Ansprache bei der Segensfeier zur Einweihung der Geschäftsstelle des 98. Deutschen Katholikentags 2012 am 8. November 2010 in Mannheim
Lesung: Gen 12,1-4a
„Da zog Abraham weg, wie der Herr ihm gesagt hatte“ – mit diesen schlichten Worten wird ein Aufbruch geschildert, der vor fast 4.000 Jahren stattfand und alles andere als einfach oder harmlos war, weit entfernt von den Vorstellungen, die wir heute mit Mobilität und Flexibilität verbinden. Wer in der damaligen Zeit seine Verwandtschaft – seine Sippe – verließ, der wagte viel: Er löste sich von der Gemeinschaft, die ihm Geborgenheit, Schutz und Unterhalt gewährte und die Zukunft verbürgte; er gab seine ganze bisherige Lebenswelt auf, seine Lebensgrundlage, seine Lebenssicherheit. Wer seine Sippe verlassen hatte, der war vielfältigen Gefahren und Risiken ausgesetzt und führte ein Leben in Ungewissheit – zumal wenn sein Weg durch die Einsamkeit der Wüste führte. Dies alles lässt erahnen, wie ungeheuerlich der Ruf Gottes ist, der an Abraham ergeht: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“
Eine Zumutung ohnegleichen! Und doch: Abraham tut, was ihm geheißen wird. Er vertraut der Verheißung Gottes, so unwahrscheinlich sie in den Ohren des alten Mannes auch klingen mag: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen ... Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“ Der Apostel Paulus hat es in seinem Brief an die Christen in Rom auf den Punkt gebracht: „Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt“1. So ist Abraham der Urvater aller geworden, die an den einen Gott glauben. Und wir können noch einen kleinen Schritt weiter gehen und sagen: Er ist der Vater aller geworden, die als Glaubende aufbrechen. So kann uns die Gestalt des Abraham auch inspirieren, wenn wir darangehen, das Motto des Katholikentags in Mannheim zu buchstabieren und beginnen, es in die Tat umzusetzen: „Einen neuen Aufbruch wagen“.
An Abraham können wir erkennen, worauf es ankommt, wenn Glaubende einen neuen Aufbruch wagen. Abrahams Aufbruch ist nicht zuerst das Ergebnis eigener Überlegungen. Er ist zunächst ein Hörender: Er hört hin auf den Ruf Gottes. So müssen wir immer wieder neu hellhörig und sensibel werden für das, was Gott uns sagen will: in den Worten der Heiligen Schrift, in dem Wort, das in Jesus Christus Person wurde, aber auch in dem, was wir einander sagen und was andere uns zu sagen haben. Und nicht zuletzt: hellhörig und sensibel werden für das, was Gott uns sagen will in den Zeichen der Zeit, die es, wie das Zweite Vatikanische Konzils in seiner Pastoralkonstitution formuliert, „im Licht des Evangeliums zu deuten“ gilt2.
Doch wie das Hören für einen Dialog zwar unerlässlich, aber eben erst der Anfang des Dialogs ist, so ist es mit dem Hören allein nicht getan. Dem Hören muss die Tat folgen. „Da zog Abraham weg“ – das heißt: Er lässt vom Ruf Gottes sein Leben bestimmen und sich in Bewegung setzen, im unbedingten Vertrauen auf den, dessen Anruf er vernommen und angenommen hat. Nichts anderes bedeutet Glauben und solches Glauben gibt Boden unter die Füße.
Abrahams Geschichte macht uns deutlich: Es ist Gott, der uns aufbrechen heißt. Gott will uns immer wieder auf neue Wege führen, wie auch er selbst immer wieder neue Wege beschritten hat, um seine Sehnsucht nach der Liebe der Menschen und nach einer liebevolleren Welt zu stillen. Ja: Gott liebt neue Wege und er ist nicht müde geworden, die Menschen immer wieder zu Aufbrüchen auf neuen Wegen anzustiften: Einzelne wie Abraham, das Volk Israel, das den Exodus wagt, oder eben auch die Kirche, deren Geschichte eine Geschichte voller Aufbrüche ist. Ich denke an den großen Aufbruch an Pfingsten in Jerusalem, an die Konzilien bis hin zum Zweiten Vatikanum mit seinem wegweisenden Modell von Kirche als Volk Gottes, in dem vor aller Hierarchie zunächst einmal eine grundlegende Gleichheit von Schwestern und Brüdern, von Getauften und Gefirmten herausgestellt wird. Ich denke an die Ordensgründungen, an die zahlreichen Erneuerungs- und Reformbewegungen, an all die sozialen und missionarischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, an die unendlich vielen bekannten und unbekannten Berufungsgeschichten, die allesamt Aufbruchsgeschichten sind. Aufbruch gehört zur Kirche, denn sie ist eine pilgernde Kirche und zur Pilgerschaft gehört der Aufbruch jeden Tag!
In dieser Tradition steht auch das Motto des 98. Deutschen Katholikentags in Mannheim: „Einen neuen Aufbruch wagen“. Aber es geht um weit mehr als um das Fortführen einer langen Tradition. Der neue Aufbruch ist einer Situation geschuldet, wie wir sie so bisher noch nicht erlebt haben. Noch nie haben wir derart massiv und geradezu brutal zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Gemeinschaft der Kirche – weit über jeden einzelnen Christen hinaus – eine „ecclesia semper reformanda“ ist, eine Kirche, die ständig der Reform, der Erneuerung bedarf. Diese Aussage ist altbekannt; sie ist in den letzten Jahrzehnten schon fast zum harmlosen geflügelten Wort verkommen.
Wenn wir ehrlich sind, dann haben wir bisher das Wort von der „ecclesia semper reformanda“ eigentlich noch gar nicht so richtig ernst genommen. Wir wollten Änderungen wohl eher auf die Fassade, auf die Kosmetik beschränken; wir dachten an eine Art kirchliches Facelifting. Doch es ist, so müssen wir uns heute eingestehen, weit mehr als ein Facelifting gefordert. Es braucht in unserer Kirche eine tiefe innere Umkehr. In dem Wort von der „ecclesia semper reformanda“ findet ebenso wie in der Rede des Zweiten Vatikanischen Konzils von der „ecclesia purificanda“3 – der Kirche, die stets der Reinigung bedürftig ist – der Wesenskern der frohen Botschaft Jesu über das Kommen des Reiches Gottes einen Widerhall, und dieser Wesenskern, dieses Grundprinzip ist so aktuell wie kaum zuvor: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“4. Auf dieser Linie liegt auch die innere Umkehr, die wir in unserer Kirche heute brauchen und die sich in ganz konkreten Schritten und Veränderungen zeigen und bewähren muss.
So wird es bei unserem neuen Aufbruch ganz entscheidend darauf ankommen, deutlich zu machen, dass es der Kirche um die Menschen geht und, wenn sie ihrer Sendung treu bleiben will, um die Menschen gehen muss. Das vielzitierte Wort von Papst Johannes Paul II. ist und bleibt für uns die entscheidende Wegweisung: Der Weg der Kirche ist der Mensch.5 So hat auch Herr Erzbischof Dr. Robert Zollitsch in seinem Impulsreferat zur Eröffnung der diesjährigen Herbst- Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda in aller Deutlichkeit festgehalten: „Aufbruch verlangt eine konsequente Option für die Menschen.“
Und dabei dürfen wir unseren Blick nicht nur nach innen richten und so der Gefahr erliegen, uns immer und immer wieder nur mit uns selbst zu beschäftigen. Wir müssen über den eigenen Kirchturm hinausschauen und über unsere Kirchenglocken hinaushören – auf die Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft, auf ihre Nöte und Fragen, auf ihre Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchte, aber ebenso auch auf ihre Enttäuschungen, auf ihre Kritik und ihr Unverständnis. All dies gehört zu einer konsequenten Option für die Menschen und zum Dialog mit ihnen.
Mannheim ist ein idealer Veranstaltungsort, um eine solche Option im Rahmen eines Katholikentags wahrzunehmen. Die Stadt, die schon immer eine Einwanderungsstadt war, ist geprägt von einer reichen Vielfalt und zahlreichen Kontrasten. Sie ist damit ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Die Veränderungen, die sich sowohl im gesellschaftlichen als auch im kirchlichen Bereich vollziehen, sind hier deutlich zu sehen; die Fragen, die die Menschen heute bewegen, sind präsent. „Wandel war hier eigentlich immer“, schrieb der „Spiegel“ im vergangenen Jahr über Mannheim.7 Gerade im Wandel ist sich Mannheim aber auch treu geblieben, hat es verstanden, Neues mit Altem zu verbinden. Das alles passt gut zu einem Katholikentag, der im Zeichen des Aufbruchs, eines neuen Aufbruchs steht.
Große Aufbrüche setzten sich meist aus einer ganzen Reihe kleinerer Aufbrüche zusammen. Dies wird auch beim Katholikentag in Mannheim nicht anders sein. So findet auch heute ein Aufbruch statt: Die Geschäftsstelle des Katholikentags bricht auf und wir alle mit ihr. So hoffe ich wenigstens! Das Wagnis, das im Motto des Katholikentags zur Sprache kommt, kennzeichnet auch diesen heutigen Aufbruch. Große Aufgaben und viel Arbeit werden in den nächsten eineinhalb Jahren auf diejenigen, die hier tätig sind, zukommen. So ist es gut, dass wir diesen Aufbruch mit der heutigen Feier unter den Segen Gottes stellen und damit über unser Tun hinaus auf ihn verweisen. Denn auch wenn wir heute in ein ehemaliges Konzerngebäude einziehen, so ist die Kirche eben doch kein Konzern mit Dienstleistungsauftrag für seine Kirchensteuer zahlenden Mitglieder. Kirche ist lebendige Gemeinschaft, communio, Volk Gottes und Gott ist es, der uns aufbrechen heißt – wie den Abraham, die Urgestalt des Aufbruchs.
Gott hat dem Abraham seinen Segen zugesagt und ihm zugleich verheißen: „Ein Segen sollst du sein.“ Diese Verheißung begleitet auch die Kirche und sie ist schon oft in Erfüllung gegangen. „Ein Segen sollst du sein“: Das ist nicht nur Verheißung, sondern auch Auftrag. Bitten wir darum Gott, dass wir diesem unserem Auftrag gerecht werden, dass unser heutiger Aufbruch und der neue Aufbruch, den wir mit dem 98. Deutschen Katholikentag 2012 in Mannheim wagen wollen, ein Segen werde für viele Menschen in Mannheim, in unserer Erzdiözese Freiburg, in Deutschland und darüber hinaus! Und wenn wir auf unserem Weg vielleicht doch einmal mehr die Grenzen als die Weite der Verheißung Gottes sehen, dann darf uns ein großer Sohn dieser Stadt – Pater Alfred Delp SJ – ermutigen. Eine seiner Grundüberzeugungen lautete: „Du hast viel mehr Möglichkeiten, als du denkst, ganz zu schweigen von den ungeahnten Möglichkeiten Gottes mit dir.“ Und an einer anderen Stelle schreibt er einmal: „Man muss die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“8 Stellen wir also unsere Segel in den Wind des Heiligen Geistes und vertrauen wir den neuen Wegen, die der Herr uns weist! Amen.
Dr. Fridolin Keck
Generalvikar
1 Röm 4,18.
2 Vgl. GS 4.
3 LG 8.
4 Mk 1.15. Zum Gedanken vgl. die Predigt von Kardinal Walter Kasper zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 25. Januar 2002.
5 Vgl. Enzyklika Redemptor hominis, Kap. 14.
6 S. 6 im Text der Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz.
7 Kurt F. de Swaaf, Delikater Dreckhaufen, in: Spiegel online, 29.06.2009
8 Das erste Zitat, das verschiedenen Personen zugeschrieben wird, stammt nach Auskunft des ausgewiesenen
Delp-Kenners Günther Saltin tatsächlich von Alfred Delp. Das zweite Zitat findet sich in einem Text zu Epiphanie
1945, der veröffentlicht ist in: Alfred Delp, Gesammelte Schriften, Band 4, S. 218.