Sozialstaat: Keine Bewältigung seiner Risiken ohne eine Sozialpolitik der Befähigung
Rede von Prof. Dr. Georg Cremer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Der vorliegende Entwurf einer Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, den wir heute beraten, verbindet die aktuelle Sozialstaatsdebatte mit einem in diesem Kontext ungewohnten Blick auf Risikosituationen, die unser Leben heute prägen. Der Fokus ist insofern ungewohnt, als die Erklärung die Ambivalenz des Risikos aufgreift: mit Risiko sind Gefahren, aber auch Chancen verbunden. Sozialpolitik hat in diesem Blickwinkel die Aufgabe, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Risiken des Lebens unter heutigen Bedingungen bewältigt werden können. Die Erklärung skizziert die Perspektive einer christlichen Risikoethik. Hier ist die Verantwortlichkeit des Einzelnen, der gesellschaftlichen Gruppen, aber auch der gesamten politischen Gemeinschaft gefordert. Die Erklärung diskutiert Ansätze einer subsidiären Erneuerung des Sozialstaats in den drei Politikfeldern Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Familienpolitik; sie richtet dabei an einigen Stellen den Fokus auf die Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit.
Mein Beitrag hat zwei Zielrichtungen: Zum einen möchte ich die Frage einer christlichen Risikoethik beziehen auf unsere eigene Arbeit, die Arbeit der Verbände, Räte und Gremien, die das ZdK bilden und tragen. Zum anderen möchte ich das in der Erklärung angedeutete Paradigma einer Sozialpolitik der Befähigung aufgreifen.
Ethik der Risikobewältigung: Was bedeutet dies für die Arbeit der Verbände?
Kennzeichnend für die sozialpolitische Debatte in Deutschland ist eine eigentümliche Parallelität von Fatalismus und Verdrängung. Beide schaffen keine guten Voraussetzungen für eine Bewältigung der heutigen und künftigen Risiken sozialstaatlicher Sicherung. Sie sind die Kehrseiten derselben Medaille. Der Fatalismus sozialstaatlicher Untergangsszenarien befördert als Gegenreaktion ein trotziges "Weiter so". Verbände, die sich als Akteure einer Sozialpolitik der Befähigung verstehen, haben die Aufgabe, eine realistische Sicht gesellschaftlicher Problemlagen und sozialstaatlicher Risiken zu befördern und damit dazu beizutragen, dass Strategien der Problemlösung in einer demokratischen Gesellschaft mehrheitsfähig werden können. Nur so ergeben sich Perspektiven jenseits von Fatalismus und Verdrängung.
Zu einer realistischen Problemsicht gehört es, jede nostalgische Verklärung der Vergangenheit zu vermeiden, die auch in Erklärungen katholischer Gremien und Verbände oft durchscheint. Es ist eine für eine nüchterne Reformarbeit nicht förderliche Fehlwahrnehmung, in unserer heutigen Situation eine Zeit historisch einmaliger Umbrüche zu sehen. Feste Strukturen, die Halt gaben, haben sich auch früher aufgelöst, zur Zeit der Industrialisierung oder, in der jüngeren Geschichte, zur Zeit der Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft oder des Niedergangs der Standorte der Schwerindustrie. Lebensbedrohliche Risiken waren zu Zeiten des Kalten Krieges objektiv sicherlich höher als heute. Wir haben heute aufgrund des Reichtums unserer Gesellschaft weit bessere Voraussetzungen als früher, in diesen Umbrüchen soziale Sicherung zu gestalten. Die Umbrüche der Vergangenheit haben die Voraussetzungen für diesen Reichtum geschaffen.
Die Bewältigung sozialstaatlicher Risiken erfordert auch Entscheidungen, die unpopulär sind, weil sie in bisherige bestehende Rechte eingreifen oder bisherige Sicherheiten in Frage stellen. Der schlichte Appell an Politiker, diese Entscheidungen zu treffen, ohne "auf Wählerstimmen zu schielen", geht ins Leere, da Politiker die Abkehr von gesellschaftlichen Mehrheitsmeinungen nur in eher engen Grenzen vollziehen können, ohne ihr Mandat und damit die Grundlage ihrer Gestaltungsfähigkeit zu untergraben. Verbände können oder könnten hier freier agieren. Zu einer Ethik der Risikobewältigung unserer eigenen Arbeit gehört damit auch die deutliche Benennung der Reformnotwendigkeiten, und zwar in einer Konkretisierung, die als notwendig erkannte, aber unpopuläre Schritte nicht ausspart. Hierzu ein Beispiel: Die Entscheidung der Bundesregierung, das gesetzliche Rentenalter in einer langen Übergangszeit um zwei Jahre anzuheben, ist ein entscheidendes Element der Sicherung der Nachhaltigkeit der Rentenversicherung. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist sozial vertretbar, wenn der lange Übergangszeitraum gleichzeitig genutzt wird, die Diskriminierung älterer Erwerbstätiger auf dem deutschen Arbeitsmarkt abzubauen, und wenn die massiven Defizite bei der beruflichen Weiterbildung überwunden werden. Wenn dies nicht gelänge, resultierte die Erhöhung des Renteneintrittsalters in einer faktischen Rentenkürzung. Allerdings scheitern wir dann auch bei der Bewältigung der Risiken des demographischen Wandels. Die gescholtene große Koalition hatte mit ihrer Entscheidung zur "Rente mit 67" die Kraft, einen Reformschritt zu beschließen, der in einer simplen politökonomischen Sichtweise des politischen Geschäfts als Verfahren der Stimmenmaximierung nicht zu erwarten gewesen wäre. Zur Ethik der Risikobewältigung gehört es, dass auch die Verbände das Werben um politische Zustimmung zu als notwendig erkannten Reformschritten nicht allein den politischen Instanzen überlassen.
Ob eine von uns vertretene politische Forderung im Falle ihrer Umsetzung zu den erwünschten Ergebnissen führt, ist abhängig von hochkomplexen Wirkungsketten einschließlich der aus individueller Sicht meist rationalen Ausweichreaktionen derer, die direkt oder indirekt von der Umsetzung betroffen sind. Entscheidend ist nicht die edle Intention unserer Forderung, sondern die Wirkung, die sich einstellen würde, wenn die Politik ihr folgte. Zur Ethik der Risikobewältigung gehört, als Akteur im Prozess politischer Meinungsbildung für diese Folgen die Verantwortung zu übernehmen. Hierzu ein Beispiel: Wir diskutieren derzeit über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Für oder gegen einen solchen Schritt gibt es vielfältige Argumente, auf die ich hier nicht eingehen kann. Die Bewertung der Folgen eines solchen Schritts ist auch unter Wirtschaftswissenschaftlern strittig. Weitgehend unstrittig ist allerdings, dass die Folgen sehr stark von der festgesetzten Höhe und der Ausgestaltung des Mindestlohns abhängig sind. Wer einen Mindestlohn von beispielsweise 8,50 € fordert, muss Verantwortung übernehmen für das Risiko, dass insbesondere in den neuen Bundesländern Arbeitsplätze vernichtet würden und dass in allen Regionen Deutschlands sich die Beschäftigungschancen von Menschen mit geringen beruflichen Qualifikationen weiter verschlechterten. Die Folgen jeder politischen Maßnahme sind zu beurteilen unter den Bedingungen einer Marktökonomie, in der dezentral agierende, einzelwirtschaftlich rational handelnde Akteure auf die Änderung politischer Rahmenbedingungen reagieren und den intendierten sozialen Zweck einer politischen Entscheidung durchkreuzen können. Es reicht nicht, wenn politische Vorschläge auf den ersten Blick intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen. Wer sich aus der Verantwortung für die nicht intendierten Folgen eines politischen Vorschlags dadurch entziehen will, dass er einzelwirtschaftlich rationales Verhalten moralisch angreift, vermischt eine individualethische Argumentation mit einer struktur- oder sozialethischen Argumentation. Unsere politischen Vorschläge müssen auch strukturethisch haltbar sein, d. h. bei nüchterner Abwägung der Folgewirkungen und Ausweichreaktionen geeignet sein, die intendierten sozialen Wirkungen auch faktisch zu ermöglichen.
Zur Ethik der Risikobewältigung gehört auch die Vermeidung falscher Skandalisierung. Von Skandal kann nur gesprochen werden, wenn es einen verantwortlichen Akteur gibt, der skandalös handelt. Eine Skandalisierung ist dann fragwürdig, wenn negativ zu bewertende Entwicklungen die Folge marktlicher oder gesellschaftlicher Prozesse sind, die nicht abzuwehren sind, jedenfalls nicht mit verhältnismäßigen Maßnahmen. Die Tatsache beispielsweise, dass Menschen mit geringen beruflichen Qualifikationen heute weit geringere Chancen haben als vor drei Jahrzehnten, hat komplexe Ursachen, für die nicht einfach jemand als Schuldiger festzumachen ist. Ein Beispiel für fragwürdige Skandalisierung ist es, wenn die Armutsdaten der Europäischen Union, die den Anteil der Bevölkerung messen, deren Einkommen unterhalb von 60% des Medianeinkommens liegt – was korrekterweise als Armutsrisikoquote bezeichnet wird – zu einem Beleg für einen Skandal bei uns erklärt werden. Hier hat Deutschland übrigens mittlere Werte und auch Wohlfahrtsstaaten wie Schweden oder Finnland hätten diesen Skandal, wenn wir ihn so definieren. Zur Bewältigung der Risiken ist es nützlicher, die Kritik dort zu fokussieren, wo sich Verantwortliche festmachen lassen. Der Skandal ist nicht, dass es Menschen gibt, die weniger als 60% des Medianeinkommens haben. Nicht hinzunehmen ist dagegen, dass wir uns weiterhin ein Bildungssystem leisten, das Bildungsferne ausschließt und damit Arbeitslosigkeit und damit Armut vererbt wird, dass die Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendsozialarbeit an vielen Orten immer noch so schlecht ist, dass zu lange gewartet wird, wenn ein Kind in die Schulverweigerung abdriftet, und dass viele gute Ansätze, hier gegenzusteuern, sich von einer fragilen Projektfinanzierung zur nächsten durchhangeln, aber im Regelsystem des Bildungswesens noch nicht angekommen sind. Wenn die Kritik diese konkrete Ebene erreicht, die für Bewältigungsstrategien produktiv werden kann, so zeigt sich zudem meist rasch, dass Risikobewältigung mehr ist als Forderungen an Politik oder eine abstrakte Gesellschaft. Die konkrete Problembewältigung kann nur gelingen, wenn politische und zivilgesellschaftliche Instanzen gleichermaßen dazu beitragen. Auch wenn die Armut vererbenden Defizite des Bildungssystems abgebaut werden, wird mehr Integration dennoch nur gelingen, wenn mehr Betriebe bereit sind, sich auf das Risiko einzulassen, benachteiligten Jugendlichen einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz einzuräumen. Hier ist auch die Kirche und ihre Caritas in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber angefragt. Dies wiederum wird nur gelingen, wenn es Unterstützungsstrukturen gibt: Dazu gehören entlastende Angebote der Jugendsozialarbeit, die sicherstellen, dass Betriebe mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden, ebenso wie ehrenamtliche Paten, die Jugendlichen dabei helfen, eine Ausbildung durchhalten zu können. Keine ernsthafte gesellschaftliche Kraft kann glaubwürdig zur Risikobewältigung Stellung nehmen, ohne auch die damit verbundenen Selbstverpflichtungen zu thematisieren. Die Befähigungsinitiative des Deutschen Caritasverbandes, die Ihnen Präsident Dr. Neher in der Frühjahrs-Vollversammlung 2006 vorgestellt hat, bemüht sich um diese Verbindung von politischer Kampagne nach außen und Selbstverpflichtung nach innen. Eine Arbeit für diese Ziele braucht Verbündete, innerhalb und außerhalb der Kirche.
Für eine Sozialpolitik der Befähigung
Risikobewältigung braucht Handlungsstrategien jenseits von Verdrängung und Fatalismus. Die hier grob skizzierten Elemente einer Ethik der Risikobewältigung können einen lösungsorientierten politischen Diskurs – das ZdK versteht sich als ein wichtiger Akteur dieses Diskurses – über Handlungsstrategien befördern. Der Entwurf, der hier zur Debatte steht, spricht von einem der Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit verpflichteten Sozialstaat (Z 225). Notwendige Bedingung für die Bewältigung der sozialstaatlichen Risiken ist eine stärkere Gewichtung der Befähigungsgerechtigkeit in den Debatten zur sozialen Gerechtigkeit.
Das Konzept der Befähigungsgerechtigkeit fokussiert auf die Erweiterung individueller Verwirklichungschancen, die Erschließung von Freiheits- und Teilhabespielräumen. Es stellt die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt und betont, dass jeder Mensch zur Verwirklichung seiner Fähigkeiten auf bestimmte Grundbedingungen angewiesen ist, die er nicht selbst sicherstellen kann. Damit wird ein wichtiges und die bisherigen Gerechtigkeitsdebatten notwendigerweise ergänzendes Kriterium formuliert, wonach die Leistungsfähigkeit staatlicher Sozialpolitik zu beurteilen ist. Das Handeln sozialstaatlicher Instanzen, Ressourcen und Strukturen sind auf die Befähigung des Individuums zu einem eigenverantwortlichen und solidarischen Leben auszurichten. Eine Sozialpolitik, die dem Konzept der Befähigungsgerechtigkeit entspricht, entbindet das Individuum nicht von seiner Eigenverantwortung, stellt sich dabei aber der Pflicht, zur Befähigung beizutragen, damit Individuen diese Eigenverantwortung wahrnehmen können.
In der derzeitigen Debatte werden unterschiedliche Sozialstaatskonzepte über Adjektive ausgedrückt, wie die Rede vom versorgenden, vorsorgenden oder aktivierenden Sozialstaat zeigt. Mit einer "Sozialpolitik der Befähigung" ist ein anderer Duktus verbunden. Es ist nicht der paternalistische Staat, der träge Bürger aktivieren muss, sondern Sozialpolitik hat die Aufgabe, Bedingungen zu schaffen, damit jeder Mensch seine Potentiale entfalten kann.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Das Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit bedeutet keine Abkehr von anderen Gerechtigkeitskonzepten, etwa dem der Verteilungsgerechtigkeit. Befähigungsgerechtigkeit ist kein Ersatz für herkömmliche Politiken der Einkommenssicherung für Bürger, deren eigenes Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Sozialpolitik, die ohne Sicherung ihrer Nachhaltigkeit nicht bestehen kann, hat aber auch die Aufgabe, alles zu tun, damit nicht mehr Menschen als unvermeidbar aufgrund verpasster Befähigung in einer dauerhaften Abhängigkeit verbleiben. Der Ansatz der Befähigung bedeutet auch nicht, Notlagen zu individualisieren, er erlaubt es somit nicht, uns mit einem achselzuckenden "Selber schuld" aus der Verantwortung zu ziehen. Aber er zwingt zur Überlegung, was getan werden muss, um den Missstand versäumter oder verweigerter Befähigung zu überwinden.
In einer Marktökonomie hängt für die allermeisten Menschen ein selbstbestimmtes Leben auch ab von der erfolgreichen Behauptung auf Märkten, für die breite Mehrheit auf dem Arbeitsmarkt. Teil gelingender Befähigung ist damit auch eine Befähigung dazu, auf Märkten Leistungen anbieten zu können, soweit natürlich nicht Alter, Krankheit oder Behinderung einen Beitrag ausschließen. Wie groß hier die Defizite sind, zeigt sich daran, dass bereits nach einer Phase konjunkturellen Aufschwungs von etwa zwei Jahren in Deutschland ein Fachkräftemangel besteht. Dieser Fachkräftemangel wird sich im demographischen Wandel weiter verstärken, wenn wir nicht die Defizite überwinden, die den Zugang von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Familien und aus Familien mit Migrationshintergrund zu Bildung und Ausbildung erschweren. Ohne mehr Befähigungsgerechtigkeit werden wir gleichzeitig scheitern, mehr Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen. Denn in einer international verflochtenen Ökonomie wird der Druck auf die Löhne von Menschen mit geringen beruflichen Qualifikationen anhalten; dagegen werden diejenigen, die gut qualifiziert und sozial kompetent sind – so ist zu vermuten – keine dauerhaften Probleme auf einem zukünftigen Arbeitsmarkt haben. Mehr Umverteilung kann – selbst wenn sich die politischen Mehrheiten dafür finden – Defizite der Befähigung nicht ausgleichen, wenn fehlende Befähigung und mangelnde Ausbildung das produktive Potential Deutschlands und damit die materielle Grundlage der Umverteilung unnötig beschränken.
Angesichts der engen Zusammenhänge zwischen Bildungsarmut, materieller Armut und Arbeitslosigkeit gilt auch in anderen Politikfeldern: Ohne mehr Befähigungsgerechtigkeit werden wir das Ziel verfehlen, die sozialen Schutzsysteme auch in den Belastungen des demographischen Übergangs nachhaltig zu sichern. Dies gilt für die gesetzliche Rentenversicherung: Berufsbiographien sind bei ungenügender Qualifizierung in aller Regel prekär und lückenhaft, Altersarmut und die Abhängigkeit von Grundsicherungssystemen damit die Folge.
Es gilt aber auch für das Gesundheitswesen: Es gibt in Deutschland das Faktum einer nach sozialen Schichten unterscheidbaren Lebenserwartung. Dies ist einerseits Folge unterschiedlich belastender Verhältnisse sowohl am Arbeitsplatz als auch im Wohnbereich, aber auch und nicht unwesentlich Folge von risikobehafteten Lebensstilen, von ungesunder und oft gleichzeitig teurer Ernährung, fehlender Bewegung und vermehrtem Nikotin- und Alkoholkonsum. Ohne Befähigung zu einem selbstverantworteten Leben, was die Verantwortung für die eigene Gesundheit mit einschließt, wird es auch nicht gelingen, die Nachhaltigkeit des Gesundheitsschutzes zu sichern. Dies bedarf einer Präventionspolitik, die sich nicht in Informationskampagnen erschöpft, die ausschließlich die Mittelschicht erreichen.
Und jenseits aller Nachhaltigkeitsüberlegungen sozialer Sicherung: Ohne Befähigung verlieren wir auch Teile der jungen Generation als Mitgestalter und Unterstützer des demokratischen Gemeinwesens.
Dabei zeigt sich ein Problem jeder Sozialpolitik der Befähigung. Bei allen ihren Ansätzen – sei es bessere Bildung, bessere berufliche Chancen, Gesundheitsprävention – stellt sich die Frage des Zugangs zu Menschen aus sogenannten bildungsfernen Milieus, die von den uns vertrauten, an den Denkwelten der Mittelschicht orientierten Informationsmedien nicht erreicht werden. Ob eine befähigende Sozialpolitik gelingt, entscheidet sich häufig daran, ob hier ein Zugang gelingt. Hier haben die kirchlichen Verbände eine besondere Verantwortung, weil sie zu den gesellschaftlich relevanten Kräften gehören, die potentiell über Netze verfügen, Menschen – ich benutze den Begriff bewusst – aus der Unterschicht zu erreichen. Denn es gibt eine Unterschicht in Deutschland, ob wir dies nun so nennen oder weniger direkte Begriffe wählen: Milieus mit vererbter Bildungsarmut, teilweise über mehrere Generationen in Abhängigkeit von Transferleistungen, mit einer entmutigten Einstellung gegenüber den Chancen einer Besserung ihrer sozialen Position. Ein Viertel aller Kinder in Deutschland, die eine Kindertagesstätte besuchen, besucht eine katholische Einrichtung, darunter natürlich viele Kinder aus der Unterschicht. Ob Befähigung gelingt, entscheidet sich auch hier.
In einer Welt, in der das Wünschbare umfangreicher ist als das Finanzierbare, muss eine Sozialpolitik der Befähigung Prioritäten setzen. Sozialpolitik steht unter stetem Druck, Leistungen bereit zu stellen, die der breiten und Wahlen entscheidenden Mehrheit nützen; Menschen am Rande sind kein verlässliches Wählerpotential, mit dem Volksparteien rechnen können. Natürlich muss Sozialpolitik auch für die breite Mehrheit gemacht werden, denn die sozialen Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter betreffen alle. Aber gerade in der aktuellen politischen Debatte zeigt sich die Ausrichtung des politischen Prozesses auf die sogenannten Medianwähler oder die Wähler der Mittelschicht. Es gibt viele Vorschläge, wie die dank der guten konjunkturellen Entwicklung wieder größer gewordenen fiskalischen Spielräume genützt werden sollen, aber mehr Befähigung ist nicht ihr Schwerpunkt. Weder eine verbesserte Pendlerpauschale noch die Öffnung der Riester-Förderung für den Erwerb von Immobilienbesitz – faktisch die Wiedereinführung der Eigenheimzulage – wird Menschen am Rande nützen. Aus einem Blickwinkel der Befähigung sollte der neu gewonnene fiskalische Spielraum beispielsweise genutzt werden für bessere Schulen in sozialen Brennpunkten, mit kleineren Klassen und einem verlässlichen, kostenfreien oder zumindest sehr preisgünstigen Mittagessen. Für Prioritätenentscheidungen zugunsten derer einzutreten, die am Rand der Gesellschaft stehen, ist eine notwendige Aufgabe von Verbänden, die sich als Akteure einer Sozialpolitik der Befähigung begreifen. Die ehrliche Differenzierung zwischen dem, was Arme zur Befähigung brauchen, und was wir uns, die wir alle Medianwähler der Mittelschicht sind, wünschen, gehört auch zu einer Ethik der Bewältigung sozialer Risiken.
Prof. Dr. Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes