Den Geist nicht auslöschen und die Welt nicht freiwillig räumen: ein Aufbruch in christlicher Zuversicht
Einführung von Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Einführung in den Tagesordnungspunkt
I.
In den letzten Monaten ist er häufiger bemüht worden, und das sehr zu Recht: der leidenschaftliche Appell des Jesuitenpaters Alfred Delp SJ an die christlichen Kirchen. Deren Zukunft, so ist er überzeugt, wird abhängen von ihrer bedingungslosen Rückkehr zum Dienst am Menschen, von ihrer Rückkehr zur Diakonie: "Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte oder Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. 'Geht hinaus' hat der Meister gesagt, und nicht: 'Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt'. Damit meine ich die Sorge auch um den menschentümlichen Raum und die menschliche Ordnung.“ Und dann unverhohlen kritisch: "Es hat keinen Sinn, mit einer Pfarrer- und Prälatenbesoldung zufrieden die Menschheit ihrem Schicksal zu überlassen. Damit meine ich die geistige Begegnung als echten Dialog, nicht als monologische Ansprache und monotone Quengelei."
Trotz des Zeitindexes – Alfred Delp sitzt als Mitglied des Kreisauer Kreises um Graf Moltke bereits in der Haftanstalt Tegel ein und wird nur wenige Wochen später in Berlin-Plötzensee ermordet – hat Delps leidenschaftlicher Appell seine Aktualität für das Schicksal der Kirchen von heute kaum eingebüßt. Natürlich unterscheidet sich die Ausgangslage von jener der nationalsozialistischen Jahre gewaltig. Und doch besteht auch heute immer wieder die Versuchung, sich in den Binnenraum der Kirche zurückzuziehen und sich auf die vermeintliche Kernkompetenz einer weltabgewandten religiösen Innerlichkeit zu konzentrieren – namentlich in Zeiten, die – wie gerade in diesem Jahr von uns schmerzlich erfahren – unsere Kirche von Skandalen tief erschüttert wird und schweren Gegenwind erfährt. Ein Rückzug aus der Mitte menschlicher Geschichte in irgendwelche Wohlfühl- oder Jubelnischen abseits der Gesellschaft – womöglich nur noch umgeben von den vorgeblich 'Zweihundertprozentigen' – ein solcher Rückzug hätte aber fatale Folgen: Die Kirche wäre nicht mehr Sakrament, sie wäre also nicht mehr jenes Zeichen und Werkzeug der Frohen Botschaft Gottes, das inmitten menschlicher Bedrängnis, inmitten menschlicher Ohnmachtserfahrung, inmitten menschlicher Verzweiflung Trost, Heil, ja Erlösung zuspricht und konkret erfahrbar macht – und zwar durch ihre diakonische Weggemeinschaft inmitten des menschlichen Alltags und natürlich auch durch die Mitgestaltung der sozialen und politischen Welt. Kurz: die Welt würde bei einem Rückzug der Kirche von ihr "gleichsam freiwillig geräumt" .
II.
Alfred Delp zielt auf jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns. Keiner kann sich mit dem Hinweis he-rausreden, er oder sie verfüge doch nun einmal nicht über eine entsprechende Pfarrer- oder Prälatenbe-soldung. Das ist unerheblich. Erheblich ist vielmehr: Als Volk Gottes sind wir durch Taufe und Firmung gemeinsam berufen und gefordert, das priesterliche, prophetische und königliche Amt Christi zu leben und in der Hingabe für die Vermenschlichung der Welt wenigstens fragmentarisch zu verwirklichen. Keiner kann sich hinter Bischöfen oder Ordinierten verstecken und von ihnen allein den Dienst der Christen für die Menschen dieser Welt erwarten. Zugegeben, mitunter fühlen wir uns in der Ausübung des gemeinsamen priesterlichen Dienstes eher gehemmt als gefördert – von welchen inneren und äußeren 'Mächten und Gewalten' auch immer. Aber dann wehren wir uns eben noch wirksamer gegen solche Hemmnisse! Schütteln wir alle Ermattung und Zermürbung ab! 'Talita kumi!' - 'Mädchen, steh auf', hat der Meister zum leblos geredeten Kinde gesagt (Mk 5, 35ff), und nicht: 'bleib narkotisiert, bis dich andere endgültig abgeschrieben haben'! Den Aufbruch wagen ist da wohl die wichtigste Zeitansage, und zwar den Aufbruch in christlicher Zuversicht; in der Zuversicht also, die getragen ist von der Hoffnung, dass der Geist des Mannes aus Nazareth, sein Zuspruch der Ermutigung und Bestärkung jeden unerschrockenen Aufbruch inspiriert und begleitet.
Delps Diktum einer durch und durch diakonischen Kirche zielt ins Mark unserer Identität als Christinnen und Christen, zielt voll auf unsere geistig-geistliche Grundhaltung zur Gesellschaft und Welt, trifft unsere höchst persönliche Spiritualität – als Einzelne, aber auch als Gemeinschaft. Damit kein Missverständnis entsteht: Angesichts des beherzten Engagements ungezählter Christen, Kirchengemeinden, Verbände und geistlichen Gemeinschaften in unserem Lande gibt es für uns keinen Grund, gesenkten Blickes 'in Sack und Asche zu gehen'. Dennoch ist jede Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit fehl am Platz. Warum sonst könnten die Krisen der Gegenwart uns so erschüttern und die Kirche aus der Bahn, genauer: aus ihrem Sitz im Leben zu werfen drohen?
Der nachdenkliche Blick auf unser Selbstverständnis als Christen und auf die Diakonietauglichkeit unserer Spiritualität ist unvermeidlich. Das Präsidium des ZdK hat im Nachgang der diesjährigen Frühjahrs-vollversammlung eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe "Laienapostolat" eingesetzt, die diesen Prozess der Selbst-vergewisserung für das ZdK mit inhaltlichen Impulsen und Strukturierungsvorschlägen begleiten soll. Ein erster Schritt wird mit der heutigen Vollversammlung gesetzt. Ihnen liegt ein Impulstext der Arbeitsgruppe vor: "Den Geist nicht auslöschen und die Welt nicht freiwillig räumen: ein Aufbruch in christlicher Zuversicht". Über ihn wird nicht nach Art eines klassischen Beschlusses abgestimmt, sondern er möchte lediglich unsere Beratungen in den nachfolgenden Arbeitsgruppen anregen. Unsere Beratungsergebnisse werden die Grundlage für den weiteren Prozess bilden, der – so die bisherigen Planungen – in den Mannheimer Katholi-kentag 2012 münden soll.
Der um Selbstvergewisserung bemühte Blick auf unser Apostolat und unsere Spiritualität will keinesfalls, dass wir uns selbstbespiegeln. Er will – wenn Sie etwa den Impulstext zum Maßstab nehmen wollen – etwas ganz anderes: er will uns offen und sensibel machen für die Enttäuschungen und Verunsicherungen, die weite Teile der Kirche in Deutschland erfasst haben; offen und sensibel für die hoffnungsvollen Zeichen der Zeit, die von den ernsthaften Bemühungen um Umkehr und Aufbruch in unserer Kirche berichten; offen und sensibel für jene Erfahrung der rettend-befreienden Nähe des biblischen Gottes, aus dem wir all unsere kreativen Inspirationen, all unseren widerständigen Geist, all unseren messianisch langem Atem schöpfen können, der uns zum Apostolat, der uns zur Kommunikation der Frohbotschaft in dieser Welt befähigt.
Erst von hier aus wird es möglich sein, uns der Vielzahl von Fragen zu stellen, die uns die derzeitige Lage unserer Kirche und die vielfältigen Zeichen der Zeit unerbittlich zur Klärung aufgeben. Der vorliegende Impulstext nennt einige Stichpunkte, die die Mannigfaltigkeit drängender Probleme nur andeuten können. Ich ergänze nur Weniges: Wie können wir jenes unsägliche Handeln aus Kirchenräson (E. W. Böckenförde) überwinden, das durch seine Verharmlosungen und Vertuschungen von Missständen und Missachtungen genau das zerstört, was es zu schützen vorgibt, nämlich die Glaubwürdigkeit unserer Kirche und damit die Verkündigung des Evangeliums? Wie gelingt ein offenes Eingestehen unserer eigenen Gebrochenheit (als Einzelne wie als Kirche!), ohne dass solch offenes Eingeständnis missbraucht wird, um uns gefügig zu machen oder zum Verstummen zu bringen? Wie können wir einen wirklich angstfreien Dialog initiieren und führen, der sich vom überraschend Neuen anderer Auffassungen bereichern lässt und sich nicht im Dickicht von Verdächtigungen und Unterstellungen verflüchtigt oder durch institutionelle Machtgefüge erdrückt wird?
Viele weitere Fragen brechen auf – erneut oder zum ersten Mal, individuell biographische oder solche, die sich für uns als Kirche gemeinsam stellen. Maßgeblich wird bei der Antwortsuch sein, dass wir eine den Menschen dienende Kirche werden, und zwar nicht nur in der Caritas, sondern auch in der Liturgie und in der Verkündigung. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der christliche Glaube hält eine Reihe von sehr anspruchsvollen Orientierungen bereit, die unsere persönliche Lebensführung bereichern und – wenn man so will – heilsam humanisieren. Und die sind gelegentlich durchaus anstrengend. Denken wir nur an die Weisungen der Bergpredigt. Aber das alles glänzt erst vor dem Hintergrund, dass der Mann aus Nazareth jeden Menschen in dessen Gebrochenheit nicht durch billige Schuldeinrede gefügig gemacht, sondern vorbehaltlos angenommen hat – vor aller Leistung und trotz aller Schuld. Eine dienende Kirche richtet Menschen auf; sie hält sie nicht durch ein schlechtes Gewissen in Schach.
III.
Ich warnte bereits vor Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit. Wie gefährlich beides für die Kirche werden kann, wusste auch Alfred Delp. Selbstkritisch geben sich Delps adventliche Fragen an seine Kirche: Läuft sie nicht Gefahr, "eine Kirche der Selbstgenügsamkeit zu werden, die ihre Gesetze und Büros und Verordnungen, ihre Klugheit und Taktik hat, ihren Bestand wahrt, von ihrer Vorsicht überzeugt ist? Und damit zugleich zu einer Kirche splendid isolation zu werden, zu einer der beziehungslosen Oasenhaftigkeit"? und dann: "Warum haben wir dem Leben nichts zu sagen oder besser, da wir etwas zu sagen haben, warum sagen wir ihm nichts?" Nochmals: Delps Kritik endet nicht bei jenen, die über eine Pfarrer- und Prälatenbesoldung verfügen. Sie trifft alle Christen, die sich mit der Welt und Gesellschaft, wie sie sind, abgefunden und sich in ihnen gemütlich eingerichtet haben. Seine Meditation zu den
Gestalten der Weihnacht, die an der Krippe Jesu zu stehen kämen oder aber fehlen würden, nutzt Delp zu einer harschen Kritik an den, wie er sie nennt, so "unerschütterlich-sicheren 'Gläubigen'". Auch sie dürften an der Krippe des zur Welt gekommenen Gottes fehlen und ihn so verpassen. "Sie glauben an alles, an jede Zeremonie und jeden Brauch, nur nicht an den lebendigen Gott. Man muss", gibt Delp durchaus zu, "bei diesen Gedanken sehr behutsam sein, nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Aber es stehen so viele Erinnerungen auf an Haltungen und Gebärden gegen das Leben. Im Namen Gottes? Nein, im Namen der Ruhe, des Herkommens, des Gewöhnlichen, des Bequemen, des Ungefährlichen. Eigentlich im Namen des Bürgers, der das ungeeignetste Organ des Heiligen Geistes ist." Nur ein Mensch, der sich in steter Grenzüberschreitung und Ablösung vom Gemütlichen übt, wird zu sich selber als freier Mensch kommen. "Den Rebellen", resümiert er einige Wochen später zu Epiphanie 1945 seinen Argwohn gegen jede Form bürgerlicher Wohlanständigkeit, "kann man noch zum Menschen machen, den Spießer und das Genießerchen nicht mehr."
Zugegeben, eine unerhört beißende Kritik! Aber auch unberechtigt und überzogen – wenigstens heute? Gewiss, man muss wirklich nicht erst zum Rebellen werden, wenn man aus dem Zuspruch Gottes reichli-chem Segen die Welt und die Gesellschaft menschendienlicher und darin gottgefälliger gestalten will, und man wird das Leben, sein freudiges Lachen ebenso wie sein berauschendes Staunen, auch genießen dürfen. Nur eines wird man tun müssen: weder den Geist auslöschen noch die Welt freiwillig räumen, sondern immer neu den Aufbruch wagen mit jener Zuversicht, die sich immer neu aus der Hoffnung christlichen Gottvertrauens speist. "Talita kumi", hat der Meister gesagt. Stehen wir also auf!