Einführung in den Erklärungstext "Für eine Pastoral der Weite"

Rede von Hans-Georg Hunstig im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

UNKORRIGIERTES REDEMANUSKRIPT
Es gilt das gesprochene Wort


"… als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt! Denn
jeder hörte sie in seiner Sprache reden ... Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: ... Wieso kann jeder sie in seiner Sprache hören: Fremde und Einheimische, Traditionsverwurzelte und Konservative, Bewahrende und Bewegende, Menschen, die die Kirche als Kontrastbewegung oder als Einrichtung für andere verstehen, Moderne Performer und Experimentalisten, Gott intensiv Suchende und Menschen, denen Gott wenig bedeutet, Personen, die voll im Arbeitsleben stehen, und die, die sich im Beruf nicht einbringen können, wir alle hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden."

Nun, Sie haben vor zehn Tagen bei der Lesung aus der Apostelgeschichte (Apg 2,1-11) richtig zugehört und nicht diese etwas aktualisierte Übertragung gehört. Im Original geht es um die Parther, Meder und Elamiter, um die Menschen aus Phrygien und Pamphylien und wie sie alle hießen. Aber geht es im Pfingstereignis heute nicht genau darum, dass alle angeblich noch so weit von der Kirche weg oder in der Kirche Stehenden die Botschaft von Gottes großen Taten verstehen können müssten? Die Botschaft von Pfingsten will die Sprachlosigkeit überwinden und alle Menschen ansprechen, nicht nur aus unterschiedlichen Landstrichen. Insoweit ist das Pfingstereignis der eigentliche Hintergrund für den Antrag, dass sich die Vollversammlung des ZdK heute "Für eine Pastoral der Weite" aussprechen soll, wozu ich einige Erläuterungen geben möchte. Die Feier des Pfingstfestes hat mich dazu besonders inspiriert.

Der Arbeitskreis "Pastorale Grundfragen" im ZdK hat sich seit bald drei Jahren intensiv überlegt, welchen Beitrag wir als ZdK für eine differenzierte Pastoral in unserem Land leisten können, die sich an den unterschiedlichen Lebenswelten und Milieus der Menschen orientiert. Das Ergebnis unserer Arbeit ist die Publikation "Hinaus ins Weite. Gehversuche einer milieusensiblen Kirche", die passend zum heute beginnenden Katholikentag erschienen ist und auch der Vollversammlung vorliegt. Wir hoffen, mit diesem Buch einen Stein ins Wasser werfen zu können, der Kreise zieht. Es enthält sozialwissenschaftliche, biblische und pastoraltheologische Zugänge und Schritte, bei denen Frauen und Männer unserer Kirche in der Praxis Feuer gefangen haben.
Ich nenne Ihnen daraus exemplarisch, was mir für den Hintergrund unseres heutigen Antrages wichtig ist.
- Wir finden in einem Beitrag des Buches die Erkenntnis, dass Jesus durch die Auswahl seiner Jünger "Vertreter von denkbar gegensätzlichen Lebensentwürfen und Gesellschaftsmodellen" vereint und seine Verkündigung als milieusensibel zu charakterisieren ist sowie dass der Apostel Paulus "unverkennbar strategisch" vorgegangen ist und mit seiner Missionierung "milieuübergreifend möglichst viele Menschen" erreichen wollte (vgl. Prof. Marlis Gielen).
- Ein Resümee aus der Arbeit mit der Milieustudie lautet: "Viele, wirklich viele, sind einfach motivierter und inspirierter als vorher. Sie haben Lust auf eine Kirche, die Lust hat auf Menschen, die anders sind" (vgl. Matthias Sellmann).
- "Pastoral ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen von heute ist zum Scheitern verurteilt" (vgl. Prof. Erich Garhammer).
- Es ist erfreulich zu sehen, wie unterschiedlich die Frauen und Männer in den Praxisbeispielen von der Idee getrieben sind, "den Menschen gerechter zu werden", sich zu fragen "wie die Menschen ticken" und dann kreativ darauf zu reagieren. Es sind echte "Gehversuche einer milieusensiblen Kirche" getreu dem passenden Satz "Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler."
Wichtige Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis hat darüber hinaus Prof. Michael N. Ebertz, der Mitglied unseres AK ist, soeben hier in die Vollversammlung eingebracht,

Nun, das Buch ist das eine. Wir möchten aber auch unsere Erkenntnisse kirchenpolitisch in einer Positionsbestimmung des ZdK insgesamt umsetzen, die wir als Gesprächsanstoß für die Verantwortlichen auf allen Ebenen unserer Kirche verstehen. Wir haben dazu als Arbeitskreis eine erste Vorlage erstellt. Diese wurde nach der Diskussion in Präsidium und Hauptausschuss noch durch eine Redaktionsgruppe weiterentwickelt und liegt Ihnen heute mit Zustimmung des Präsidiums zur Abstimmung vor. Auf folgende wesentliche Gesichtspunkte möchte ich daraus aufmerksam machen:

In Sorge und Hoffnung greifen wir im ersten Abschnitt die aktuelle gesellschaftliche und kirchliche Situation in Deutschland auf, wie sie sich nach unseren Erfahrungen darstellt. Wir stellen fest, dass es für uns als Kirche zunehmend schwierig wird, die Menschen unserer Zeit
zu erreichen, ja dass die schleichende Exkulturation, also der Rückzug aus der Lebenswelt heutiger Menschen droht. Wir bringen diese Zustandsbeschreibung in Verbindung mit dem klaren evangeliumsgemäßen Auftrag, wonach der "Lebensraum der Menschen" immer auch
der "Handlungsraum der Kirche" ist. Zugleich knüpfen wir an die ermutigenden Beispiele an,
bei denen in Gemeinden und Verbänden durch eine Besinnung auf den Auftrag der Pastoral neues kirchliches Leben wächst. Wir rufen auf zu einer lebensweltorientierten, milieusensiblen und lernenden Pastoral, wie sie in dem immer wieder ermunternden Satz von Bischof Klaus Hemmerle, unserem früheren Mitstreiter im ZdK, zum Ausdruck kommt:

"Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe."

Im zweiten Teil werden wir konkret mit Vorschlägen und Anregungen bei der Frage, was wir tun und lassen sollten.
1. Wir rufen auf zu einer leidenschaftlichen Grundsatzdebatte über den Auftrag und die Gestalt der Kirche in der Welt von heute und über die Aufgaben einer zeitgemäßen Pastoral. Dabei greifen wir auch die Erfahrungen der "Umbauprozesse" auf, die viele von uns schmerzlich als Verlust von Heimat und Identität erleben, da sie nur selten als Chance zum Aufbruch begriffen werden. Hier kann uns das Leitwort dieses Katholikentages die richtigen Dimensionen aufzeigen!
2. Wir rufen auf zur Erschließung neuer pastoraler Schwerpunkte, gemeinsam geplant und dann mutig umgesetzt. Wenn auch die Sinus-Milieu-Kirchenstudie keinen Evangeliumsanspruch haben kann, so ist sie doch für uns eine wichtige Sehhilfe dafür, welche Milieus und Lebenswelten wir bislang zu wenig im Blick hatten.
3. Wir regen an, sich bei den Umbauprozessen stärker daran zu orientieren, was spezifisch einen "pastoralen Raum" ausmacht und wie er gestaltet werden soll. Dabei wünschen wir uns die Überwindung der bloßen Mangelverwaltung zu einem echten Schritt ins Weite. Wir sehen dabei Chancen, wenn wir die alten Formen der Präsenz der Kirche in "Communio und Ministratio", "Gemeinschaft und Dienstleistung" erneuern.
4. Dabei erinnern wir daran, an wie vielen kirchlichen Orten alle Schichten, Gruppierungen und Milieus präsent sind: Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, in allen Bereichen der Caritas, in Jugendberufshilfe und Jugendarbeit. Hier erreichen wir Menschen, die sonst oft keinen Bezug zur Kirche haben. Wir wehren uns dagegen, dass davon manches als "nicht zum Kerngeschäft gehörend" abgewertet wird und ermuntern dazu, diese unterschiedlichen pastoralen Orte unserer Kirche besser zu vernetzen.
5. Wir wünschen uns, die strukturelle Reduzierung positiv zu nutzen und mit einer stärkeren Ausrichtung der Pastoral auf die verschiedenen Milieus in Beziehung zu setzen. Hierzu regen wir an, sich vor Ort dialogisch darüber zu verständigen, wie der Zeit- und Kräfteaufwand reduziert werden kann, um dadurch neue Projekte im Sinne einer milieusensiblen Pastoral angehen zu können. Ich hoffe, dass etwa in vielen der neuen Seelsorgeräumen der Mut da ist, sich ganz konkret zu überlegen, welche bisherigen pastoralen Tätigkeiten deutlich reduziert werden könnten (warum nicht ruhig bis ca. 30 %?), damit Kraft und Zeit da sind, um Projekte zu entwickeln zum Aufbruch in neue soziale Milieus, die uns fremd oder fremd geworden sind.
6. Und schließlich ermuntern wir zu Geistvertrauen und Mut, die Zukunft in Freiheit zu erproben. Wir fordern pastorale Laboratorien, in denen Talente und Charismen sondiert und erprobt werden, ja mit denen phantasievoll experimentiert und gewuchert wird. Dazu erwarten wir die Rückendeckung durch die jeweiligen Leitungsverantwortlichen.

Im dritten Teil machen wir deutlich, was wir sehen sollten: Unsere eigenen Erfahrungen werden gestützt durch die kirchliche Statistik, sozialwissenschaftliche Studien sowie die Erfahrungen vieler Seelsorgerinnen, Seelsorger und der anderen in pastoralen Feldern Verantwortlichen. Danach sind wir in der Gefahr, mit unserer Botschaft ins gesellschaftliche Abseits zu geraten. Wir benennen den massiven kirchlichen Sozialisations- und Traditionsabbruch in bestimmten Bevölkerungsgruppen und die Pluralisierung unserer Gesellschaft. Wir stellen dazu wichtige Ergebnisse etwa des aktuellen Religionsmonitors 2008 dar – gleichsam als wisenschaftliche Begründung für die vorausgehenden Anregungen und Forderungen in unserem Gesprächsanstoß.

Im vierten Teil geht es schließlich um unser Herzstück, um das, was wir beherzigen sollten. Der Anstoß macht deutlich, dass Jesus zu allen ging. Seine Kriterien, sich Menschen zuzuwenden, waren nicht gemeinsamer Lebensstil, moralisch einwandfreie Biografie, nicht einmal die gemeinsame religiöse Herkunft. Sein Kriterium war allein, ob man von ihm Hilfe und Heilung erwartete, ob man an die Kraft seiner Botschaft und die Gnade seines Gottes glaubte. Wir erinnern daher auch in diesem Dokument an den Eingangssatz aus "Gaudium et spes": "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." Vielleicht müssen wir endlich ernst mit diesem Satz machen als Überschrift für die Überlegungen um die Zukunft der Kirche Jesu Christi – übrigens auch der einen Kirche – und nicht mit der Überschrift, wie wir den sogenannten Priestermangel besser verwalten können. So wünschen wir uns in diesem Abschnitt, die Pastoral zu begreifen als Entdeckungs- und Lerngeschehen in Wort und Tat, die Risiko und Wagnis bedeutet, fest verankert in Gott, der selbst die Liebe ist.

"Geht in alle Welt und seid meine Zeugen" heißt es in einem Gemeindevers (GL 645 Nr. 5), den wir Pfingsten im Gottesdienst gesungen haben. Und in einem anderen Pfingstlied heißt es "Komm Heil'ger Geist, du Gotteskraft, die aus dem Tod das Leben schafft, verleih uns neue Zungen!" Der Beschlusstext, zu dem ich namens der Antragsteller Ihre Zustimmung erbitte, ist nichts anderes als die Umsetzung dieses Gebetes: Verleih uns neue Zungen, damit wir aus den oft überholten Denkmustern und oft engen oder gar biederen Strukturen der Pastoral in die Weite ausstrahlen können, damit immer – oder wieder – mehr Menschen die Botschaft und die großen Taten Gottes verstehen können!

Hans-Georg Hunstig, Sprecher des Sachbereiches "Pastorale Grundfragen"

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