Statement von Heinz-Wilhelm Brockmann
im Rahmen des gemeinsamen Studientags von DBK und ZdK in Würzburg -es gilt das gesprochene Wort.
"Ohne Visionen verwildert das Volk", so heißt es im Buch der Sprichwörter im 29. Kapitel, Vers 18, dem Teil, der König Salomo zugeschrieben wird. Knapper hätte ein moderner Politiker oder Manager nicht sagen können, was heute wie damals Kennzeichen menschlicher Arbeit und menschlicher Gemeinschaft ist: Ohne eine weite und gemeinsame Sicht von Zukunft gibt es keine gemeinsame Anstrengung, keine Ausrichtung aller auf ein gemeinsames Ziel.
Wir Menschen brauchen eine solche Vision, auch dann, wenn sie noch nicht in allen Einzelheiten klar ist. Für uns Christen gilt dies zumal. Denn wir erwarten immer eine Zukunft vor uns, weil Gott lebt und weil er uns nicht aufgibt.
Zukunftsmodell, Zielvorgabe, Leitbild, - viele Bistümer haben sich solche Zukunftsvorstellungen erarbeitet, Unternehmen tun es, Behörden, sogar Schulen. Wo immer Menschen gemeinsam etwas tun, braucht es solche Ausrichtung aller. Denn durch solche Ziele werden auch neue Kräfte in den Menschen geweckt werden, wächst die Bereitschaft, sich einzusetzen. Und nur so besteht eine Chance, das Ziel auch zu erreichen.
Im ZdK haben wir seit einiger Zeit den Wunsch geäußert, dass wir auch in der ganzen Kirche in Deutschland mehr ausformulierte gemeinsame Zielvorstellen brauchen, mit den wir heute beschreiben, wie unsere Kirche in unserem Land ein etlichen Jahren aussehen könnte und sollte. Denn indem wir solche Zielvorstellungen beschreiben, können wir gemeinsam die Kraft gewinnen, uns dafür einzusetzen und stecken andere mit dieser Kraft an. Und mit solchen gemeinsamen Vorstellungen behalten wir die Chance, Entwicklungen zu beeinflussen und zu steuern und nicht zu Opfern von Veränderungen zu werden, die wir vielleicht so gar nicht wollen.
Jeder von uns ist davon überzeugt, dass unsere Kirche nicht mit einem Betrieb vergleichbar ist, und dass unsere Hoffnung, unser Ziel zu erreichen, nicht auf uns selbst gründet. Wir alle wissen, dass der Herr der Kirche der Grund unserer Zuversicht ist und dass er uns gemeinsam führt in eine Zukunft, die wir nicht kennen und die wir ihm letztlich überlassen. Und dennoch müssen wir uns anstrengen. Wir müssen auch in der Kirche dafür sorgen, dass neue Kräfte freigesetzt werden, dass bei möglichst vielen die Bereitschaft besteht, sich für unsere Kirche einzusetzen. Und wir müssen dafür sorgen, dass wir uns alle für dasselbe Ziel einsetzen, alle zusammen. Diese Gemeinsamkeit des Ziels verlangt viel Kommunikation über das Ziel. Auch dazu dient unser Gespräch.
Solch eine Übereinstimmung in grundlegenden Zielen schafft unter allen Beteiligten Vertrauen. Vertrauen aber ist für den Erfolg eines jeden Unternehmens, einer jeden Einrichtung unverzichtbar. Auch wir brauchen dieses grundsätzliche Vertrauen zueinander, weil solches Vertrauen nach innen Kraft gibt und nach außen ausstrahlt. Vertrauen ist das Grundelixier einer jeden Gemeinschaft, fehlendes Vertrauen nach innen wie nach außen wie bleierne Kraftlosigkeit. Auch dazu sind wir heute zu diesem Gespräch zusammengekommen: Wir möchten zwischen den deutschen Bischöfen und den Repräsentanten der katholischen Laien in unserem Land dieses grundlegende Vertrauen vergrößern, möchten noch stärker als Einheit wahrnehmbar sein und ausstrahlen.
Mein Beitrag zur Vorstellung von Zukunft unserer Kirche geht zunächst auf die heutige Situation ein und versucht dann in der kurzen Zeit einige Striche zu zeichnen für künftige Schwerpunkte:
1. Die katholische Kirche in Deutschland ist gekennzeichnet von äußeren Stabilisierung und innerer Schwäche.
In den siebziger Jahren gab es in Deutschland zum Teil heftige Diskussionen über das Verhältnis von Kirche und Staat. Ausgelöst durch Thesen der Jugendorganisation der FDP, die sie ausdrücklich als "Angriff auf die Kirchen" verstanden, beschloss die FDP 1974 Thesen zum Verhältnis von Kirche und Staat, die das bestehende Staat-Kirche-System in Deutschland grundlegend verändern wollten. Diese Thesen wurden bald immer weniger in Erinnerung gerufen, vergessen und inzwischen ausdrücklich revidiert, denn politische Erfolge sind in Deutschland mit antikirchlichen Affekten nur in Nischen zu gewinnen.
In Deutschland hat es nie einen bedeutenden Laizismus gegeben, und heute gibt es eine politisch wie gesellschaftlich fraglose Akzeptanz der christlichen Kirche wie des Phänomens von Religionen im öffentlichen Raum. Ökumenische Gottesdienste zur Parlamentseröffnung sind ebenso selbstverständlich wie christliche und religiöse Themen in den Medien zu Festtagen. Und die Gesellschaft bemerkt, dass sie ganz zentrale Fragen der Menschen, zumal tiefe Trauer am besten in Gottesdiensten ausdrücken und vielleicht bewältigen kann.
Es gibt keine Austrittswelle aus den christlichen Kirchen, das staatskirchenrechtliche System in Deutschland ist nicht ernsthaft angefragt, und auch die Finanzprobleme, vor einigen Jahren noch ein Damoklesschwert, scheinen inzwischen überall handhabbar.
Doch die Verbindung von christlichem Glauben und unserer Kultur scheint in Vergessenheit zu geraten. "In einigen Jahren kann die Mehrheit der Menschen in Deutschland den Faust nicht mehr verstehen, weil sie mit Teufel, mit Ostern und Erlösung nichts mehr anfangen kann", hat der große Germanist Albrecht Schöne schon vor Jahren gesagt. Und in Umwandlung eines Wortes aus dem französischen Hirtenwort "Propose´ la Foix" möchte ich fragen: Wie wollen wir noch unsere Dome, Klöster oder auch nur ein Wegkreuz zum Sprechen bringen, wenn man nichts mehr von der Bibel versteht?
Wir wissen längst, dass es einen erheblichen Verlust an Glaubenssubstanz in Deutschland gibt. Von zentralen Glaubensfragen hat auch ein großer Teil der Christen nur diffuse Vorstellungen. Dies ist in dem wichtigen Schreiben der Deutschen Bischofskonferenz "Zeit der Aussaat" von 2004 treffend beschrieben. Wie unsere Kirche neue missionarische Kraft gewinn en kann, ist dort als zentrale Aufgabe beschrieben. In Fortführung dieses Hirtenworts möchte ich drei Fragenkreise ansprechen:
1. Kann es nicht häufiger ein gemeinsames Glaubenszeugnis von uns allen, Bischöfen und Laien, allen Gliedern der Kirche im öffentlichen Raum geben, das unübersehbar ist? Katholikentage sind ein solches Zeugnis, und sie werden so verstanden. Brauchen wir nicht mehr davon, schriftliche wie mündliche, als Aktionen oder auch von einzelnen? Und wie könnte das in unserer Zeit und Gesellschaft geschehen, überzeugend und glaubwürdig?
2. Wie können wir der modernen Gesellschaft besonders an ihren Grenzen helfen? Sie hat nicht die Kraft zu einer gemeinsamen Werteorientierung, nicht nur in Zeiten der Wirtschaftskrise. Sie ist nicht in der Lage, Trauer und großes Glück zu bewältigen. Jürgen Habermas hat dies längst eingeräumt. "Es gibt Dinge, die für uns Menschen zu groß sind, Schmerz, Einsamkeit, Tod, aber auch Schönheit, Erhabenheit und Glück. Dafür haben wir die Religion geschaffen. Was geschieht, wenn wir sie verlieren? Was uns bleibt, ist die Poesie des einzelnen Lebens. Ist sie stark genug, uns zu tragen?" So heißt es in dem Roman "Nachtzug nach Lissabon", der in Deutschland millionenfach verkauft wurde.
Haben wir schon die Sprache und Formen gefunden, wie wir mit solchen grundsätzlichen Fragen der modernen Zeit umgehen, selbstlos und ohne Absicht auf Bekehrung, als Dienst an den Fragen unserer Zeit? Manche Angebote an heutige Menschen, ihnen in dieser Suche beizustehen, die es in einzelnen Kirchen und Bistümern gibt und von denen die Öffentlichkeit immer wieder fasziniert berichtet, müssten wir sie nicht mehr zum Zentrum unserer Überlegungen und unserer pastoralen Arbeit machen?
3. In anderen Ländern und auf anderen Kontinenten sind die Erfahrungen solchen missionarischen Pastoral immer verbunden gewesen mit dem Versuch, der Gesellschaft einfache und unaufdringliche Formen von Kontaktmöglichkeiten anzubieten. Daraus entstehen Formen der Netzwerke unter Menschen, die aus diesen Kontakten Formen von Gemeinsamkeiten herstellen, weil sie den Wunsch äußern, dass man zusammenbleibe. Solche Bewegungen im gesellschaftlichen Bereich, an der Basis, schaffen dann eine neue Form von Gemeinschaft. Könnten wir auch in unserem Land für unsere Kirche den Mut zu solchen neuen Formen von Gemeinschaften aufbringen?
2. Unsere Arbeit an Strukturen
In Deutschland gibt es eine andere Entwicklung. Im Zuge des Priestermangels werden immer mehr Gemeinden entweder ganz aufgelöst oder zu größeren Seelsorgeeinheiten zusammengefasst. Dies geschieht einerseits wegen des Priestermangels, ss geschieht aber auch mit der Begründung, der moderne Mensch sei beweglicher und suche sich aus dem Angeboten um ihn herum das aus, was zu ihm passe. Er brauche darum nicht den kleinen überschaubaren Raum.
Dieser letzte These wird entgegengehalten, dass der moderne Mensch in den großen, oft anonymen gesellschaftlichen Verhältnissen einsam geworden sei und nach Kontakt und Gemeinschaft, nach neuen Strukturen und Formen von Heimat suche, nicht zuletzt in der Großstadt. Und viele von uns quält der Gedanke, ob wir gerade dabei sind, in Deutschland Strukturen aufzugeben, die in Jahrhunderten gewachsen sind, und die wir, einmal aufgegeben, nie mehr zurückgewinnen werden. Viele von uns fragen sich, ob solche neuen größeren Einheiten die Lösung sind oder nur ein Übergang, weil die katholische Kirche in der ganzen Welt die Frage derzeit nicht lösen kann, wie die Leitung von Gemeinden aussehen soll.
Vielleicht haben wir in Deutschland zu schnell Zutrauen zu großen Seelsorgeeinheiten gefasst. Wenn es größere Einheiten geben muss, weil der Priestermangel keine andere Alternative lässt, dann ist es unverzichtbar, unterhalb der Leitungsebene Strukturen zu schaffen, in denen wohnortnah, ausgerichtet auf die jeweiligen Menschen Kontaktmöglichkeiten bestehen, die auch angegangen werden und aus denen eine Form von Gemeinschaft entsteht. Und dann braucht es über diese Kontakte Substrukturen in den größeren Seelsorgeeinheiten, in denen Verantwortung auf möglichst viele Menschen übertragen wird. Verantwortung für die Entstehung solcher Netzwerke, aber auch für Begleitung und Seelsorge, für diakonische Dienste und auch für kleine Gottesdienste und die Leitung von solchen Substrukturen. Wenn bei der Errichtung von größeren Seelsorgeeinheiten nicht mehr Menschen mittun an den verschiedensten Diensten, die es in kleineren oder größeren Einheiten auch dann gibt, sind dann die größeren Einheiten ein Fortschritt, ein größeres, dichteres Netz, um Menschen aufzufangen, oder sind sie nur weitere Maschen des Netzes? Es braucht in unserer Kirche mehr Personal, hauptamtliches aber auch ehrenamtliches, das in einem großen Team die größer gewordenen Einheiten begleitet. Und dieses Personal gibt es in Deutschland. McKinsey hat das deutlich unterstrichen. Doch Menschen gewinnt man für einen Einsatz nur, wenn man ihnen Verantwortung überträgt, weil man ihnen etwas zutraut. Zu meiner Vision einer Kirche der Zukunft gehört nach meine Überzeugung, dass viele Menschen sich gewinnen lassen, mitzutun, dass viele entdeckt werden, dass viele für die verschiedensten Dienste qualifiziert werden und verantwortlich und gut mitarbeiten.
3. Die deutsche Kirche muss erkennbarer eine diakonische Dimension haben
In der öffentlichen Wahrnehmung hat unsere Kirche in allen Bereichen der Diakonie eine große Zustimmung erfahren und großes Ansehen erworben. Das liegt vor allem an der hohen Professionalität, mit der Diakonische Dienste bei uns überall ausgeübt werden, von Kindergarten bis zum Altenheim. Und es liegt auch an der hohen Professionalität der Caritas, die als Verband der freien Wohlfahrtspflege und als sachkundiger Anwalt der ganz verschiedenen Not in unserem Land außerordentlich überzeugend ist.
Doch nicht an die Caritas sondern an uns alle hat Mutter Theresa beim Katholikentag in Freiburg die entwaffnende Frage gestellt: "Kennt ihr die Armen eurer Stadt?" Nur die Kirche als ganze, alle Christen in ihren Lebensbereichen können die diakonische Kirche sein und darstellen, die eine Gemeinschaft von heilenden Beziehungen sein kann. Diakonie als Prinzip der Pastoral, das heißt, es muss uns gelingen, Verbindungen unter Menschen zu schaffen, die helfen können, dass Not auffällt, dass einfacher Kontakt möglich ist, dass Hilfe direkt oder indirekt herbeigeschafft wird. Durch uns, die Frauen und Männer an allen Orten, muss unsere Kirche zur sensibelsten Wahrnehmung der unterschiedlichsten Form von Not werden, der offenen, wie der versteckten. Doch dafür müssen wir zunächst Sensibilität schaffen und dafür müssen wir qualifiziert werden.
4. Sachkundiger Laienkatholizismus
Der deutsche Laienkatholizismus entstand im 19. Jahrhundert als Teil der modernen Bewegung, die damals bürgerliche Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und auch mehr Bildungsgerechtigkeit erkämpfte. Und auch nach 1949 war der Laienkatholizismus in der damaligen Bundesrepublik eine Säule des demokratischen Wiederaufbaus. Das ist in unseren Augen eine große Tradition, die einmalig ist und letztlich ein großer Dienst der Katholischen Kirche an unserer Gesellschaft.
Wie kann diese Tradition heute fortgesetzt werden? Ich meine, es kommt zunächst darauf an dass wir uns in der Tradition der Katholischen Soziallehre für Fragen einzusetzen, die uns aus unserem Glauben besonders am Herzen liegen, Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Familie, der Bioethik und der Bewahrung des menschlichen Lebens und der Schöpfung, aber auch Fragen der Zukunft der Religionen und des Glaubens, von Bildung und Erziehung. Wir sind aus unseren Berufs- und Lebenserfahrungen davon überzeugt, dass es unverzichtbar ist, unsere Grundüberzeugungen in ganz konkreten politischen Zusammenhängen zu vertreten. Viele von uns haben immer wieder erfahren, dass es auch als Zeugnis des Glaubens angesehen und gewünscht wird, wen wir uns so sachkundig und engagiert, klug geplant und hoffentlich überzeugend öffentlich einsetzen. Gerade in den letzten Monaten konnten wir erfahren, wie sehr die offene Gesellschaft von der Kirche verlangt, dass sie sachkundig ist und genau informiert Stellung bezieht und entscheidet. Man lässt es uns eben nicht durchgehen, wenn wir uns nur in sehr grundsätzliche Überlegungen flüchten oder gar, wenn wir die Aufgabenteilung zwischen Kirche uns Politik so vornehmen, dass wir uns für die hehren ethischen Grundsatzfragen zuständig erklären und der Politik das mühevolle Alltagsgeschäft überlassen, bei dem wir selbstverständlich immer jede Einzelheit kritisieren dürfen.
Bei öffentlichen Auseinandersetzungen können wir uns gut eine kluge Rollenverteilung vorstellen: Laien dürfen im öffentlichen Raum viel kämpferischer und auch streitiger auftreten. Bischöfe in ihrer Funktion als Brückenbauer sollen gern die Rolle übernehmen, zusammenzuführen. Und wenn sie so in manchen Diskussionen für sich das Schlusswort behalten, dann ist uns das recht. Auch solche Form der abgesprochenen Zusammenarbeit ist Basis eines Vertrauens, von dem ich zu Beginn sprach.