Europa verpflichtet – christliche Visionen für Europas Einheit in der Vielfalt
Vortrag von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer beim Kongress der Ackermann-Gemeinde in Pilsen -es gilt das gesprochene Wort.
Die beiden Themen des heutigen Vormittags haben einen gemeinsamen Beginn: Europa verpflichtet. Diesen kurzen Satz kann man als eine objektive und als eine subjektive Aussage verstehen. Denn man könnte einerseits sagen: Europa verpflichtet uns. Und andererseits: Wir sind Europa verpflichtet. Einerseits ist Europa eine Aufgabe, die uns in Pflicht nimmt; eine Forderung, der wir uns zu stellen haben; ein Dienst, der zu erfüllen ist. Zugleich ist Europa für uns aber eine Idee, der wir uns verpflichtet fühlen, ein Programm, für das wir uns einsetzen wollen, eine Perspektive, der wir uns auf dem Weg in die Zukunft anvertrauen. In den Worten Pflicht und Verpflichtung verbindet sich Objektives und Subjektives, Vorgabe der Wirklichkeit und eigene Entscheidung, Erkenntnis der Realität und eine diese Erkenntnis bejahende und wertende Überzeugung.
Europa verpflichtet. Die objektive Aussage ist nicht zu trennen von unserer subjektiven Überzeugung. Sie hat mit unserem Selbstverständnis zu tun, ist immer zugleich auch ein Bekenntnis, berührt also den Kern personaler Existenz. Was leitet uns, was treibt uns an, welche Erwartungen hegen wir, ja, welche Hoffnungen bewegen uns, wenn wir uns einer Sache verpflichtet fühlen. Und was heißt dies, wenn diese Sache so komplex ist, so vielfältig und widersprüchlich, so beladen mit guten und schlimmen Erinnerungen wie die Sache Europa? Können uns christliche Visionen dabei helfen, Sinn und Inhalt unserer Verpflichtung gegenüber Europa zu erkennen? Wir wissen, dass Vision kein ungefährliches Wort ist. Visionen können den Horizont erhellen und unserem Weg die Richtung weisen, aber sie können auch täuschen und in die Irre führen. Daher müssen Realität und Vision immer zusammen gehalten werden. Denn Visionen sollen dazu helfen, die Realität zu erkennen und zu gestalten, nicht aber, ihr zu entfliehen oder sie zu leugnen.
Die europäische Realität ist widersprüchlich. Das gilt für Europa insgesamt, aber auch für jenen Teil, der sich institutionell verbunden und zu einer sich integrierenden Gemeinschaft entschlossen hat, also für die Europäische Union. Ganz gewiss müssen wir das ganze Europa im Blick behalten, aber die Erwartung eines gemeinsamen Weges, über den wir nachzudenken und zu entscheiden haben, können wir nur mit der Europäischen Union verbinden. Deshalb will ich mich auch auf diese Union konzentrieren, aber gleichwohl den weiteren europäischen Kontext mit bedenken. Übrigens findet sich nicht wenig Widersprüchlichkeit der europäischen Realität schon in der Europäischen Union.
Als Teil der von den Menschen erlebten und gelebten Praxis ist Europa in Gestalt der Union eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Freilich teilt sie mit unserem Alltag das Schicksal, eher kritisch als euphorisch beurteilt zu werden. Unstreitig bedeutet die Europäische Union eine Ära des Friedens und der Freiheit, wie sie unser von Kriegen und Mächten geplagter Kontinent über eine so lange Zeit noch nie erlebt hat. Und für die Mitgliedsländer, insbesondere für die älteren Mitgliedsländer, ist der Gewinn an Wohlstand für die meisten Bürgerinnen und Bürger unübersehbar.
Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass diese Vorzüge gering gelten, wenn es Europakritikern und Europaskeptikern gelingt, berechtigte und unberechtigte Vorwürfe gegen die europäische Entscheidungs- und Verwaltungspraxis für mehr oder weniger offen antieuropäische Kampagnen populistisch auszuschlachten. Dann wird Europa von zu vielen eben nicht als Garant von Frieden und Freiheit und als Chance von Wohlstand gesehen, sondern als immer wiederkehrender Verhandlungspoker und als bürokratisches Monstrum.
Zweifellos ist wahr: Die Europäische Union ist als europäische Demokratie nur selten erfahrbar, trotz der gestiegenen Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Bei den letzten Europawahlen in Deutschland präsentierten die beiden großen Parteien jedenfalls als faktische Spitzenkandidaten ihre nationalen Politiker und erst in zweiter Linie ihre führenden Abgeordneten im Europäischen Parlament. Tatsächlich sind es ja auch die nationalen Regierungen, welche die europäische Politik maßgeblich bestimmen. Und dass sich Menschen mit einem institutionellen Gefüge und mit Normsetzungsverfahren identifizieren, ist ganz generell eher selten.
Demokratie und gelebte Verfassung bedeuten für die meisten Menschen Chance zur Teilhabe an der öffentlichen Debatte und Chance zur Einwirkung auf die Entscheidungsfindung. Womit sie sich identifizieren, ist also nicht ein abstraktes Normengefüge, sondern eine konkrete Erfahrung. In Europa wird Demokratie aber zu wenig als miteinander sprechender und aufeinander hörender Diskurs erlebt. Aber nur so wird Demokratie verwirklicht und ist Demokratie erlebbar. Eine europäische Öffentlichkeit gibt es erst in Ansätzen. Dadurch prägen aber die europäischen Gemeinsamkeiten, welche überhaupt erst ein dauerhaftes europäisches Handeln ermöglichen, das öffentliche Bewusstsein in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in einem zu geringem Maße.
Diese Schwäche der Union als europäische Demokratie wird auch von jenen kaum ernsthaft bestritten, welche diese Union als Entscheidungs- und Handlungsgemeinschaft wirklich wollen. Über die Gründe dafür herrscht dagegen keine Einigkeit. Ist es ein starkes Bewusstsein unserer europäischen Identität, was uns fehlt? Wer in der Gesellschaft nur eine Summe von Individuen sieht und Verfassungen im Wesentlichen die Aufgabe zuweist, ein Maximum von Individualrechten mit einem Minimum von stabiler und verpflichtender Gemeinsamkeit zu verbinden, der kann meist mit dem Begriff der Identität wenig anfangen, ja, er betrachtet ihn nicht selten als Gefährdung seiner persönlichen Freiheit und als ein Hemmnis für Fortschritt und Modernität. Darum wird er auch nicht einsehen wollen, wie bedeutsam gemeinsame Wertvorstellungen, kulturelle Traditionen und geistige Haltungen sind, wenn institutionelle Gemeinsamkeit gelingen soll.
Es gibt keine funktionierende und verlässliche Verfassung ohne Verwurzelung in einer geschichtlich gewachsenen geistig-kulturellen Identität. Die europäische Grundrechtscharta könnte von sich aus keine europäische Wertegemeinschaft schaffen, wenn es diese nicht bereits im Denken und im Verhalten der Europäer gäbe. Was eine Verfassung meint und in der Realität bedeutet, dass ergibt sich nicht allein aus ihren Normen und Prinzipien. Vielmehr lebt eine geltende Verfassung aus der Wechselwirkung mit dem vorherrschenden öffentlichen Bewusstsein. Wenn dies schon für jede nationale Verfassung gilt, so trifft dies um so mehr zu für eine europäische Rechtsordnung, ob man sie nun Verfassung nennt oder nicht. Denn Europa ist in seiner Geschichte wie in seiner Gegenwart eben Einheit in der Vielfalt. Und diese Vielfalt ist nicht nur bestimmt von liebenswerten und touristisch reizvollen Unterschieden, sondern von mentalen Spannungen und widerstreitenden geschichtlichen Erinnerungen. Im Zusammenhang wie im Widerstreit der nationalen Identitäten Europas ist also überwölbende und verbindende Identität um so notwendiger. Darum müssen wir die europäische Identität als Einheit in der Vielfalt entdecken wollen und uns zu ihr ausdrücklich bekennen.
Was ist aber nun die Rolle und der Stellenwert des Christlichen in dieser komplexen europäischen Identität? Und was bedeuten christliche Visionen für die Zukunft der europäischen Einheit in der Vielfalt des europäischen Lebens?
Antworten auf diese Fragen können nur mehrdimensional sein. Denn Identität ist keine statische Größe, keine unveränderliche Konstante im Strom der Zeit und ganz gewiss kein Schutzschild gegen den permanenten Wandel. Reale Identität ist eine dynamische Größe. Gewiss weist Identität eine relative Stabilität auf, sonst wäre sie nicht wirksam und dieser Begriff sinnlos. Gefährlich wäre es jedoch zu meinen, Identität wäre zwar das Erbe aus der Vergangenheit, also ein Ergebnis von Geschichte, bedeutete aber heute das Ende von Geschichte. Was Identität beschreibt, ist der derzeitige Stand des geschichtlichen Wandels, gewiss mit dem Akzent auf Kontinuität und der Wertschätzung des Erreichten und Vorhandenen, aber nicht mit dem Anspruch auf Endgültigkeit und Unveränderlichkeit. Eine Identität, die starr ist und sich absolut setzt, kann auf Dauer gegenüber der Dynamik der Geschichte nicht bestehen. Das gilt ganz gewiss für Europa.
Das Europa, das sich nach dem II. Weltkrieg in der Europäischen Union herausgebildet hat, nahm zwar seine Kraft und seine Impulse aus der europäischen Geschichte und kann auch nur so verstanden werden. Es ist dennoch ein anderes als das Europa vor der Erfahrung von Faschismus, Nationalsozialismus und Krieg. Genauso ist das Europa nach der revolutionären Wende im Osten gegen den Kommunismus und für die Freiheit ein anderes, als die erfolgreiche, aber stark auf sich selbst bezogene und nicht selten auch selbstgefällige Europäische Union vor 1990.
Ich sage das mit solchem Nachdruck, weil ich ja die Illusionen und die auf sie folgenden Enttäuschungen kenne, die mit der Rückkehr nach Europa von einigen in dessen fast ein halbes Jahrhundert abgetrennten östlichen Teil gehegt wurden. Der von Nazideutschland entfesselte Krieg und die sowjetische Vorherrschaft in der Nachkriegsära hatten das Netz von Beziehungen durchtrennt oder doch jedenfalls stark reduziert, welches Osteuropa und insbesondere Mittelost- und Südosteuropa über Jahrhunderte geistig und kulturell mit Westeuropa verbunden hatten. Nun, als die Mauern fielen und die Grenzen durchlässig wurden, fand man dort ein anderes Westeuropa vor, als es sich nicht wenige vorgestellt hatten. Es war ein unvorstellbar wohlhabendes, aber auch nicht selten schockierend liberaleres und leider auch weniger christlich geprägtes Europa, als es viele im Osten erwarteten und in Erinnerung hatten.
Natürlich gilt die Bedeutung des Dynamischen auch für den Glauben und die Glaubenspraxis. Gewiss: Das Glaubensgut ist zeitlos gültig und die Frohe Botschaft Jesu Christi den Menschen aller Zeiten und Kulturen gesagt. Aber gelebt wird der Glaube in einer bestimmten geschichtlichen Zeit, einer Zeit mit den ihr eigenen Fragen, Sorgen und Erwartungen. Der konkret verkündete und gelebte Glaube ist untrennbar mit der konkreten Geschichte verbunden. Der Glaube der Menschen lebt in ihrer Geschichte. Darum wandelt sich mit der Geschichte auch das Glaubensverständnis. Es war ein katholischer Irrtum des 19. Jahrhunderts zu meinen, die Kirche wäre der unveränderliche Fels in der Brandung der feindlichen Geschichte. Dagegen ist es eine wertvolle Einsicht des II. Vatikanischen Konzils, die Kirche zu charakterisieren als das durch die Geschichte pilgernde Volk Gottes. Denn eine sich durch die Geschichte und mit der Geschichte bewegende Kirche ist eine Kirche im Wandel und in der ständigen Erneuerung. Und ein durch die Geschichte pilgerndes Volk ist keine Armee unter einem Kommando und im gleichen Schritt und Tritt. Sondern es ist eine Weggemeinschaft und damit eine Gesprächsgemeinschaft, weil sie gemeinsam im Glauben den konkreten Weg durch die Geschichte sucht – hin zum ihr verheißenen Heil Gottes.
Beide Kirchenbilder – der Fels einerseits und das pilgernde Volk Gottes andererseits - haben die ihnen eigenen Versuchungen. Wer auf den Fels vertraut, sucht vielleicht eher Sicherheit als Befreiung und reduziert den Glauben auf feste Lebensregeln. Und wer meint, in der Geschichte unterwegs zu sein, läuft leicht den breiten Mittelweg mit allen anderen und betrachtet dabei Glauben als seine Privatsache. Gewiss mag das eine so schlimm scheinen wie das andere. Dennoch ist heute die auf der allgemeinen Menschenwürde begründete Freiheit die große Herausforderung, vor der wir bestehen müssen – als Europäer und als Christen.
Darum ist es auch nicht unwichtig, wie wir die Wirkung des christlichen Glaubens in der Gesellschaft des freiheitlichen Europas zutreffend mit einem Bild zu beschreiben suchen. Gern denken wir an das Bild vom Fundament, auf dem unsere europäischen Gesellschaften ruhen oder doch lange ruhten. Und ganz gewiss sagt dieses Bild auch etwas Wichtiges über das geschichtliche Werden Europas aus. Dennoch meine ich, die Herausforderung der Freiheit wird durch zwei andere Bilder besser erfasst – nämlich durch das der Quelle und das des Sauerteigs. Aus der Quelle strömt Wasser, ohne das es kein Leben gibt. Und der kleine Klumpen Sauerteig durchdringt das ganze Brot. Beide Bilder haben einen dynamischen Charakter, und beide enthalten eine Aufforderung an die Christen in Europa. Denn Wasser muss getrunken und an andere zum Trinken weitergegeben werden. Und wenn der Sauerteig nicht in das Mehl eingeknetet wird, wirkt er nicht. Es sind also dynamische Bilder, die nach christlicher Aktivität rufen.
Wie wichtig Bilder und Begriffe für das richtige Verständnis unserer Beziehung als Christen zu Europa sind, lässt sich an der Debatte um den Gottesbezug für den inzwischen leider gescheiterten ursprünglichen Verfassungsvertrag zeigen. Wohlgemerkt: Beim Gottesbezug geht es um unsere Verantwortung vor Gott. Der gelehrte Unsinn, dabei von einer Invocatio Dei zu reden, war irreführend. Denn eine Invocatio Dei ist eine Anrufung Gottes, um dessen Autorität für eine menschliche Verfassung in Anspruch zu nehmen. Ein Gottesbezug, wie wir ihn im deutschen Grundgesetz oder in der polnischen Verfassung haben, erinnert an die Autorität Gottes, die über jedem menschlichen Handeln steht und mithin auch über jede menschliche Verfassung hinausweist. Das ist etwas ganz Anderes. Ein Gottesbezug erinnert, wie es im deutschen Grundgesetz heißt, an unsere Verantwortung vor Gott und den Menschen und relativiert damit unser menschliches Tun als begrenzt und vorläufig. Ob wir tatsächlich unserer Verantwortung vor Gott und unseren Mitmenschen gerecht werden, das wissen wir nicht. Ein solcher Gottesbezug ist also kein Anspruch für das, was wir tun, sondern er setzt das, was wir tun gleichsam grundsätzlich an die zweite Stelle. Denn ein solcher Gottesbezug erinnert an menschliche Schuld und an geschichtliches Versagen. Gerade weil die Europäische Union aus der Katastrophe des II. Weltkrieges als Friedenswerk und neuer Anfang entstand, hätte ihr eine solche Erinnerung gut angestanden. Und es ist traurig, dass sie nicht zustande kam.
Dennoch wage ich zu sagen: Manche hat diese Niederlage wohl auch vor einer Illusion bewahrt. Denn aus so manchen Appellen und Forderungen konnte man heraushören, am Gottesbezug des zentralen europäischen Rechtsdokuments würde sich erweisen, ob Europa christlich ist oder nicht. So als wäre dies eine rechtliche Garantie für den christlichen Charakter des vereinigten Europas und ein Rechtstitel gegen Glaubensferne und Kirchenfeindlichkeit. Das wäre aber ein gefährlicher Irrtum. Zunächst einmal ist die Verantwortung vor Gott kein christliches Sondergut, sondern dieses Bekenntnis verbindet uns mit den anderen monotheistischen Religionen. Vor allem aber kann die Erinnerung daran immer nur Appellcharakter haben, kann also nur Thema und Argument für den öffentlichen Diskurs sein. Und auch nur so kann Christliches in einer freiheitlichen Gesellschaft zur Geltung kommen, denn diese Gesellschaft lebt als ständiger öffentlicher Diskurs. Und ob der christliche Glaube und ob darauf beruhende Lebensideale und Wertvorstellungen in Europa wirksam sind, hängt, soweit es menschliches Tun betrifft, allein vom Handeln der Christen ab. Rechtsnormen können dabei helfen oder stören; sie sind also nie gleichgültig, aber immer zweitrangig.
Bisher habe ich Europa und das Christentum in großer Selbstverständlichkeit zueinander in Beziehung gesetzt. Geschichtlich gesehen gibt es dafür gute Gründe. Denn es war das Christentum, welches Europa als einen eigenen Erdteil prägte und damit überhaupt erst konstituierte. Und es ist das Christentum, auf das bis heute eine große Zahl der kulturellen Gemeinsamkeiten Europas zurückgeht. Andererseits sind Christentum und Europa nicht identisch. Auch Christentum und westliche Welt sind nicht identisch. Das Evangelium richtet sich an alle Menschen, und damit der christliche Glaube prägende Gestalt annimmt, muss er sich bei den verschiedenen Völkern inkulturieren und also auch eine je andere kulturelle Gestalt annehmen. Wir müssen uns also hüten, das Christentum als einen spezifisch europäischen Besitz anzusehen, weil dies seiner universalen Sendung zuwiderläuft.
Überdies ist die europäische Christenheit vielgestaltig und umfasst neben der Katholischen Kirche die orthodoxen Kirchen und die Kirchen der Reformation. Und für alle diese Kirchen trifft zu, dass sie ihr konfessionelles Selbstverständnis wiederum, je nach Land, mit unterschiedlichen kulturellen, politischen und rechtlichen Traditionen verbinden. Man vergleiche nur einmal die Katholische Kirche in Spanien mit der Katholischen Kirche in England oder die evangelischen Kirchen Skandinaviens mit den evangelischen Minderheitskirchen im Süden Europas. Christliches in Europa sichtbar zu machen und zur Geltung zu bringen erfordert also nicht nur ökumenische Verständigung zwischen den Konfessionen, sondern auch Sensibilität für kulturelle und geschichtlich bedingte Unterschiede in den europäischen Ländern, nicht zuletzt im Umgang mit Staat und Politik.
Das ist nicht nur von großer praktischer Bedeutung. Es ist, wie ich als erstes betonen will, außerordentlich bedeutsam für die geistesgeschichtliche Einordnung unseres europäischen Engagements. In Deutschland wird im Zusammenhang mit Europa immer noch gern, wenn auch nicht ohne Widerspruch, der Begriff des christlichen Abendlandes verwendet. In der deutschen Debatte signalisiert dies oft ein sich eher konservativ verstehendes Europabild. In der europäischen Debatte sollten wir ganz unabhängig von unserem politischen Standort beachten, dass der Begriff des christlichen Abendlandes aus dem Kontext der deutschen Geistes- und Politikgeschichte stammt und daher mit all seinen Konnotationen kaum in andere europäische Sprachen adäquat übersetzt werden kann. Einerseits verstand er sich als Rückbesinnung auf ein als christlich angesehenes west- und mitteleuropäisches Mittelalter und mithin als Abwehr der französischen Revolution, insbesondere ihres antichristlichen Akzents, aber auch ihrer demokratischen Grundtendenz. Letzteres macht diesen Begriff heute allemal erklärungsbedürftig. Nicht minder gravierend ist jedoch seine Konzentration auf das lateinische Europa. Die europäische Orthodoxie wurde - jedenfalls ursprünglich - nicht mitgedacht. Das ist geschichtlich verständlich, scheint mir aber einer allzu frohgemuten Verwendung als geschichtlichen Impetus für die Europäische Union unserer Tage entgegen zu stehen. Ich hätte ohnehin erhebliche Schwierigkeiten, das rückwärtsgewandte und vergangenheitsselige Wort vom christlichen Abendland mit der Zukunftsorientierung einer christlichen Vision für Europa in Einklang zu bringen.
In der Suche nach einer solchen Zukunftsorientierung haben wir bisher allein den Blick auf die europäische Christenheit gerichtet, betont, dass diese nicht mit der universalen Sendung der christlichen Glaubensbotschaft identifiziert werden darf und dass die konfessionellen wie die kulturellen und politischen Unterschiede zwischen den europäischen Christen berücksichtigt werden müssen. Die Christen bestimmen aber nicht allein die Elemente europäischer Identität. Darum ist es notwendig, die anderen geistigen Kräfte zu betrachten, die ebenfalls das Gesicht und das Selbstverständnis Europas bestimmen.
Hier will ich zunächst daran erinnern, dass wir – und dies aus gutem Grund – meist von der jüdisch-christlichen Tradition sprechen, wenn es uns um die geistigen Quellen des heutigen Europas geht. Dieser Begriff steht freilich für eine vielschichtige Wirklichkeit. Denn einerseits lebt jüdische Geistigkeit im christlichen Erbe weiter, insbesondere in der Wertschätzung des Alten Testaments, und Papst Johannes Paul II. sprach mit Recht von den Juden als von unseren älteren Geschwistern. Andererseits gibt es daneben während der ganzen europäischen Geschichte eine Weiterführung der Tradition der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Diese war und ist nicht nur eigenständig, sondern sie musste sich über viele Jahrhunderte gegen einen mehr oder weniger aggressiven christlichen Antijudaismus behaupten und wurde schließlich durch einen dadurch begünstigten rassistischen Antisemitismus tödlich bedroht. Der Respekt, den wir mit dem Wort von der jüdisch-christlichen Tradition bezeugen wollen, darf diese Vergangenheit nicht verschleiern. Überdies hat der jüdische Beitrag zur europäischen Identität nicht nur religiösen Charakter. Vielmehr haben Juden eine ganz herausragende Rolle in der europäischen Kultur und Wissenschaft gespielt – eine Rolle die, auch wenn sie areligiös oder antireligiös eingestellt waren, meist ganz unverkennbar mit dem eigenen geschichtlichen Weg der Juden in Beziehung steht.
Ganz gewiss gehört zur Herausbildung der europäischen Identität auch die Geschichte der Beziehungen mit dem Islam, und dies sowohl als Konflikt wie als kulturell bereichernder Austausch. Das macht den Islam zwar nicht zu einem wesentlichen Element der geschichtlich entstandenen europäischen Identität. Doch für die europäische Gegenwart ist die wachsende Bedeutung der islamischen Glaubensgemeinschaft in Europa ein wichtiges Faktum. Und es gibt Anzeichen dafür, dass sich künftig ein europäischer Islam entwickeln könnte, also ein Islam, der sich der Aufklärung gestellt hat und sich zur gesellschaftlichen und gedanklichen Freiheit bekennt. Ein solcher Islam könnte ebenfalls zu einem Element der europäischen Identität werden.
Unabhängig davon waren es neben jüdischen Gelehrten insbesondere muslimische Gelehrte, die im Mittelalter dem westlichen Europa wieder eine Kenntnis von der zweiten bedeutsamen Quelle europäischer Identität vermittelten, nämlich von den geistigen Leistungen der griechischen und römischen Antike. Die Begegnung der christlichen Theologie mit der antiken Gedankenwelt und die sich daraus ergebene intellektuelle Auseinandersetzung prägte die europäische Identität in herausragendem Maße. Denn es war ja gerade die Konfrontation mit dem hohen intellektuellen Anspruch dieser vorchristlichen Geistigkeit, welche die christliche Theologie zur begrifflichen Klarheit und zur Argumentation herausforderte. Das führte wiederum zu der für Europa charakteristischen diskursiven Grundstruktur seines Denkens und Redens und legte den Grund für seine Bereitschaft zum dialogischen Verhalten. Auch hier ist die Eigenart der Orthodoxie im östlichen und südöstlichen Europa zu beachten. Denn für diese bewahrten vor allem die Schriften der Kirchenväter den Kontakt zum antiken Denken. Und im Respekt vor dieser theologischen Tradition wurde in der Orthodoxie gerade der gedanklichen Kontinuität überragende Bedeutung zugemessen. Dieser Unterschied im Umgang mit der Antike und der dadurch bedingten geistigen Erfahrung ist in der kulturellen Gegenwart Europas in West und Ost bis heute bemerkbar.
Schließlich ist Europa der Ort, an dem die Aufklärung entstand und zur Quelle des modernen Europas wie der westlichen Moderne überhaupt wurde. Die Aufklärung markiert jedoch nicht nur die wesentliche Grenzlinie zwischen der Kultur der westlichen Welt und den anderen Kulturkreisen. Auch in den verschiedenen Teilen Europas ist bis heute unübersehbar, wie tief und seit wann die Aufklärung zur dominierenden kulturellen Tendenz geworden ist. Für die Denker der Aufklärung war das antike Denken vor allem Impuls und Bestätigung, während sie in der christlichen Religion und in den christlichen Kirchen, vergröbernd gesagt, eher ihren Widerpart sahen. Die Dialektik der Geschichte, die bis heute unser europäisches Bewusstsein, auch dass der meisten Christen, prägt, besteht ja gerade in diesem provozierenden Gegensatz: Dass nämlich die Christenheit erst in harter Auseinandersetzung mit einer glaubensfernen und kirchenkritischen Aufklärung zur Erkenntnis und zur Wertschätzung der Würde und der Freiheit des Menschen geführt wurde, obwohl diese Wahrheiten nach unserer heutigen Überzeugung zum Kern der Frohen Botschaft und der Erlösungstat Jesu Christi gehören. Diese Konfliktgeschichte ist bis heute aktuell und brisant, wenn wir über europäische Identität nachdenken.
Darum ist es ja auch so wichtig, dass sich die Katholische Kirche nach einem schwierigen Weg der Auseinandersetzung mit der freiheitlichen und demokratischen Moderne im II. Vatikanischen Konzil klar zur gesellschaftlichen Freiheit und zur Anerkennung der Menschenrechte bekannt hat. Und dass Papst Benedikt XVI. schon seit langem die notwendige und potentiell fruchtbare Wechselwirkung von Glaube und Vernunft als sein Thema betrachtet. Dass ist schon deshalb bedeutsam, weil der Konflikt zwischen dem christlichen Denken und dem aufklärerischen Anspruch ja keineswegs zu Ende ist.
In diesem Konflikt sind es heute die Christen, welche mit Recht für sich den größeren Realismus in Anspruch nehmen können, wenn sie nämlich die jüdisch-christliche Tradition, die Antike und die Aufklärung als die Hauptquellen der heutigen europäischen Identität nennen, ohne das fortwirkende Konfliktpotential zwischen diesen zu übersehen. Dagegen ist es eine Verzerrung der Realität, wenn von einflussreichen antiklerikalen und atheistischen Kräften immer wieder der Versuch gemacht wird, Europa allein auf den Gedanken der Aufklärung zu gründen, darum den laizistischen Staat als Europa allein gemäß zu proklamieren und die Religion als eine angebliche Privatsache aus der Sphäre öffentlichen Denkens und Handelns auszuschließen. Mit der europäischen Wirklichkeit hat diese Verkürzung der gelebten europäischen Identität nichts zu tun. Religionskritische Aufklärung und antikirchlicher Laizismus sind nur ein Element in der vielfältigen und widersprüchlichen europäischen Gegenwart.
Die Kernaussage über die Identität des gegenwärtigen Europas lautet also, dass diese von unterschiedlichen geistigen Strömungen bestimmt wird, die zusammen wirken und sich auch wechselseitig befruchten, die aber gleichzeitig im Streit stehen und sich gegenseitig herausfordern. Das geistige Europa befindet sich also ständig in einer dialogischen Situation. Darum ist der Dialog ein Grundmerkmal der geistigen Identität Europas und ein wesentliches Bewegungsmoment seiner Geschichte. So konnte ja auch der bekannte Dialog zwischen Josef Ratzinger und Jürgen Habermas in der Katholischen Akademie München zu einem authentischen Bild für unsere Wirklichkeit werden – nicht nur für Christen.
Wie einflussreich das Christentum in diesem dynamischen Prozess ist, hängt allerdings allein von den Christen selbst ab, von einem starken und reflektierten Glauben, von einer vitalen und zugleich selbstbewussten Kirchlichkeit, von einem wachen und weiterführenden Interesse an den Themen der Zeit und nicht zuletzt von einem klugen und belastbaren Engagement in Kultur, Gesellschaft und Staat. Oder um es wieder in ein Bild zu bringen: Die christliche Vision für die Einheit Europas in seiner Vielfalt besteht darin, dass Christen in diesem europäischen Konzert ihren Part spielen – gekonnt, eindrucksvoll, originell, allezeit präsent und unüberhörbar, aber nicht schrill, nicht die anderen um jeden Preis übertönend, nicht ihre Melodie allzeit für die allein richtige haltend. Eine wirkliche Katastrophe wäre es, wenn sie erst gar nicht zum europäischen Orchester gehören wollten, sondern allein spielten - ungestört, aber auch unbemerkt in einem kleinen Kirchlein weitab vom Gang der Geschichte, wo sich nur die ganz Wahren und unerschütterlich Treuen versammeln und garantiert unter sich sind.
Oder um es begrifflich zu sagen, meine Vision ist eine europäische Christenheit, religiös vital, in ökumenischer Geschwisterlichkeit kooperierend, geistig wach, kulturell kreativ, aktiv in gesellschaftlicher Verantwortung. Meine Vision ist nicht ein christliches Europa. Denn dafür sehe ich in der voraussehbaren Zukunft keine Chance. Und ob vergangene Perioden europäischer Geschichte, die sich christlich verstanden, auch christlich waren, will ich dahingestellt lassen.
Dass wir in der Realität von einer starken europäischen Christenheit weit entfernt sind, ist leider offenkundig. Darum will ich abschließend darüber nachdenken, wie wir – als einen Pfeiler einer solchen europäischen Christenheit – zu einem europäischen Katholizismus kommen, genauer gesagt, zu einem Laienkatholizismus, der in der europäischen Gegenwart und Zukunft präsent ist und wirksam. Und der in der Ökumene ein gleichermaßen selbstbewusster und verständnisvoller Partner sein will. Zur Zeit fehlt uns noch viel zu einem solchen europäischen Laienkatholizismus. Erstens brauchen wir eine eingehendere Kenntnis und ein geschichtsbewusstes Verstehen des II. Vatikanischen Konzils, insbesondere seiner Konstitutionen „Lumen Gentium“ und „Gaudium et Spes“, damit wir besser begreifen, wie die Kirche in einer freiheitlichen Gesellschaft wirksam werden und diese mit prägen kann.
Im Westen sind diese Dokumente zu oft im Sinne eines individualistischen Zeitgeistes interpretiert worden, was wiederum Wasser auf die Mühlen jener war, welche in diesem bahnbrechenden kirchengeschichtlichen Ereignis nur eine Fortsetzung des I. Vatikanums sehen wollen. Im Osten nahmen nicht wenige die Situation der Unfreiheit nur allzu gern als Grund, sich von den Konzilsbeschlüssen für dispensiert zu halten. Um so eifriger reihen sie sich heute in die Reihe jener ein, für welche die Rezeption des Konzils abgeschlossen ist. Und sie berufen sich auch auf solche im Westen, die einem neuen Klerikalismus und einem antimodernistischen Integralismus das Wort reden. Noch ist in Europa das große Wort vom Volke Gottes nicht viel mehr als eine Vision der Kirche von morgen.
Dazu kommen die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West mit Staat und Gesellschaft. Im Westen war lange das Bestreben einflussreich, in einem grotesken Missverständnis der Einleitung von „Gaudium et Spes“, sich ganz in die Solidarität mit allem und jeden einzuordnen und darüber das christliche Proprium zu vergessen. Im Osten steht dagegen die bittere Erfahrung von Jahrzehnten, in denen Staat und Gesellschaft feindliche Räume waren, so dass man sich ganz auf den überschaubaren Raum lokaler kirchlicher Tätigkeit beschränkte. Im Effekt kommt es nicht selten auf das Gleiche heraus: In der Öffentlichkeit sind zu wenige selbstbewusste und eigenständige Christen wirksam und beispielgebend. Verstärkt wird dies im Westen durch die abnehmende Bereitschaft, sich längerfristig und zuverlässig in katholischen Verbänden zu engagieren, während im Osten die langjährige Inanspruchnahme gesellschaftlicher Tätigkeit durch die kommunistische Diktatur eine solche Bereitschaft immer noch behindert oder als Ausrede für fehlendes Engagement dient.
Dazu kommt, dass es schon vor 1990 im westlichen Europa keine Übereinstimmung im Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche gab. Stattdessen bestand und besteht hier ein Gegensatz zwischen dem französischen Konzept der Laizität, wie es 1906 in Frankreich gesetzgeberisch verankert wurde, und dem Konzept der Unabhängigkeit und Partnerschaft von Staat und Kirche, wie es im deutschen Verfassungsrecht formuliert ist und dort auf die Paulskirchenverfassung von 1849 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919 zurückgeht. In diesem Punkte gibt es auch keine gemeinsame Position der europäischen Katholiken, wie sich beim Streit um den Gottesbezug in der geplanten europäischen Verfassung zeigte. Denn in dieser Auseinandersetzung neigte die Mehrheit der französischen Katholiken, bis in den Episkopat hinein, eher dem Laizitätsprinzip zu. Deshalb wurde von ihnen ein Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag kaum unterstützt, wenn nicht sogar eindeutig abgelehnt.
Was hier zum Tragen kam, war die Erinnerung an den langen und unseligen Konflikt zwischen Kirche und Demokratie in Frankreich während des ganzen 19. Jahrhunderts, in dem Rom jeden Ansatz einer Neupositionierung der Kirche im Verhältnis zum erstarkenden demokratischen Gedanken verurteilte und unterdrückte. Und nicht zuletzt ist in Frankreich unvergessen, dass sich der rechtsgerichtete Teil des Katholizismus durch die Allianz mit dem Regime von Vichy politisch diskreditierte. Es ist diese Erfahrung bekanntlich nicht der einzige Beleg dafür, dass Ignoranz gegenüber geschichtlichen Entwicklungen und borniertes Festhalten an überlebten Herrschaftsmodellen langfristig der Kirche schweren Schaden zufügen. Während man in Frankreich heute über eine „positive Laizität“ nachdenkt, gewinnt das ursprüngliche laizistische Staatsmodell im europäischen Denken immer noch an Einfluss, weil es den dominierenden Tendenzen des Zeitgeistes, nämlich dem Individualismus und dem Relativismus, am stärksten entspricht. Auch die rigide Trennung von Staat und Kirche in den USA scheint dies zu unterstützen, obwohl diese geschichtlich eben nicht – wie in Frankreich - durch Religionsfeindschaft, sondern durch den Wunsch nach positiv verstandener Religionsfreiheit motiviert war. Überdies zeugt die amerikanische Gegenwart von der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion und widerlegt die im Westen lange akzeptierte These von der fortschreitenden Säkularisierung der Moderne. Westeuropa nimmt dies jedoch nur zögerlich wahr.
Rom versucht der komplizierten Lage durch eine prinzipielle Unterscheidung von positiver Laizität und negativem Laizismus gerecht zu werden. Ob Roms distanzierte Haltung gegenüber dem deutschen Modell von Unabhängigkeit und Partnerschaft im Verhältnis von Staat und Kirche etwas mit dem gut entwickelten Selbstbewusstsein des deutschen Laienkatholizismus zu tun hat, will ich hier unerörtert lassen. Fest scheint mir jedenfalls zu stehen, dass ein europäischer Laienkatholizismus erst dann zur politischen Wirkung kommen kann, wenn er sich in seiner Haltung zu Staat und Gesellschaft auf eine realistische Strategie verständigt. Zur Zeit, so ist jedenfalls mein Eindruck, ist vielen nicht einmal recht klar, dass dies dringend notwendig wäre.
Nicht zuletzt bedarf es für einen europäischen Laienkatholizismus wirkungsvoller Arbeits- und Ausdrucksformen. Dazu kommen wir jedoch nur durch gemeinsame Erfahrungen und auf dem Wege gleichberechtigter Verständigung. Seit 1997 bemühen sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die Semaines Sociales de France – zusammen mit katholischen Organisationen und Persönlichkeiten in vielen europäischen Ländern – um ein Netzwerk, das sich durch gemeinsame Tagungen und Erklärungen artikuliert. Daraus hat sich inzwischen die – immer noch lose strukturierte – Initiative ‚Christen für Europa’ herausgebildet, die erst kürzlich wieder mit einer umfangreichen Erklärung zu den Wahlen zum Europäischen Parlament hervorgetreten ist und dafür auch führende Abgeordnete aus den drei großen Fraktionen in Brüssel zu einem Gesprächspodium mit bemerkenswerter öffentlicher Beteiligung gewann. Ganz wichtig war schon im Jahre 2000 unser „Manifest für ein europäisches Bewusstsein“.
Auch für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist Europa immer wieder ein Thema. Verweisen möchte ich auf unsere Erklärungen „Für eine wertgebundene europäische Verfassung“ aus dem Jahre 2002, „Das europäische Sozialstaatsmodell – Richtschnur für Reformen“ aus dem Jahre 2006 und „Europas Identität – Der Beitrag der christlichen Kultur zu Europas Vielfalt und Einheit“ aus dem Jahr 2009.
Natürlich weiß ich, dass wir uns, gemessen an dem, was notwendig ist, immer noch auf den ersten Abschnitten eines langen Weges befinden. Das darf uns aber nicht entmutigen. Denn es gibt nicht wenige Beispiele und Vorbilder im europäischen Engagement.
Nicht zuletzt ist es die Arbeit der Ackermann-Gemeinde, welche beweist, dass man Brücken der Zusammenarbeit bauen kann, wenn man im Einsatz für europäische Verständigung einen langen Atem hat und nicht auf kurzfristige Erfolge setzt. Hätte sich die Ackermann-Gemeinde – zusammen mit ihren tschechischen Freunden – nicht vor langer Zeit auf eine Vision verpflichtet, die damals vielen eine Utopie schien, und hätte sie nicht mit Gottvertrauen und unermüdlicher Geduld über Jahre und Jahrzehnte beharrlich darauf hingewirkt, dann wäre ein Ereignis wie dieser Kongress in Pilsen nicht möglich geworden. Was einst undenkbar schien oder in weiter Ferne lag, ist heute Realität. Das kann und muss allen, die sich ihrer christlichen Verantwortung für die Zukunft Europas bewusst sind, ein Ansporn sein.
Europas Geschichte und Europas Gegenwart zeigen uns: Ohne das Christentum gäbe es Europa nicht. Darum ist es unsere Vision, dass auch in der Zukunft das Christentum in Europa lebt und dessen Denken und Handeln mit bestimmt. Denn dann lebt Europa als Einheit in der Vielfalt.
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken