„Politische Entscheidungen bedürfen einer soliden Werteorientierung“

Rede von Prof. Dr. Hans Joas im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Sie haben mich gebeten, unter dieser Überschrift zu Ihnen zu sprechen. Der Ehre dieser Einladung bin ich mir stark bewußt. Eine eigentliche Fragestellung aber enthält die Überschrift nicht. Das stellt für mich insofern keine Schwierigkeit dar, als ich der Aussage, die Sie vorgeben, gewiß zustimme. Seit mindestens einem Jahrzehnt zirkulieren im wissenschaftlichen und politischen Leben der westlichen Welt eine Fülle von Begriffen, die alle in diese Richtung, d.h. auf Diagnose und Therapie sozialen Zusammenhalts und politischer Handlungsfähigkeit zielen. Denken Sie nur an die zahllosen Diskussionen über Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft, Kommunitarismus und wiederbelebten Republikanismus, „soziales Kapital“ und „Vertrauen“, „Gemeinwohl“ und „Gemeinsinn, „Dritter Weg“ und „Modernisierung des Regierens“. Den meisten der mit diesen Begriffen bezeichneten Diskursen ging es um die Frage, wie gesichert werden kann, daß Markt und Staat als die beiden dominierenden Mechanismen moderner Vergesellschaftung durch ein drittes Prinzip relativiert und modifiziert werden – so daß wir nicht vor der Alternative stehen, entweder die Folgen unregulierten Marktgeschehens einfach passiv hinzunehmen oder umgekehrt zu ihrer Bewältigung ausschließlich auf staatliche Intervention zu setzen mit der Gefahr einer erstickenden Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens. In diesen Diskussionen erhalten auch zeitweise vernachlässigte Stränge politischer Traditionen – wie das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre oder die Genossenschaftsideen der Arbeiterbewegung – neue Vitalität. Einige Jahre lang standen die Neujustierung der Balance von Staat, Markt und Gesellschaft im Vordergrund dieser Debatten und die Herausforderung durch das historisch neue Phänomen eines breitenwirksamen Individualismus. In den letzten Jahren hat diese Debatte zusätzlich immer mehr die Rolle der Religion zum Thema gemacht. Sind Gesellschaften für ihren Zusammenhalt auf lebendige religiöse Traditionen und Lebensformen angewiesen – oder gefährden umgekehrt Religionen im allgemeinen oder bestimmte Religionen wegen ihres umfassenden und ausschließlichen Anspruchs das friedliche und gewaltfreie Zusammenleben? Sind starke Wertbindungen überhaupt nur in religiöser Form vorstellbar? Welche Einigungsmöglichkeiten gibt es zwischen religiösen und säkularen Denkern oder gesellschaftlichen Kräften hinsichtlich einer Wertefundierung der Politik?
Das sind einige der Fragen, die gegenwärtig stärkste öffentliche Aufmerksamkeit finden – zumindest bei denen, die grundsätzlich dem Titelsatz dieser Veranstaltung beipflichten: „Politische Entscheidungen bedürfen einer soliden Werteorientierung“. Nicht inbegriffen in diesen Konsens sind meines Erachtens nur drei Denkströmungen, die ich kurz benennen will:
1. die Anhänger eines radikalutilitaristischen Paradigmas, d.h. der Vorstellung, daß alles menschliche Handeln unweigerlich nur der Mehrung individuellen Nutzens diene. Für diese Denkweise klingt Wertorientierung immer nach bloßer Bemäntelung des wirklich leitenden Egoismus. Außerhalb des Feldes einer marktradikalen Ökonomie gibt es in Deutschland allerdings kaum Vertreter solcher Vorstellungen;
2. die Vertreter einer Art von Kollektiv-Utilitarismus, d.h. der Denkweise, daß letztlich zwar nicht der Egoismus der Individuen, wohl aber die Interessenlage gesellschaftlicher Kräfte ausschlaggebend sei und deshalb die Rede von Werten erneut nur Fassade sein könne, Deckmäntelchen etwa beim Abbau des Wohlfahrtsstaats. Ein solches Bild wurde vom Marxismus nahegelegt und findet sich weiterhin in Teilen der Linken bis tief in die Sozialdemokratie hinein; der Verdacht bloßer Werterhetorik ist sicher oft irreführend, kann in der Tat aber auch nie einfach von der Hand gewiesen werden. Und
3. würden den Satz von der notwendigen Wertefundierung der Politik nicht unterschreiben die postmodernen Moralskeptiker, für die die Rede über Werte entweder nur Machtkämpfe a la Nietzsche verschleiert oder schlicht überflüssig ist, weil das freie und spielerische Nebeneinander von Lebensstilen für sie ein gesellschaftliches non plus ultra darstellt. Doch scheint mir die Zeit, in der solche postmodernen Strömungen das kulturelle Leben dominiert haben, deutlich vorbei zu sein; zudem haben selbst prominente postmoderne Denker wie Zygmunt Bauman die Grenzen eines fröhlichen ethischen Relativismus etwa in ihrer Beschäftigung mit dem Holocaust und seinen Ursachen längst erkannt.
Nicht genannt habe ich einen vierten Typus, der den Leitsatz dieser Veranstaltung zwar nicht direkt zurückweisen würde, ihn aber doch auch beträchtlich einschränken dürfte: Ich denke an die Position des klassischen Liberalen, der bei aller Zustimmung zur Wertefundierung von Politik vor allem befürchtet, daß die Verwischung der Grenzen zwischen „Recht“ und „Wert“ zu einem Freiheitsverlust der Individuen und einer Ideologisierung des Staates führt. Diese Position stellt gewiß die stärkste Herausforderung für die Vertreter einer werte-orientierten Politik dar. Wo die klassisch-liberale Position nämlich nicht ins Utilitaristische oder Postmoderne abgleitet, also die Einsicht sehr wohl artikuliert, daß individuelle Freiheitsrechte auf eine Rechtsordnung angewiesen sind, die selbst nicht nur in ihnen fundiert sein kann, daß weiterhin friedliches Zusammenleben sich nicht aus der Pluralität als solcher ergibt, sondern auf dem Recht und einem Ethos der Toleranz beruht, daß Gerechtigkeit mehr ist als ein momentaner Waffenstillstand im Interessenkampf – wo diese Einsichten also in die Richtung einer Werteorientierung der Politik weisen, ist die gleichzeitige Warnung vor einer falschen Politisierung der Werte sehr ernstzunehmen.
Zur Notwendigkeit einer Werteorientierung der Politik scheint mir im Gemeinsamen Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens „Demokratie braucht Tugenden“, einem Text, den viele von Ihnen kennen werden, alles Nötige sehr gut und klar gesagt. Ich habe mich, statt diese Auffassungen zu paraphrasieren, den Texten der neuen Grundsatzprogramme zugewandt, die CDU, CSU und SPD gegenwärtig zur Diskussion vorgelegt haben und die sie mehr oder weniger modifiziert bald beschließen werden. Nach einigen Beobachtungen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Parteien in diesem literarischen Genre werde ich drei Punkte herausarbeiten, an denen mir eine Klärung des Selbstverständnisses der hier versammelten obersten Laienvertretung der deutschen Katholiken angebracht scheint.
Die erste Beobachtung lautet, daß auf der Ebene der Aussagen über Grundwerte sich die Programme der führenden Parteien nur sehr wenig unterscheiden. Diese Beobachtung läßt sich auf zwei konträre Weisen deuten. Sie kann anzeigen, daß die deutsche Demokratie auf einem breiten Wertekonsens beruht und entsprechend, wie es ja auch die Große Koalition zeigt, einer Zusammenarbeit zumindest der großen Volksparteien nichts Grundsätzliches im Wege steht. Die Beobachtung kann aber auch Anlaß zu dem Argwohn geben, daß die Grundsatzprogramme nicht wirklich von großer Relevanz für die praktische Politik sind, sondern nur über dieser schweben und sie als Ausdruck von allem Wahren, Edlen und Guten erscheinen lassen sollen. Meine zweite Beobachtung lautet, daß in den Texten dieses Genres Spannungen zwischen Werten, der Zwang zu ihrer Hierarchisierung oder zumindest zur fallweisen Güterabwägung, nie ausgetragen werden, sondern statt dessen Kompromißformeln oder Formelkompromisse gefunden werden, in denen diese Spannungen unerkennbar werden. So ist jetzt von „solidarischer Leistungsgesellschaft“ (CDU) oder „solidarischer Bürgergesellschaft“ (SPD) die Rede, wo man sich Aufschluß über das genaue Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität in bestimmten Politikfeldern gewünscht hätte. Problematisch sind hier für mich insbesondere alle Formulierungen, die so klingen, als sei das Verhältnis von staatlicher Zuständigkeit und bürgerlicher Eigenverantwortung nach dem Modell eines Nullsummenspiels zu denken: je mehr Staat, desto weniger Bürgergesellschaft; je mehr Bürgergesellschaft, desto weniger Staat. Diese Hintergrundannahme trifft aber nicht zu: in positiver Hinsicht nicht, weil der Staat an der Schaffung günstiger Funktionsbedingungen für die Bürgergesellschaft ja durchaus wesentlich beteiligt ist; in negativer Hinsicht nicht, weil die Schwäche des Wohlfahrtsstaats etwa in US-amerikanischen Großstädten ja keineswegs, wie man es bei kommunizierenden Röhren erwarten könnte, von selbst das bürgerschaftliche Engagement anschwellen läßt. Umgekehrt gibt es in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten zweifellos einen starken Staat – aber es kann keine Rede davon sein, daß damit die Vitalität der Bürgergesellschaft zerstört worden sei.
Meine dritte Beobachtung besagt, daß die Programmtexte durchsetzt sind von diffusen Anspielungen auf Gegner, deren Stärke und böse Absichten mir weit übertrieben dargestellt scheinen. Die C-Parteien nehmen etwa in Anspruch, „gegen viele Widerstände“ Ehe und Familie verteidigt zu haben, obwohl deren Gegner zwar lautstark, aber verschwindend gering an Zahl sein dürften. Es wird auch schnell denen, die andere Abwägungen vornehmen an Stellen, wo Abwägung unumgänglich ist, Gleichgültigkeit gegenüber einem der abzuwägenden Werte unterstellt. Dabei bleibt aber die Bezeichnung der gegnerischen Position meist vage oder so, daß sich eigentlich niemand mit seinem Selbstbild in diesem Fremdbild wiedererkennen kann. Damit aber besteht die Gefahr, daß trotz geringer sachpolitischer Differenzen Verschiedenheit im Grundsätzlichen mehr behauptet als wirklich aufgezeigt wird, um in der Polarisierung mit einem verzerrt wahrgenommenen oder dargestellten Anderen ein Profil zu gewinnen , das sich aus der Sachpolitik nicht zwingend ergibt.
Meine vierte und letzte Beobachtung: Deutliche Unterschiede im Ton finde ich, vor allem zwischen CSU einerseits und SPD andererseits, in der Erwähnung des Terrorismus und in den Angaben dazu, was zu seiner Bekämpfung nötig sei. Während die CSU betont, daß die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit fließend geworden seien, spricht sich der SPD-Programmentwurf energisch gegen eine Aufweichung des Völkerrechts und für eine neue Entspannungspolitik aus. Wenn ich eine Prognose wagen darf: Diese Passagen werden in wenigen Jahren am deutlichsten als zeitbedingt erkennbar werden.
Nun aber zu den drei grundlegenderen Fragen, die sich aus der Perspektive einer „werte-orientierten Politik“ bei der Lektüre der Programmentwürfe ergeben und die zu einer eigenen christlichen Stellungnahme nötigen.
An erster Stelle ist hier zu nennen die Grundbestimmung der „christlich“ genannten Parteien überhaupt, nämlich ihr Verweis auf das „christliche Menschenbild“, das für alle folgenden Aussagen der Quell sei. Genauer bestimmt wird dieses christliche Menschenbild in kürzester Form über das Postulat des Grundgesetzes von der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Es wird außerdem das christliche Menschenbild zum Zentrum der europäischen (CDU) bzw. abendländischen (CSU) Identität erklärt. An dieser Stelle habe ich mehrere Probleme. Obwohl ich selbst in der Tat die Idee universaler Menschenwürde für einen zentralen Bestandteil des Menschenbildes halte, das Christen kennzeichnet, kann ich nicht davon absehen, daß dieses Menschenbild die „politische Ethik“ (Troeltsch) in der Geschichte des Christentums nur sehr indirekt geprägt hat. Sehr viele verschiedene politische Ordnungen sind in der Vergangenheit schon als christlich gerechtfertigt worden. Oft wurden aus anderen Quellen stammende Rechtfertigungen etwa auch der Sklaverei, Leibeigenschaft, des Glaubenszwangs nur entlehnt und oberflächlich christlich überformt. Die Experimente wiederum, aus dem Christentum direkt staatliche Ordnung abzuleiten, sind oft höchst problematisch und sicherlich nicht anziehend für die Gegenwart. „Die Lehren, die der Staat der Wiedertäufer, der Cromwellschen Heiligen und in anderer, aber ebenso christlicher Weise der Jesuitenstaat in Paraguay gegeben haben, sollten nicht vergessen werden.“ (Ernst Troeltsch)
Aber noch wichtiger als die Kritik an dieser allzu einfachen Inanspruchnahme der Idee universaler Menschenwürde für das Christentum, die ja zumindest durch selbstkritische Bemerkungen über die Schwierigkeiten der christlichen Kirchen und Parteien mit den Kodifikationen der Menschenrechte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein angereichert werden müßte – noch wichtiger als dies ist mir eine Relativierung der Gleichsetzung des Christlichen mit dem Europäischen. Europa war in seiner Geschichte nicht so homogen christlich, wie es eine romantische Sichtweise gerne hätte. Juden und Moslems, Elemente vorchristlicher Religiosität in den oft nur oberflächlich christianisierten Ländern Europas und Nachwirkungen des antiken Polytheismus verkomplizierten immer schon das Bild. Überhaupt war das Christentum in seinen ersten Jahrhunderten nicht vornehmlich in Europa verankert. Diese historische Reminiszenz ist deshalb von enormer aktueller Bedeutung, weil wir im Zeitalter einer rapiden Globalisierung des Christentums leben. Ein afrikanischer Beobachter hat insofern völlig treffend die gegenwärtige Phase eine Erneuerung einer nicht-westlichen Religion genannt. Schon allein aus demographischen Gründen nimmt das Christentum gegenwärtig sehr stark – hinsichtlich der Zahl der Gläubigen also – an Stärke zu. Hinzu kommt, daß entgegen den Erwartungen der Kritiker des Kolonialismus, die das Christentum als Implantat des Westens ohne Zukunft in fremder Umwelt betrachteten, nach Ende der Kolonialherrschaft in Afrika sich die Ausbreitung des Christentums auch durch Konversionen erst richtig beschleunigte. Auch in Asien gibt es erstaunliche Erfolgsgeschichten des Christentums, am spektakulärsten wohl in Südkorea. Es sieht also so aus, als seien wir Zeitgenossen einer der intensivsten Ausbreitungsphasen des Christentums in seiner Geschichte, was wiederum die Kirchen vor ganz neue Probleme stellen wird, die aus dieser geographischen und demographischen Schwerpunktverlagerung folgen. Wie auch immer sich dies genau verhält, in unserem Zusammenhang geht es mir darum, daß sich die immer schon falsche Identifizierung des Christentums mit Europa oder dem Abendland oder dem Westen in naher Zukunft weiter lockern wird. Das heißt aber auch, daß ein ganz neues Licht fallen wird auf das europäische Christentum. Es werden, wenn der Glaube neu angeeignet wird in der Welt außerhalb des europäischen Kulturkreises und unter Bedingungen massenhafter Armut und Entwurzelung, bisher unbemerkte Partikularismen im europäischen Christentum aufgedeckt werden. Verstehen Sie mich nicht falsch. Auch nach meiner Meinung müßte in einer europäischen Verfassung auf Gott und das Christentum verwiesen werden und dies nicht nur im Sinn eines historischen Erbes. Aber das muß so geschehen, daß andere Quellen von Wertbindung einbezogen werden und europäisch-christlicher Triumphalismus unterbleibt. Es wird in der Zukunft immer schwieriger werden, europäische Spezifika als christlich zu deklarieren und umgekehrt das Christliche für europäische Identitätsbildung in Anspruch zu nehmen.
Mit dem letzten Satz, der natürlich auch auf die gleichzeitige Expansion des Islam und seine zunehmende Präsenz in Europa anspielt, kann ich zum zweiten Problempunkt überleiten. Wie nämlich kann ein christliches Menschenbild auch im Inneren einer Gesellschaft so vertreten werden, daß es inklusiv und nicht exklusiv wirkt, d.h. wie kann es zum angestrebten Wertekonsens in einer religiös pluralen und zudem von massiven Säkularisierungstendenzen geprägten Gesellschaft beitragen? Für mich lautet die Antwort auf diese Frage eindeutig: durch Wertegeneralisierung. Mit diesem Begriff wurde in der Soziologie von Talcott Parsons ein Prozeß der wechselseitigen Modifikation von Wertetraditionen bezeichnet. Es geht also nicht um die Ausbreitung einer Tradition oder um die bloße – statische – Feststellung von Gemeinsamkeiten zwischen mehreren solchen Traditionen, sondern um einen dynamischen Vorgang, in dem Gemeinsamkeiten erst entdeckt und neu artikuliert werden. Obwohl man, mit oben genannten Einschränkungen, die Menschenrechte wohl als Erzeugnis der jüdisch-christlichen Tradition ansehen darf, heißt das nicht, daß andere Traditionen nicht im Licht dieses Werts reinterpretiert werden oder vielmehr sich selbst reinterpretieren könnten. Bei einer solchen Reinterpretation wird den Menschen keine Abkoppelung von der emotionalen Bindekraft ihrer Religion zugemutet wie bei bloß rationalistisch-intellektualistischen Versuchen, ein gemeinsames Ethos zu formulieren. Je mehr sich die lange herrschende Erwartung, Modernisierung führe mit innerer Notwendigkeit zur Säkularisierung, als immer schon unzulänglich und irreführend erweist, desto mehr wird es nötig sein, institutionelle Formen für solche Prozesse der „Wertegeneralisierung“ zu finden. Dazu findet sich in den Programmen nichts Wegweisendes. Die regelmäßig sich auf Einladung des Bundesinnenministers treffende „Islamkonferenz“ scheint einen Versuch in dieser Richtung darzustellen. Die Beteiligung der Christen an solchen Prozessen eines neuen Dialogs, vor allem mit dem Islam einerseits und mit dem Säkularismus andererseits, auf mittlere Sicht aber auch verstärkt mit den Formen süd- und ostasiatischer Religiosität, ist eine dringende Aufgabe; sie wird einen ähnlichen Druck auf das Selbstverständnis der Christen zwischen faktischem Partikularismus und angestrebtem Universalismus ausüben, wie er von der Globalisierung des Christentums zu erwarten ist. Allzu leicht fließen in die programmatischen Texte der Parteien Formulierungen ein, die die gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen mehr als Verfall bezeichnen und ohne sorgfältigen historischen Vergleich von zunehmender Verwahrlosung sprechen.
Diese Wertegeneralisierung ist für das gesellschaftliche Leben zentral. Sie steht allerdings neben einer anderen Form gesellschaftlichen Umgangs mit Pluralität. Die Pluralität kann in Richtung wechselseitigen Lernens voneinander ausgeglichen werden; sie kann aber auch schlicht eingeklammert werden. Für die europäische Rechts- und Politikgeschichte ist die Einsicht zentral, daß tief reichende Unterschiede der Weltanschauung sich weder auf Dauer unterdrücken noch in einer idealen Zukunft völlig aufheben lassen, sondern der friedliche Umgang mit ihnen nur durch ihre Anerkennung erreicht werden kann. Dies setzt im Recht, insbesondere aber in den Verfahren politischer Beteiligung wie im Wahlrecht eine Einigung auf Prozeduren und eine Bereitschaft voraus, sich an diese Prozeduren zu halten, selbst wenn das Ergebnis nicht den eigenen Bestrebungen entspricht. Ich nenne diesen Prozeß deshalb „Prozeduralisierung“. Eine solche Prozeduralisierung, die ja Rechtsgehorsam und Toleranz erfordert, ist nicht wertfrei, verschiebt aber den Dissens auf eine höhere Ebene. Die primären Wertbindungen bleiben hier untangiert; es bedarf nur der allgemeinen Einwilligung in geteilte Prozeduren.
Ich sehe keine prinzipielle Alternative zwischen diesen beiden Formen des Umgangs mit einer Pluralität der Werte: Wertegeneralisierung und Prozeduralisierung. Es war eine Sackgasse der Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, eine solche prinzipielle Alternative zu unterstellen. Eine demokratische Gesellschaft bedarf sehr wohl des dynamischen Prozesses öffentlicher Auseinandersetzung über Werte. Der öffentliche Raum sollte daher nicht – wie in der Vision der Säkularisten – von allen Äußerungen und Symbolisierungen der partikularen Wertetraditionen freigehalten werden. Im Gegenteil wäre die Präsenz vielfältiger Äußerungen und Symbolisierungen gerade wünschenswert, um den Prozeß wechselseitigen Lernens in Gang zu setzen. Aber ein demokratischer Staat bedarf auch der eindeutigen und unbedingt geltenden Rechtsordnung, an die alle sich zu halten haben, was immer die partikulare Wertetradition ist, an die sie sich gebunden fühlen. Ein dogmatischer Liberalismus sieht nur das zweite Prinzip, ein leichtfertiges Plädoyer für Werteorientierung in der Politik nur das erste. Es geht aber um das Zusammenwirken beider Prozesse – und natürlich um die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche.
Zentral scheint mir zu sein, daß in der Tat die Forderung nach Werteorientierung in der Politik dort illegitim wird, wo dem anderen anderes abverlangt wird als ein Konsens in den Werten, die unsere Rechts- und Verfassungsordnung tragen. Niemand ist verpflichtet, in den gegenwärtigen in Deutschland üblichen Lebensformen das Heil zu sehen. Ich wundere mich in den Debatten über eine deutsche Leitkultur of, wie historisch kurzsichtig dort argumentiert wird. Es werden Dinge zur kulturellen Selbstverständlichkeit erklärt, die es noch in meiner Kindheit und Jugend keineswegs waren (von der Koedukation über die Gleichberechtigung der Geschlechter bis zur Toleranz gegenüber offener Homosexualität). Mein Plädoyer gilt deshalb einer strikten Unterscheidung zwischen den Anforderungen der Rechtsordnung, aus denen die obligatorischen Verhaltenserwartungen folgen, und den Chancen eines kulturellen und intellektuellen Prozesses der Auseinandersetzung über Werte, der ein offenes Ende hat und allen Beteiligten Veränderungen nahelegt. Gerade auch als katholischer Christ erwarte ich eine große Chance für die Botschaft des Evangeliums, wenn sie sich von Nützlichkeits-Rhetorik, Abendlandideologie und Selbstbeweihräucherung gereinigt in den Auseinandersetzungen der Gegenwart über werteorientierte Politik auf diese Weise Gehör verschafft.

Hans Joas

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