpflichtet weiß? Was bedeutet das für unseren Umgang miteinander, in der Ökumene, mit der Gesellschaft? Christen, die sich mit ihrem Leben im Gottesgeheimnis verwurzeln, bleiben für die Leute interessant. Dass dies so ist, darauf gründet meine Hoffnung – auch für unsere Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, die in ein neues Jahrhundert hinein unterwegs ist.
Joachim Wanke