Einige Thesen zur Diskussion und zum Diskurs

Friedensethik in veränderter Sicherheitslage"

Statement von Christine Hoffmann im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

1) Sehen – Urteilen – Handeln. Friedensethische Handlungsstrategien setzen Wahrhaftigkeit bei der Beurteilung der Lage voraus. Im Vorfeld der Afghanistankonferenz in London Ende Januar dieses Jahres hat pax christi-Präsident Heinz-Josef Algermissen, Bischof von Fulda, die ethische Grundproblematik militärischer Gewaltanwendung in Erinnerung gerufen. Er fordert den Mut ein, zu der Wahrheit zu stehen, dass der Militäreinsatz in Afghanistan gescheitert ist. Er schreibt: "In aller Nüchternheit muss festgestellt werden: Aus der vorgesehenen Schutzfunktion der Bundeswehr für Maßnahmen zum zivilen Aufbau des Landes sind direkte Kampfhandlungen geworden – mal mit 'Aufstandsbekämpfung' begründet, mal mit der Eindämmung des internationalen Terrorismus. Die Kombination von zivilem Wiederaufbau und dem Einsatz von Stabilisierungskräften hat in Afghanistan nicht wie erhofft solide staatliche Strukturen und eine starke Zivilgesellschaft geschaffen, sondern die Zerrissenheit der afghanischen Gesellschaft und die Gewalt im Lande stetig vergrößert. Die ausländischen Truppen werden als Partei im innerafghanischen Konflikt und als Besatzungsregime mit eigennützigen Interessen wahrgenommen, und die einseitige Unterstützung Präsident Karzais stößt bei der afghanischen Bevölkerung nicht nur auf Zustimmung. Das Gefühl der Fremdbestimmung und die Erfahrung tödlicher Einsätze der internationalen Truppen fördern und brutalisieren die gewalttätige Konfliktaustragung. Der Terror wurde in Afghanistan nicht beseitigt, sondern neue gewalttätige Gruppierungen haben sich gebildet und Unterstützung gefunden." Bischof Algermissen fordert einen Kurswechsel der deutschen Af-ghanistanpolitik hin zur Stärkung des zivilen Aufbaus in Afghanistan. Konkret benennt er folgende pax christi-Forderungen:

• den schrittweisen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, der mit Ende der Afghanistankonferenz beginnt;
• die Unterstützung der Bemühungen um regionale Waffenstillstandsvereinbarungen,
insbesondere in der Provinz Kunduz;
• die Aufstockung der zivilen Hilfe für den staatlichen und gesellschaftlichen Aufbauprozess um mindestens den Betrag, der durch den Abzug der Truppen frei wird;
• die Fortführung und den Ausbau der Projekte des zivilen Aufbaus, die dazu beitragen, die aktive Beteiligung von Frauen am politischen und sozialen Leben zu unterstützen und zu fördern;
• die Unterstützung der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung, um Alternativen zu Drogenanbau, Kriminalität und Kriegsökonomie zu schaffen;
• den konsequenten Aufbau und die Stärkung der Polizeikräfte in Afghanistan;
• die Förderung des Dialogs auf allen Ebenen – mit Taliban ebenso wie mit anderen Gruppierungen der afghanischen Opposition – zur Zukunftsgestaltung des Landes.

2) Wer Handeln will, muss nicht kämpfen. Die Forderung nach einem Kurswechsel in der Afghanistanpolitik umfasst konkrete Handlungsschritte. Dazu gehört die Aufforderung, die Bemühungen um regionale Waffenstillstandsvereinbarungen, insbesondere in der Provinz Kunduz, zu unterstützen . Auch in Afghanistan gibt es Friedenskräfte; zwischen diesen und der Kooperation für den Frieden, einem Zusammenschluss von 50 Friedensorganisationen und -initiativen in Deutschland – darunter pax christi –, besteht Kontakt. Die Nationale Friedens-Jirga aus Stammesvertretern, Intellektuellen und Politikern repräsentiert die breite, kriegsmüde Bevölkerungsmehrheit, vor allem aus dem Süden und Osten Afghanistans. Es waren Mitglieder der Friedens-Jirga in Afghanistan, denen es nach dem Bombardement vom 4. September 2009 auf die von Taliban entführten Tanklastzüge bei Kunduz gelang, "die Talibankommandeure zu motivieren, auf einen Racheakt zu verzichten und stattdessen mit einer relativen Waffenruhe für Waffenstillstandsverhandlungen zu werben. Dieser Vorschlag wurde bislang nicht aufgegriffen und wird durch die Vorgehensweise der Verbündeten konterkariert: In der Woche vom 2. bis 8. November 2009 haben US-Elite-truppen zusammen mit afghanischen Soldaten im unter deutschem Kommando stehenden Raum Kunduz eine Großoffensive gegen die Taliban geführt und 133 Aufständische, darunter den Taliban-Führer Mullah Qari Baschir, getötet. Mit ihm starb der Kommandant, der über Monate für die vorgeschlagene Waffenstillstandslösung eintrat. Ähnliche Kommandoaktionen wurden in der Folgezeit fortgesetzt. Die Bundeswehr hatte eine Beteiligung an diesen Operationen abgelehnt." Warum wird der Gedanke des Waffenstillstandes nicht aufgegriffen?

3) Die Alternative ist denkbar jenseits von Resignation und Zynismus. Die Verpflichtung gegenüber der afghanischen Bevölkerung erfordert um der Priorisierung des zivilen Aufbaus willen das faktische Ende von Kampfhandlungen. Seit der Afghanistankonferenz in London spricht die Bundesregierung von einem Strategiewechsel hin zur Stärkung des zivilen Aufbaus. Es ist nicht einsichtig, dass angesichts dieser veränderten Perspektive die militärischen Einsatzkräfte massiv verstärkt werden. 30.000 Soldaten mehr – das ist kein Kurswechsel, sondern damit setzt die internationale Gemeinschaft den Prozess der seit neun Jahren betriebenen kontinuierlichen Aufstockung der militärischen Einheiten und der damit verbundenen Gewalteskalation fort. Deutschland beteiligt sich daran, verliert aber durch die mit der neuen Strategie einhergehende amerikanische Umstellung von einer geographisch-regionalen zu einer funktionalen Führungsstruktur für ganz Afghanistan zunehmend an Einfluss in der Region Kunduz. Entsprechend dem neuen Mandat der Bundeswehr bedeutet das nicht nur die "stärkere Präsenz in der Fläche" durch die veränderten Ausbildungsaktivitäten mit der afghanischen Armee, welche die Gefahr und Wahrscheinlichkeit der Verwicklung in Kampfhandlungen deutlich erhöht, sondern auch die Notwendigkeit der Selbstbehauptung bei steigender Präsenz und wachsendem Einfluss der US-Streitkräfte im Norden Afghanistans. Verständlich ist daher der Ruf nach Rechtssicherheit für deutsche Soldaten. Besorgniserregender ist allerdings die Perspektive für die Sicherheitslage der Zivilbevölkerung.

Die Zahl der zivilen Opfer ist ethisch nicht zu verantworten:

Zivilopfer 2006: 929; 2007: 1.523; 2008: 2.118 (Anstieg um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr); 2009 (Jan. bis Okt.): Weiterer Anstieg um etwa 10 Prozent, hochgerechnet ca. 2.330 für das gesamte Jahr 2009. Andere sprechen von 20.000 toten Zivilisten/innen seit 2001. Zwar sind diese Kinder, Frauen und Männer zu zwei Dritteln Opfer von Anschlägen der Aufständischen und nicht der internationalen Truppen. Aber der Sicherheitseinsatz ISAF hat neben dem Anti-Terroreinsatz OEF eben keine Reduktion, sondern eine Eskalation der Gewalt bewirkt. Zur Zahl der Anschläge auf Nichtregierungsorganisationen noch mal ein Vergleich: 2006: 106; 2007: 137; 2008: 172.

Im Herbst 2008 hat der afghanische Ministerialrat veränderte Abkommen mit den internationalen Truppen im Hinblick auf deren Einsatzdauer, Aufgaben und Pflichten und die Beendigung der Luftangriffe auf zivile Ziele, die willkürlichen Durchsuchungen und ungesetzlichen Verhaftungen gefordert. Die sofortige Beendigung des Antiterroreinsatzes "Operation Enduring Freedom" (OEF) und eine Fokussierung des ISAF-Einsatzes auf die Kernaufgabe Friedenssicherung und Milizenentwaffnung wäre auch eine Handlungsoption, jenseits von "Resignation oder Zynismus" .

Das Beharren auf der realisierten Militärstrategie in Afghanistan widerspricht dem friedensethischen Kriterium für den Einsatz von Gewalt, nämlich, dass sie den Status quo eines Landes verbessern muss, wenn sie gerechtfertigt sein soll. Die Fehler der Vergangenheit müssen durch ein Ende der Kämpfe gestoppt werden, weil sie den Wiederaufbau nicht sichern, sondern konterkarieren.

4) Frauenrechte sind Menschenrechte. Wenn jetzt mehr Stimmen laut werden, die bekunden, dass es nicht möglich ist, in Afghanistan durch militärisches Eingreifen Demokratie und Menschenrechte zu erwirken, dann ist dem nur zuzustimmen und zu betonen, dass dies bereits 2001 absehbar war. Aber Frauenrechte sind in Deutschland für diesen Militäreinsatz rhetorisch in unverantwortlicher Weise von allen beteiligten Bundesregierungen funktionalisiert worden, um die deutsche Öffentlichkeit dazu zu bringen, den Einsatz der Bundeswehr um der Frauen und Mädchen in Afghanistan willen hinzunehmen. Für die afghanischen Frauen und Mädchen ist das fatal. Denn traditionalistische Männer funktionalisieren dort seit langem die Frage der Frauenrechte: gegen die Zentralregierung, gegen die britischen Kolonialisten im 19. Jahrhundert, gegen die Sowjets im 20. Jahrhundert – und nun die internationale Gemeinschaft. Dazu ein kleiner historischer Exkurs von der in Deutschland lebenden Afghanin Mariam Notten und Ute Scheub vom Frauensicherheitsrat:

"Schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Reformerkönig Amanullah durch paschtunische Aufständische und Kollaborateure der an seiner Entmachtung interessierten Briten gestürzt, weil er unter anderem den Frauenschleier abschaffte. Für die Frauen folgte ein Rückschlag, der sie wieder entrechtete. Ähnliches passierte, nachdem die Sowjets 1979 einmarschierten und unter anderem per Dekret von oben die Abschaffung 'ungerechter, feudaler, patriarchalischer Beziehungen zwischen Mann und Frau' anordneten sowie das Brautgeld – in ländlichen Regionen einzige verfügbare soziale Absicherung – verboten. Viele afghanische Männer empörten sich. Zehntausende ließen sich (nicht nur deswegen) zu islamischen Gotteskriegern ausbilden – mit Hilfe von US-Waffen, CIA-Geldern, religiöser Unterweisung durch saudiarabische Wahhabisten und militärischem Drill in den Camps des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Nachdem die Sowjets 1989 geschlagen abgezogen waren, hatten die Frauen unter dem Terror der Mudschaheddin und Taliban am heftigsten zu leiden."

Der Alltag der übergroßen Mehrheit der Mädchen und Frauen hat sich seit 2001 nicht verbessert. Nur eine kleine städtische, gebildete Elite hat in den letzten acht Jahren Fortschritte erlebt. Ich muss an dieser Stelle nicht ausführen, was es bedeuten mag, in fortgesetzter Kriegsökonomie und prekärer Sicherheitslage Kinder und Alte zu versorgen. Der Krieg muss beendet werden, um die Lebenssituation von Frauen – und damit zugleich der ganzen afghanischen Zivilbevölkerung – zu verbessern. Denn jeder Militäreinsatz brutalisiert die Gesellschaft, was stets – auch in Bezug auf häusliche Gewalt – zu Lasten der Frauen geht; zudem bringt jeder Krieg Rotlichtviertel mit sich, ein beachtliches in Kabul – ebenfalls zu Lasten von Frauen.

Es darf nicht weiter um "Burka" oder "Nicht-Burka" der Afghaninnen gehen. Es ist unabdingbar, mit den afghanischen Frauen und nicht über ihre Köpfe hinweg Wege zu entwickeln, die den Alltag von Frauen und Männern verbessern können und die Notwendigkeit beachten, neue Ängste und Aggressionen bei den Männern zu vermeiden.

Versöhnungsinitiativen in Afghanistan können keinen Erfolg entfalten, wenn sie die Beteiligung von Frauen im Sinne der UN-Resolution 1325 vernachlässigen und die Beteiligung von Warlords und Milizenführern, die in den 90er Jahren nach Abzug der Sowjets schwere Kriegsverbrechen, u. a. Massaker und Massenvergewaltigungen, begangen haben, problemlos in der Regierung akzeptiert. Das Amnestiegesetz muss hinterfragt werden. Stehen wir aus christlicher Verantwortung hier nicht in der Pflicht, die deutsche Politik aufzufordern, im Dialog mit allen Beteiligten in Afghanistan die eigenen menschen- und völkerrechtlichen Ansprüche aufrecht zu erhalten? Gerade in Solidarität mit den Frauen bleibt Deutschland in der Verpflichtung gegenüber der afghanischen Bevölkerung. Allerdings geht es gerade hierbei um eine wahrscheinlich jahrzehntelange Verpflichtung zu ziviler Hilfe, nicht um vermeintlichen militärischen Schutz.

5) Es besteht keine christlich begründbare Rechtfertigung für Gewalt und Krieg, um dadurch zivilen Hilfsmaßnahmen zur Durchsetzung zu verhelfen. Ich sehe nicht, dass für Afghanistan alle anderen Mittel ausgeschöpft oder überhaupt ausreichend erwogen wurden. Ein Kriterium für die Ultima Ratio, drohender Völkermord, ist und war nicht gegeben. Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung sind als wirkliche Alternativen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Wollen wir das tradieren? Worin sehen wir die Rechtfertigung, die Frauen und Männer, Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr den nicht mehr zu leugnenden Kriegsgefahren in Afghanistan auszusetzen? Müssen wir nicht gegenüber der Politik der Frage danach, ob das erteilte Mandat überhaupt erreichbar und umsetzbar ist, mehr Nachdruck verleihen? Warum wagen wir es nicht, dem zivilen Aufbau faktischen Vorrang einzuräumen und ihn von der militärischen Belastung zu befreien? Die in Afghanistan handelnden zivilen Organisationen haben der zivil-militärischen Zusammenarbeit längst ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt. Sind wir uns sicher, dass Chaos und Terror in Afghanistan nicht gerade durch den 30 Jahre langen Kriegszustand gefördert wurden und in den letzten neun Jahren durch den Einsatz der internationalen Truppen weiter eskalierten? Ich zitiere noch einmal den pax christi-Präsidenten, Bischof Algermissen:

"Ein ethisches Kernproblem jedes bewaffneten Konflikts liegt darin, dass er eine Eigendynamik freisetzt und deshalb nur allzu leicht in einem Übermaß an Gewalteinsatz enden kann. Die Anwendung von Gewalt kommt überhaupt nur als Ultima Ratio in Betracht. Alle anderen Mittel, den fundamentalen Rechten von Menschen einen Weg zu bahnen, müssen ausgeschöpft sein. Es ist fraglich, ob es jenseits unmittelbarer Notwehr zur Verteidigung von Leib und Leben Ziele gibt, die den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen können. Papst Johannes Paul II. hat das alles im Jahr 2003 angesichts des drohenden Irak-Krieges auf den Punkt gebracht: 'Nein zum Krieg! Er ist niemals ein unabwendbares Schicksal. Er ist immer eine Niederlage der Menschheit.' "

Christine Hoffmann

Diesen Artikel teilen:
Schlagworte