Weitungen – Optionen – Chancen: Pastoral lernend neu gründen

Rede von Prof. Dr. Dr. Michael N. Ebertz im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

UNKORRIGIERTES REDEMANUSKRIPT
Es gilt das gesprochene Wort

1. Weitungen
Das II. Vatikanum hat den Katholikinnen und Katholiken viele Weitungen gebracht, Weitungen im Verhältnis zu den anderen Religionen, insbesondere zum Judentum; Weitungen im Verhältnis zu den anderen christlichen Konfessionen – Stichwort Ökumene; Weitungen im Verhältnis zu den Mächten dieser Welt – Stichwort Religionsfreiheit; und Weitungen in der Verhältnisbestimmung zu den Zeitgenossen überhaupt: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi" (Gaudium et spes 1).

Diese Weitungsoperationen haben die Konzilsväter vorgenommen, obwohl sie mit dramatischen – aber nicht ängstlichen – Worten darauf hingewiesen haben, dass "die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte" steht, "in der tiefgreifende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen" (Gaudium et spes 4). Das Konzil ging davon aus, dass sich "die menschliche Gesellschaft (...) in dieser unserer Zeit auf dem Weg zu einer neuen Ordnung befindet" (Christus dominus 3), und spricht von einem "Wandel der Lebensbedingungen", der "mit einem umfassenden Wandel der Wirklichkeit" zusammenhängt (Gaudium et spes 5). Zugleich werden in diesem Umbruch "in Jahrhunderten gewordene Denk- und Lebensformen der Gesellschaft völlig um(gestaltet)" (Gaudium et spes 6). Der Gang der Geschichte selbst erfahre "eine so rasche Beschleunigung, dass der Einzelne ihm schon kaum mehr zu folgen vermag" (Gaudium et spes 5): "So kann man schon von einer wirklichen sozialen und kulturellen Umgestaltung sprechen, die sich auch auf das religiöse Leben auswirkt" (Gaudium et spes 4). Diese Aussagen haben nicht nur eine hohe diagnostische, sondern geradezu eine prognostische Kraft, die seitdem durch viele soziologische und philosophische Zeitdiagnosen bestätigt wurden: So hat z. B. Medard Kehl darauf hingewiesen, dass im Zuge der "Auflösung der relativ geschlossenen konfessionellen Milieus seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jh.s wohl zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums nach der Konstantinischen Wende für die Menschen aller Altersstufen, aller Bildungs- und sozialen Stufen der christliche Glaube als eine Sache der persönlichen Freiheit ganz real erlebbar" werde: "Man muss nicht mehr kirchlich-religiös sein, sei es unter dem Druck der jeweiligen Herrscher oder der Nationalität oder der Tradition oder der Sippe oder des gesellschaftlichen Milieus". Zugehörigkeit zur Kirche und Teilnahme an ihren Kommunikations- und Handlungszusammenhängen sind nicht mehr Voraussetzung, um an anderen Funktionssystemen teilhaben zu können. Im Blick auf den Klerus gilt sogar, dass seine spezielle kirchliche Rolle es kirchlicherseits zunehmend ausschließt, in anderen Funktionssystemen – insbesondere in der Partei- und Staatspolitik – eine aktive Leistungsrolle zu übernehmen.

2. Verengungen
Mit der damit nur angedeuteten Verschiebung der Kräfte in der Grundarchitektur des Kirchenverhältnisses gehen konkrete Phänomene einher, die als Kirchenkrise gedeutet werden. So spricht man – übrigens schon seit Jahrzehnten – z. B. von Mitgliederbindungskrise, Glaubenskrise, Glaubens-Tradierungskrise, Strukturkrise, Finanzkrise, Personalkrise und Steuerungskrise, häufig begleitet von einer ängstlichen und resignativen Dauerlamentatio, welche die multiple Krise noch verschärft.

Allen Kirchenevents der vergangenen Jahre zum Trotz müssen die Kirchen seit Jahren und Jahrzehnten schon eine erhebliche Einschränkung der Reichweite ihres Einflusses erleben, zeigt sich doch, wie sich nicht nur die Deutung des Kosmos, die menschliche Kommunität und Kultur der kirchlichen Steuerung entziehen, sondern wie auch der menschliche Körper zunehmend dem kirchlichen Zugriff entgleitet. Die Entmächtigung der Kirche vollzog sich laut Rainer Bucher "vom Kosmos zur Kommunität und schließlich zum Körper. Die kosmisch codierte Selbstverständlichkeit des Christentums wird zuerst in Frage gestellt von Männern wie Galilei, Kopernikus und Kepler, der kirchliche Zugriff auf die (nicht-kirchliche) Kommunität ging mit dem bürgerlichen Gesellschaftsprojekt und somit im 19. Jahrhundert verloren ... Zuletzt aber versuchten die Kirchen, etwa über ihre Moralverkündigung, noch Einfluss auf den Körper zu nehmen, auf seine Praktiken und Techniken."

Aber haben die Kirchen mit dem Verlust der Kontrolle über die vier Ks – Kosmos, Kommunität, Kultur und Körper – nicht sogar die Macht über die Seelen verloren, den eigentlichen Kern ihrer "Pastoralmacht", um einen Ausdruck Michel Foucaults zu gebrauchen? Foucault umschreibt den Ausdruck 'Pastoralmacht' als eine Form von Macht, "deren Endziel es ist, individuelles Seelenheil in einer anderen Welt zu sichern". Die alten eschatologischen Steuerungskräfte der Kirche sind ja ebenfalls stumpf geworden, an Höllen und Fegefeuer glauben selbst viele Prediger nicht mehr, wenn ihnen wie der Mehrheit der Kirchenmitglieder nicht überhaupt ein "Standort im Absoluten" (Karl Jaspers) abhanden gekommen ist. Ist nicht "der Ausfall des Glaubens an eine jenseitige Bestimmung des Menschen und an eine dieser Bestimmung dienende Verhaltensweise zu den Dingen und Angelegenheiten, die sich im bloßen Raum und bloßer Zeit erschöpfen – kurz der Ausfall der Distanz zu den Dingen dieser Welt, [...] die stille, aber in ihren Folgen unermessliche Revolution unserer Zeit"? Pastoralmacht, so Foucault weiter, "ist nicht bloß eine Form von Macht, die befiehlt; sie muss auch bereit sein, sich für das Leben und Heil der Herde zu opfern". Sie tendiert dazu, "sich nicht nur um die Gemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne Individuum während seines ganzes Lebens" zu kümmern. Deshalb ist diese Form der Macht nicht auszuüben, "ohne zu wissen, was in den Köpfen der Leute vor sich geht, ohne ihre Seelen zu erforschen, ohne sie zu veranlassen, ihre innersten Geheimnisse zu offenbaren. Sie impliziert eine Kenntnis des Gewissens und eine Fähigkeit, es zu steuern". Welcher 'Pastor' in Deutschland hätte denn heute – angesichts des chronischen Kollaps der Ohrenbeichte und der Unwahrscheinlichkeit, seine Gemeindemitglieder im Alltag oder selbst sonntags anzutreffen – überhaupt noch Einsichten in fremde Gewissen und Fähigkeiten, sie zu steuern?

Die Kirchen scheinen 'am Ende ihres Lateins' angelangt, das Leben umfassend zu deuten, zu kontrollieren und die Lebensführung ihrer Mitglieder nachhaltig zu beeinflussen. Man mag dies beklagen oder nicht. Je mehr den Kirchen der Rückhalt am Kosmos, an der Kommunität und Kultur, an den menschlichen Körpern und den sozialen Kontakten fehlt, desto mehr stehen sie vor der Frage, wie sie mit dieser Ohnmacht umgehen sollen.

3. Optionen
Der Eindruck drängt sich auf, dass kaum Konsens besteht, wie auf diese 'Kirchenkrise' zu reagieren und der Kirchenkurs zu bestimmen sei. Allerdings lassen sich in dieser Vielstimmigkeit, wie ich meine, vier Optionen erkennen.
A. Die Option der institutionellen Stabilisierung
B. Die Option der pragmatischen Selbstregulierung
C. Die Option der elitären Minorisierung
D. Die Option des Umlernens

Idealtypisch – und deshalb zugespitzt – lassen sich diese Optionen wie folgt charakterisieren:

Zu A: Die Option der institutionellen Stabilisierung
Überzeugt von der Richtigkeit der alten Lösungen (nach dem Leitsatz: 'Das haben wir immer so gemacht'), lässt diese Option alles beim Alten, mit leichten Korrekturen an der Peripherie. Krisen und Schwierigkeiten werden ausgesessen, da sie als vorübergehend definiert werden. Auf äußeres und inneres Wachstum oder Mission wird – zumindest vorübergehend – verzichtet. Wenn man nur fest an seinen traditionellen Prinzipien und Strukturen festhält, werden schon bessere Zeiten kommen. Die Pforten der Hölle werden die Kirche ja sowieso nicht überwältigen. Zu dieser selbstgenügsamen Option der Stabilisierung gehört auch, nach wie vor auf die religionsrechtlichen Strukturen in der Kooperation mit dem Staat zu vertrauen, das rückläufige Kirchensteueraufkommen durch die Erschließung neuer finanzieller Einnahmequellen zu kompensieren und die geschwächte Glaubensbindung der Kirchenmitglieder durch den Ausbau neuer Abhängigkeiten zu ersetzen. An die Stelle von Gläubigen einer Überzeugungsgemeinschaft treten dann Angestellte der Kirche als Arbeitsorganisation, die – zusammen mit ihren Angehörigen und mit einer verzweigten Zuliefererindustrie – ökonomisch auf Kirche angewiesen und an ihrem Überleben interessiert sind. An die Stelle von Glaubensbindung tritt dann rechtlich abgesicherte sozioökonomische Bindung. Diese Option wird von einem ekklesiozentrischen Institutionalismus geleitet.

Dieser Option der Stabilisierung entspricht dann die Betonung des Unterscheidenden zwischen den Religionen und Konfessionen, wenn nicht die Abwertung anderer religiöser Traditionen und eine Tendenz zur Jahrhunderte lang gepflegten dogmatischen Intoleranz im Zuge des Anspruchs, in der kirchlichen Institution die allein wahre Religion zu vertreten und dem Irrtum kein Recht zu lassen. Diese Option setzt – auch innerchristlich – auf den Konkurrenzmechanismus der Monopolisierung des religiösen Feldes – sogar im Weltmaßstab. Sie vertraut auch in der Konkurrenz mit anderen Religionsgemeinschaften auf die eigene institutionelle Überlegenheit und die Kontrolle des Staates.

Zu B: Die Option der pragmatischen Selbstregulierung
Aufgeschlossen für Veränderungen in der Umwelt der Kirche wird versucht, es allen recht zu machen und jede Chance zu nutzen, die sich ad hoc bietet. Der gesellschaftliche Kontext wird als unabänderlich hingenommen, man muss sich – mehr oder weniger ohnmächtig – darauf einstellen, zugleich aber auch der innerkirchlich ausgeprägten defensiven Routine und Widerstandskultur gegen Veränderungen und Neuerungen Rechnung tragen. Diese Position des 'Durchwurstelns' kann bis hin zu einem theologisch unreflektierten Umbau bisheriger pastoraler Strukturen und dahin reichen, dass von Haupt- oder Ehrenamtlichen Gottesdienste geleitet und Sakramente gespendet werden, was nicht notwendig nach der offiziellen kirchlichen Ordnung stattfindet. Die damit einhergehende Pragmatik leitet auch die Kontakte mit anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften, deren Andersheit und Fremdheit allerdings eher als störend und lästig empfunden wird.

Zu C: Die Option der elitären Minorisierung
Die Kirche erkennt, dass sie keine gesellschaftsbeherrschende Kraft mehr sein kann, und reflektiert aus dieser Erfahrung auf ihren eigenen christozentrischen historischen Ursprung. Mit ihren reduzierten Ressourcen setzt sie Prioritäten, konzentriert ihre Aufgaben und Programme auf 'das Wesentliche', bündelt die Kräfte und akzentuiert, dass sie für diese Welt, aber nicht von dieser Welt ist: weder in zeitlicher noch in sozialer oder sachlich-normativer Hinsicht. Sie schwimmt deshalb 'gegen den Strom', gibt tendenziell alle historisch gewachsenen staatlichen oder staatsähnlichen Sicherungsmechanismen auf, plädiert für eine 'inhaltliche Aufrüstung' und 'strukturelle Abrüstung' (angefangen von der Kirchensteuer bis hin zu den kirchenbürokratischen Strukturen), und plädiert für eine Egalisierung der Besoldung aller kirchlichen Mitarbeiter auf durchschnittliches Einkommensniveau. In dieser auch kulturpessimistisch gedeuteten Abkehr von den Irrwegen einer Kultur der hedonistischen Selbsterlösung lässt sie sich auch in ihrem Inneren 'läutern', um der Verführung, für fremde Zwecke instrumentalisiert und verwandelt zu werden, zu widerstehen und um ihre wahre Identität als "Erwählte in der Fremde" wieder zu gewinnen. Es geht darum, die Kirche vor falschen Strukturen der 'Überfremdung' und des 'Überbaus' zu befreien. "Die Kirche ist ihrem Wesen nach", so Hubert Windisch immer in der Fremde und in der unterlegenen Minderheit. Fremde sind die Christen jedoch nicht, weil sie die Welt verstoßen hätte, so dass sie nun deshalb die Welt böse nennen würden. Auch nicht, weil sie sich von einer Welt, die sie verachten, gelöst hätten, sondern weil sie als Erwählte der Welt entnommen sind". Aus diesem Erwählungsbewusstsein der "kleinen Gemeinschaft der Glaubenden" und der Haltung glaubensfester leidenschaftlicher Christen heraus schöpft diese Position das Hoffnungspotential, missionarisch attraktiv für die gottentleerte Welt und für andere Konfessionen und Religionsgemeinschaften zu werden. Aus dieser Haltung heraus, die jeden Anflug an Selbstrelativierung und Indifferenz abwehrt, kann sie sich auch auf die friedlich-gelassene Begegnung mit anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften einlassen.

Zu D: Die Option des Umlernens
Die Kirche ist aufgeschlossen für Veränderungen in ihrer Umwelt, erkennt unausweichliche Anpassungszwänge, versucht diese aber in Entwicklungsprozesse (im Hinblick auf sich selbst, aber auch bezüglich ihrer Umwelt) zu transformieren, um den kirchlichen und nichtkirchlichen Zeitgenossen sinnstiftend und 'heilsdienlich' zu sein. Kontextveränderungen werden dann nicht nur ohnmächtig als Zwang zur Anpassung oder zum Rückzug hingenommen, sondern als Lern- und Veränderungschance begriffen. Zu dieser Option gehören der Verzicht auf Wiederherstellung des alten geistlichen Herrschaftsanspruchs und damit ein konstruktiver Umgang mit der wachsenden Erfahrung religiöser Ohnmacht. Es gibt, so Rainer Bucher, "eine kreative und destruktive Ohnmacht. Die destruktive sucht nach Resten der verlorenen Macht und verliert darüber alle Autorität. Die kreative sucht in der eigenen Machtlosigkeit die verborgene Macht der Chance zur Begegnung auf neuer Basis". Hierzu gehört die Bereitschaft, auch mit Hilfe der Sozialwissenschaften die soziokulturellen Realitäten differenziert wahrzunehmen und sich differenziert z. B. dadurch auf sie einzustellen, neue Formen der Zielgruppenansprache und der kirchlichen Präsenz zu entwickeln. Hierzu gehört aber auch die ökumenische Kooperation zwischen den christlichen Kirchen und die Bereitschaft, im Dialog mit anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften auch die eigene Tradition neu zu entdecken.

4. Positionierung
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich den ersten drei genannten Position weniger stark zuneige, obwohl ich weiß, dass der niederländische Soziologe Leo Laeyendecker gerade der katholischen Kirche von heute eine "beschränkte Lernfähigkeit" vorgehalten hat. Er führt diese Diagnose auf festgeschrieben Rollenstandardisierungen, auf eine selektive, nämlich konformistische Rekrutierung des Personals, auf seine verstärkte Disziplinierung, auf ein gesteigerte Zentralisierung kirchlicher Entscheidungsprozesse, auf eine Sakralisierung kirchlicher Organisationsstrukturen, auf eine fehlende Kultur der Kritik und auf einen organisationskulturell angelegten Mangel an Offenheit zur "Kombination […] von festzuhaltendem und zu änderndem Wissen" zurück. Letztlich mündet die Analyse Laeyendeckers in der fehlenden Anpassungsfähigkeit der Kirche an die moderne Gesellschaft, die völlig neuartige Herausforderungen an ihre strukturelle Tradition stellen. In stärker organisationssoziologischer Sicht ließe sie sich auch als Verlust der notwendigen Balance zwischen einer – nur mangelhaft ausdifferenzierten – Mitgliedschaftslogik einerseits und einer – höchst umstrittenen – Ursprungs- und Traditionslogik andererseits beschreiben. Laeyendecker gibt selbst zu bedenken, dass man ja wohl "nicht mit vollem Ernst behaupten" können, "eine kirchliche Organisation mit einem Lebensalter von 2000 Jahren besäße keine Lernfähigkeit. Ihre heutige Form ist ja gerade das Resultat eines Lernprozesses, der in vielerlei Hinsicht auch außerordentlich gut gelungen ist. Aber das Problem liegt anderswo. Es bezieht sich auf ein Paradox. Der Erfolg dieses gelungenen Prozesses steht einem neuen und radikalen Lernen im Wege. Die alten Methoden genügen den veränderten Umständen nicht länger. Die Kirche ist also das Opfer ihres Erfolgs Sie leidet an 'trained incapacity' (Veblen). Ihre Lernfähigkeit ist zwar nicht völlig verschwunden, aber doch beträchtlich eingeschränkt worden".

Nimmt man die einleitende Aussagen des II. Vatikanischen Konzils von einer 'tiefgreifenden und wirklichen sozialen und kulturellen Umgestaltung' ernst, dann wird man zugleich an eine vor 50 Jahren (1957) gemachte Aussage Helmut Schelskys erinnert, man habe die Lage des Christentums in der modernen Gesellschaft oft mit der Formel zu begreifen versucht, "dass das Christentum sich heute einem neuen Heidentum in der modernen Welt ... gegenübersähe; diese Parallele übersieht aber", wie Helmut Schelsky bemerkte, "dass heute mit dem Christentum keine neue Wahrheit in eine alte Welt kommt, sondern sich eine alte Wahrheit gegenüber einer neuen Welt behaupten muss." Und daraus erwachsen Christentum und Kirchen, so Schelsky weiter, die "Aufgabe, ihre ewige Wahrheit in veränderten, weltlich autonom gewordenen Sozialstrukturen neu zu gründen" und "eine neue soziale Gestaltung der Heilswahrheit zu finden".

Ich glaube, dass wir Christen tatsächlich vor einer solchen Neugründungsaufgabe stehen, vor einem gewaltigen Refounding-Prozess der Pastoral. Er kann bei den oben genannten Weitungsoperationen des II. Vatikanischen Konzils aufbauen. Dazu ist noch nachzutragen, dass dieses Konzil auch die Sozialformen der Kirche geweitet hat. Die Kirche als vom Hl. Geist geleitetes Volk Gottes verwirklicht sich nicht nur in der Sozialgestalt der Gemeinschaft, sondern auch der Dienstleistung: "Gemeinschaft und der Dienstleistung". Wörtlich heißt es in Lumen gentium 4: Der Geist "führt die Kirche in alle Wahrheit ein (vgl. Jo 16,13), eint sie in Gemeinschaft und Dienstleistung, bereitet und lenkt sie durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen Gaben und schmückt sie mit seinen Früchten (vgl. Eph 4,11-12; 1 Kor 12,4; Gal 5,22). Auch wenn sie unterschiedlichen Logiken folgen, sind Communio und Ministratio nicht gegeneinander auszuspielen, haben auch isoliert keine Berechtigung, sind sie doch im "Geist des Lebens" (LG 4), der der Kirche auch zur Verjüngung verhilft, vereint.

Das II. Vatikanum hat auch eine Weitung des Verständnisses von 'Pastoral' gebracht. Pastoral bezieht sich nicht allein auf das Handeln der Kleriker an den Laien. Und schon gar nicht bezieht sich 'Pastoral' allein auf ihre 'Seele'. ‚Pastoral' ist nicht einfach mit 'Seelsorge' zu übersetzen. 'Pastoral' wird vielmehr als das evangeliumsgemäße Handeln aller Getauften – ob haupt- oder ehrenamtlich – zur "Rettung der menschlichen Person" und zum "rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft" (Gaudium et spes 3.1) bestimmt. 'Pastoral' ist somit immer dreifaltig: Evangeliumssorge, Seelsorge und Gesellschaftssorge.

5. Chancen
Eine Neugründung der Pastoral hätte somit die Dimensionen der Evangeliumssorge, Seelsorge und Gesellschaftssorge und die Sozialformen sowohl der Gemeinschaft als auch der Dienstleistung in den Blick zu nehmen. Machen wir uns nichts vor, reden wir uns die Chancen einer lernenden Pastoral nicht schlecht. Allein schon folgende Tatbestände sollten uns zu denken geben:
1. Kirche ist besser als ihr Ruf.
2. Die meisten Kirchenmitglieder wollen bleiben und nicht austreten.
3. Immer weniger Katholikinnen und Katholiken in Deutschland geben an, nie einen Gottesdienst zu besuchen.
4. Viele suchen den Kontakt zur Kirche in den Lebenswenden, Lebensübergängen und kritischen Lebensereignissen – in den individuellen und kollektiven Unterbrechungen des Lebens.
5. Der Verweisungszusammenhang von Sterben, Tod, Gott und Kirche ist immer noch eng.
6. Kirche hat Ressourcen in den Charismen ihrer ehrenamtlich Engagierten.
7. Dem Pfarrer und anderen kirchlichen Berufen wird eine hohe Wertschätzung entgegengebracht.
8. Kirche hat Chancen in ihren internen Konflikten. Sie sind das Gegenteil von Gleichgültigkeit und Voraussetzung für – verbindende – Kommunikation.
9. Kirche hat Anschlussmöglichkeiten auch in den so genannten 'fernstehenden' Milieus.
10. Kirche hat vielfältige Chancen in ihrer Diakonie und Caritas.
11. Kirche hat Chancen in einer stärker arbeitsteiligen Pastoral und Ökumene.
12. Kirche hat Chancen im Reich-Gottes-Bündnis mit denjenigen, die nicht im kirchlichen Auftrag, aber in inhaltlicher Verbindung mit dem Auftrag der Kirche stehen.
13. Öffentliche Stellungnahmen der Kirchen werden bevölkerungsmehrheitlich insbesondere geschätzt zu Problemzonen des medizinisch-technischen Bereichs (Sterbehilfe, Abtreibung, Embryonen-Forschung), zu humanen Folgeproblemen wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen (Zusammenleben mit Ausländern, Arbeitslosigkeit) und zu Fragen der universalen und partikularen Menschenwürde und Solidarität (Menschenrechte, Krieg und Frieden, Ehe und Familie).
14. Christliches ist auch außerhalb von kirchlicher Organisationswirklichkeit präsent.
15. Kirche hat Lern-Chancen, wenn sie sich in der Begegnung mit dem Fremden – fremden Milieus, fremden Konfessions- und Religionsgemeinschaften – anregen und beschenken lässt.

Prof. Dr. Dr. Michael N. Ebertz

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