Europa am Ende – Europa am Anfang. Acht Thesen

von Prof. Dr. Hans Maier im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Europa ist immer wieder totgesagt worden. Es hat sich aber auch immer wieder aus Krisen und Katastrophen mit neuer Kraft erhoben. Im Zeitalter des Nationalstaats pflegten sich nur die Unterlegenen auf Europa zu berufen. Heute hält man eher diejenigen für rückwärtsgewandt, die bedingungslos die Souveränität der Einzelstaaten verteidigen.

Europa am Ende – Europa am Anfang: Ich will Ihnen diesen Wandel der Perspektiven in acht Thesen zu verdeutlichen versuchen. Anschließend wird Herr Tintelott in die ZdK-Erklärung "Europas Identität – Der Beitrag der christlichen Kultur zu Europas Vielfalt und Einheit" einführen.

These 1: Europa erlebte im vorigen Jahrhundert seinen tiefsten Fall. Es hat sich im Weltkrieg 1914-1918 – der "Urkatastrophe des Jahrhunderts" – selbst zerstört.

Die Zeit von den großen Entdeckungen bis zum Ersten Weltkrieg stand im Zeichen einer kaum angefochtenen Dominanz der europäischen Kultur. Die Europäer übten in dieser Zeit eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft über weite Teile der Welt aus. Nahezu ein Drittel der Erdoberfläche war europäisches Kolonial- oder Einflussgebiet. Europa setzte die Standards – ob in Technik oder Administration, ob in Wirtschaft und Militärwesen oder in den Wissenschaften und den Künsten.

Doch im Ersten Weltkrieg zerbrach diese Vorrangstellung, und im Lauf des 20. Jahrhunderts schwand die Vorherrschaft Europas in der Welt fast gänzlich. Nach einem zweiten Weltkrieg war von der Glorie europäischer Kultur nur noch ein matter Glanz geblieben. Die Welt entzog sich endgültig der Vormundschaft des alten Kontinents.

These 2: Die 1917-1920 geschlossenen Friedensverträge (von Brest-Litowsk über Versailles bis Sèvres) führten zu keinem dauerhaften Frieden in Europa. Seit den zwanziger Jahren strebten autoritäre und totalitäre Regime eine Revision der nach dem Krieg gezogenen nationalstaatlichen Grenzen an.

Nach dem Ende der übernationalen Reiche (Österreich-Ungarn, Osmanenreich, Russisches Reich) vervielfältigten sich die Nationalitätenfragen. Das Selbstbestimmungsrecht wurde von den jeweiligen Siegern selektiv ausgelegt und angewendet. Der Völkerbund erwies sich – ohne amerikanische Beteiligung – als zu schwach zur Kanalisierung der politischen Dynamik Nachkriegseuropas. Eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung autoritärer und totalitärer Strömungen – die den alten Kontinent in ein "Europa der Diktaturen" zu verwandeln schienen – spielten die Verwundungen, die der Weltkrieg bei den Geschlagenen hinterlassen hatte.

These 3: Die Politik Hitlers und Stalins und der Zweite Weltkrieg zerstörten das verhängnisvoll geschwächte Europa gänzlich. Es wurde nach 1945 erstmals in seiner Geschichte geteilt und verlor für längere Zeit die Kraft zu einheitlichem politischem Handeln und Auftreten. Das Ende der europäischen Kolonialreiche führte weltweit zu einer Ent-Europäisierung der Kultur.

Der Ost-West-Konflikt zog eine Grenzlinie mitten durch Europa hindurch, während sich Asien und Afrika endgültig von der europäischen Vorherrschaft freimachten und die Kolonialreiche der Engländer, Franzosen, Holländer, Belgier und Portugiesen sich auflösten. Ost-, Mittel- und Südosteuropa lagen in dieser Zeit im toten Winkel der Geschichte. Der kalte Krieg reduzierte den Austausch zwischen dem Osten und dem Westen Europas auf ein Minimum.

Die europäische Kultur fand kaum eine Nachfolge in den pluralistischen Kulturen der Gegenwart. Keine dieser neuen oder neu belebten Kulturen war in einem so ausgeprägten Sinn transnational, wie es die europäische war. Der Mexikaner Octavio Paz zog 1985 bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in Frankfurt die skeptische Bilanz: "Am geschichtlichen Horizont dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts hat nichts den fruchtbaren Einfluss ersetzen können, den die europäische Kultur auf das Denken, die Sensibilität und die Imagination unserer besten Schriftsteller, Künstler und gesellschaftlichen und politischen Erneuerer ausgeübt hat."

These 4: Trotz der Schwächung und Teilung Europas nach 1945 war jedoch die geistig-politische Dynamik der Europäer nicht endgültig gebrochen. Im Westen kamen seit 1951 auf Initiative Robert Schumans, Konrad Adenauers und Alcide De Gasperis Prozesse wirtschaftlicher, später politischer Zusammenarbeit in Gang. Diese Entwicklung verband sich seit den siebziger Jahren mit den von Polen ausgehenden Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa, die 1989-1991 zum Sturz der kommunistischen Herrschaft und zur Auflösung der Sowjetunion führten.

1967 entstand aus der Fusion von Montanunion, EWG und EURATOM die Europäische Gemeinschaft (EG). Es folgte die Bildung einer Teil-Exekutive (Ministerrat, Kommission), eines Europäischen Gerichtshofes und eines – seit 1979 von den Völkern direkt gewählten – Parlaments. 1992 war der Europäische Binnenmarkt vollendet. 1993 lag mit dem hart umkämpften Vertrag von Maastricht ein erster verbindlicher Bauplan für ein "Europäisches Haus" vor. In den folgenden Jahren wurde die Wirtschafts- und Währungsunion vollendet, der Euro eingeführt. Die Europäische Gemeinschaft wurde zur Europäischen Union (EU). Seit 1991 steht die wirtschaftliche und politische Integration Ost-, Mittel- und Südosteuropas auf der europäischen Tagesordnung. Es geht um die Frage, ob der Osten Europas nach dem Fall der Mauern eine europäische – oder nur eine postkommunistische – Zukunft haben wird – eine Frage, die für Deutschland ein besonderes Gewicht hat.

These 5: Westeuropäische Integration und osteuropäische Freiheitsbewegungen haben die Spaltung Europas in zwei Blöcke beendet. Sie waren jedoch bisher nicht imstande, Europa seine alte Selb-ständigkeit und ein eigenes Gewicht in der heutigen Weltpolitik zurückzugeben. Ohne ein Minimum einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist jedoch die Europäische Union dazu verurteilt, ein politischer Torso zu bleiben.

Es war richtig, dass die Europäische Gemeinschaft auf die Vorgänge in Ost- und Mitteleuropa 1989-1991 nicht mit einer Verlangsamung, sondern mit einer Beschleunigung des Integrationstempos geantwortet hat. Das brachte freilich auch Probleme mit sich. Erstmals verbreitete sich nicht nur in England, sondern auch in den klassischen Europa-Nationen Frankreich und Deutschland eine gewisse Europa-Skepsis. Viele Menschen fühlten sich durch Gangart und Tempo überfordert. Der Ruf nach parlamentarischer und demokratischer Legitimation wurde stärker. Die Demokratie-Defizite einer vorwiegend technisch und administrativ vorangetriebenen Integration drangen stärker ins öffentliche Bewusstsein.

Darüber hinaus zeigte sich, dass Europa die durch die Auflösung des Ostblocks entstandenen Pro-bleme vor allem im ehemaligen Jugoslawien nicht aus eigener Kraft lösen konnte. Im Konflikt mit Serbien musste es die USA und die NATO um Hilfe angehen. Die "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) und die "Schnelle Eingreiftruppe" als ihr wichtigstes Instrument (geplant schon für 2003) befinden sich noch immer in der Entwicklung, und der "Hohe Vertreter", der beides repräsentieren soll (Javier Solana), ist einstweilen ein König ohne Land.

These 6: Europa braucht eine Konzeption, die es in die Lage versetzt, seine Egoismen zu überwinden. Ein Kontinent, der in einem langen und schmerzhaften Prozess die Prinzipien der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens erprobt hat, muss jetzt die Fähigkeit erweisen, diese Maximen auch für seine eigene staatliche und gesellschaftliche Ordnung unter neuen Bedingungen anzuwenden.

Die Realisierung dieser Aufgabe wird nicht nur den europäischen Völkern zugute kommen. Gewinnt Europa seine Dynamik, seine geistige Ausstrahlungskraft zurück, so wird es auch wieder, wie früher, auf die Welt einwirken. Erforderlich ist dazu freilich ein neues Gefühl europäischer Zusammengehörigkeit. Die Probleme der Menschen in allen Regionen Europas, auch den entfernten, sollten uns ähnlich nahe kommen wie die Probleme im eigenen Land. Von einer solchen Solidarität angesichts aktueller Herausforderungen – des Euroterrorismus, der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise, der Bedrohung durch Epidemien, der wachsenden Kluft zwischen arm und reich – sind wir freilich noch weit entfernt.

These 7: Sowohl die alten Weltreiche und Kolonialreiche wie auch die ideologischen Blöcke sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerbrochen. Zu beiden führt kein Weg zurück. Aber auch der Nationalstaat in seiner alten Form kann die gegenwärtigen Probleme, die weit über den Einzelstaat hinausreichen, nicht lösen. Er bedarf erheblicher Modifikationen.

Für heutige nationalstaatliche Optionen besonders in Mittel-, Ost- und Südosteuropa wird man daher fordern müssen, dass sowohl die Rückkehr zu Hegemonialreichen wie auch die gewaltsame Herstellung ethnischer Homogenität ausgeschlossen werden. Nötig sind vier "Öffnungen" des nationalstaatlichen Konzepts: Minderheitenschutz und Minderheitenvertretung; individuelle, soziale und kulturelle Menschenrechte; eine föderalistische Staatsorganisation, die das Eigenleben von Regionen und Minderheiten stärkt; und die Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit wie zur übernationalen Integration.

These 8: Die Kirche kann den Prozess nationaler wie europäischer Selbstbesinnung in zweifacher Weise unterstützen: allgemein durch den Hinweis auf die Bedeutung religiöser Anstöße beim Zusammenwachsen Europas – und speziell in der Gegenwart durch das Bemühen, Ost- und Westeuropa und ihre spezifischen religiös-kulturellen Traditionen nach jahrzehntelanger Trennung wieder zu vereinigen.

Es ist beschämend, dass es dem sich vereinigenden Europa bis heute schwerfällt, sich zu seinen religiösen Wurzeln zu bekennen. Dabei liegen sie überdeutlich zutage. Um 400 nach Christus erscheint der Europabegriff als Bezeichnung der nördlichen römischen Reichsteile am Mittelmeer im Gegensatz zu Asien und Afrika. In Frankreich umschreibt er den von christlichen Völkern bewohnten, durch die örtlichen Heiligen kenntlich gemachten nordalpinen Raum. Die Jafet-Historie (Gen 9 u. 10) wird seit dem 7. Jahrhundert auf Europa hin gedeutet: Ham erhielt von Noah Afrika, Sem Asien und Jafet Europa. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der europäischen Völker gründet in Erfahrungen einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen christlichen Erziehung. Klöster und Kathedralschulen schufen eine ganz Europa formende Bildungstradition. Die Universität als Vereinigung aller Wissenschaften, als "Hohe Schule" für intellektuelle Berufe erwuchs im christlichen Europa. Gebetsverbrüderungen, gemeinsame Feste, christlicher Kalender und christliche Zeitrechnung und nicht zuletzt die "leise integrierende" Wirkung der römischen Liturgie" (Gerd Tellenbach) – das alles ließ einen europäischen Kulturraum erstehen, der geprägt wurde von der Botschaft des Christentum, der sich immer wieder herausfordern ließ von antiken Überlieferungen der Poesie und Philosophie und der auf der Grundlage des Lateinischen (im Osten des Griechischen und Kirchenslawischen) eine Fülle nationaler Literaturen hervorbrachte. Noch die Ikonographie der modernen Europabewegung kannte daher Bilder aus christlichen Traditionen, sie sind noch gegenwärtig in den auf Richard Coudenhove-Kalergi, den Gründer der Paneuropa-Bewegung, zurückgehenden zwölf Sternen der Europaflagge (die sich wiederum an das Bild des himmlischen Jerusalem in der Apokalypse des Johannes anlehnen).

Aber es gibt auch konkrete Gegenwartsaufgaben für die Kirche, für uns alle, die wir als Katholiken in Europa leben. Vor zwanzig Jahren wurde nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wiedervereinigt. Vor fünf Jahren erlebte die EU ihre größte Erweiterung nach Osten hin: zu den 381 Millionen Menschen in 15 EU-Staaten kamen rund 74 Millionen Einwohner aus mittel-, ost- und südosteuropäischen Ländern (dazu aus Zypern und Malta) hinzu. Schon Jahre zuvor sprach Papst Johannes Paul II. von den "beiden Lungen", mit denen Europa künftig wieder atmen müsse – und er stellte Kyrill und Method als Patrone Europas neben Benedikt und Kolumban. Ist diese Erweiterung nach Osten schon im Westen angekommen? Erweitert sich unser Europabild? Bezieht das romanisch-germanische Europa die Slawen, die Finno-Ugrier, die Balkanvölker ein? Kommen die Kirchen in Ost und West einander näher? Machen wir Ernst mit der Einsicht, dass es nicht nur den lateinischen Westen, sondern auch den griechisch-slawischen Osten gibt (und auch, nebenbei gesagt, nicht nur römische, sondern auch griechische Katholiken, die Unierten)?

Hier ist ein breites Feld der Arbeit für die Zukunft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken kennt die Bedeutung dieser Aufgabe wohl – hat es doch schon vor Jahren durch Friedrich Kronenberg und Eugen Hillengass den Anstoß für die Gründung von "Renovabis" – der "Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa" – gegeben. Vor wenigen Tagen konnten wir wieder die Eröffnung der diesjährigen Aktion durch Erzbischof Zollitsch im Freiburger Münster sehen. Unser Mitglied Dietger Demuth bereitet im Augenblick den nächsten Renovabis-Kongress im Herbst in Freising vor. Im Jahr 2000 wurde der alte "Ost-West-Informationsdienst des Katholischen Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen" (so der umständliche frühere Titel) in die Zeitschrift "Ost-West. Europäische Perspektiven" umgewandelt. Soeben ist ein Heft mit dem Schwerpunkt "Zwanzig Jahre Wende – Gespräche mit Zeitzeugen" erschienen.

Arbeit gibt es also genug. Auch im Hinblick auf die kommende Europawahl sollten wir die zentrale, langdauernde Aufgabe bedenken, die noch vor uns liegt: Osteuropa wieder in die gesamteuropäische geistige Ökumene, den kulturellen und religiösen Austausch einzufügen (also die beiden Lungenflügel, von denen Johannes Paul II. sprach, wieder zu beleben!) – und zugleich zu fragen, wie sich das spezifische osteuropäische Erbe mit den in der westeuropäischen Integration gesammelten Erfahrungen verbinden kann. Das ist eine große Aufgabe. Sie erfordert Fantasie und Mut von allen. Aber Europa wird, so hoffe ich, für uns Katholiken immer ein großes Anliegen, eine Herzenssache bleiben.

Prof. Dr. Hans Maier

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