Kirche in der Demokratie
Rede von Prof. Dr. Hans Maier im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Redemanuskript:
Es gilt das gesprochene Wort
1. Ängste und Hoffnungen
„Ich blicke um mich und sehe überall nur die Demokratie. Ich sehe die Sintflut steigen, immer weiter steigen. Ich würde wohI erschrecken als Mensch; ich erschrecke nicht als Christ, denn zur gleichen Zeit wie die Sintflut sehe ich auch die Arche.”
Diese Sätze stehen in einer Rede, die der französische Katholikenführer Montalembert 1863 im belgischen Mecheln hielt. In ihnen spiegeln sich Furcht und Hoffnung angesichts einer Epochenwende, die viele schon damals als endgültig und unwiderruflich erkannten, in der sie aber auch Gefahren und Risiken sahen. Die „neue Zeit” galt als unberechenbar, als ein Schritt ins Unbekannte. Was würde sie für Staat und Kirche bringen? Verfall, Anarchie, den Niedergang der Religion, das Ende eines gealterten Christentums? Oder umgekehrt die Wiedergeburt der Kirche aus dem Geist der Freiheit - der Achtung vor der Menschenwürde und den Menschenrechten, die — wenn auch manchmal in verzerrter Form — in den modernen Revolutionen zutage getreten war?
Ziemlich genau hundert Jahre nach Montalembert, am 11. Oktober 1962, warnte Papst Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils ein-dringlich vor jenen Ängstlichen, die in den heutigen Verhältnissen nur Unglück und Untergang sehen wollten. „Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die immer das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergang stünde. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Dieser verfolgt mit dem Ablauf der Zeiten, durch die Werke der Menschen und meistens über ihre Erwartungen hinaus sein eigenes Ziel, und alles, auch die entgegen gesetzten menschlichen Interessen, lenkt er weise zum Heil der Kirche."
Noch eine weitere Gegenüberstellung ist aufschlussreich: Am 10. März 1791, im dritten Jahr der Französischen Revolution, bezeichnete Papst Pius VI. in seinem Breve „Quod aliquantum” die Behauptung einer angeborenen Freiheit und Gleichheit des Menschen (wohlgemerkt: unter irdischen, nicht paradiesischen Bedingungen!) als „absurd” und „sinnlos” (inanis). Fast zweihundert Jahre später, am 1. Juni 1980, sagte Papst Johannes Paul II. bei seinem ersten Frankreichbesuch auf dem Flughafen Le Bourget: „Jeder weiß, welchen Platz die Idee der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in eurer Kultur und in eurer Geschichte einnimmt. Im Grunde sind das christliche Gedanken.” Der Papst fügte hinzu: „Ich sage das, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass die, die als erste diese Idee formuliert haben, sich dabei nicht auf den Bund des Menschen mit der ewigen Weisheit bezogen, aber sie wollten doch zugunsten des Menschen wirken.”
II. Eine Beziehung entsteht
Inzwischen lebt die Kirche schon seit vielen Jahrzehnten „in der Demokratie” – in Europa seit dem Ende des Ersten Weltkriegs (wenn auch mit gewichtigen Unterbrechungen durch autoritäre und totalitäre Regime) und in der ganzen Welt seit dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte 1945, der UNO-Deklaration über die Menschenrechte 1948, der Entkolonialisierung in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren und dem Zusammenbruch des kommunistischen Weltreichs 1989/90. Was heißt das – in der Demokratie leben, unter demokratischen Verhältnissen leben? Was bedeutet es speziell für die Kirche? Wie hat sie auf die neuen Gegebenheiten reagiert? Welche Schlüsse hat sie aus den veränderten geschichtlichen Verhältnissen gezogen?
1. Im demokratischen Zeitalter – darin hatten die Unglückspropheten nicht ganz Unrecht – schwanden viele alte Sicherheiten dahin. Plötzlich konnte man sich nicht mehr im Gegebenen, im Vorfindlichen einrichten wie früher. Viele Geländer waren weg gebrochen, viele Traditionen hatten ihre Kraft verloren. Vieles, was ewigen Bestand zu haben schien, verschwand im 19. und 20. Jahrhundert oder verlor seine alte Geltung heilige Reiche, gesalbte Herrscher, geweihte Bräuche, Staatskirchen und Staatsreligionen - am Ende auch der Kirchenstaat als geistlich-weltliche Macht. Die Katholiken mussten fast um alles kämpfen, was bisher selbst-verständlich gewesen war. Wo man sich früher einfach auf Rechte und Gewohnheiten berufen konnte, galt es nun eigene Initiativen zu entwickeln. Demokratie als Pflicht zur Initiative – das war anfangs mehr als ungewohnt, es wirkte wie eine Schocktherapie. Aber war der Schock nicht heilsam für die ganze Kirche?
Die deutschen Katholiken haben den mehr als hundertjährigen Wandel vom Alten Reich zum Nationalstaat, später zur Republik und zur Demokratie in allen Phasen am eigenen Leib erlebt. Als das Alte Reich zu Ende ging – 1806, vor zweihundert Jahren -, da stellten sie noch die Bevölkerungsmehrheit. 1866, nach dem Ausschluss Österreichs, und 1871, nach der Gründung des Kleindeutschen Reiches, waren sie zur Minderheit im eigenen Land geworden, die vielerorts für ihre Rechte streiten musste. Beim Kampf um den Nationalstaat ging es auch um das Zahlenverhältnis der Konfessionen: Wie viele Protestanten, wie viele Katholiken
sollte es geben im künftigen Reich? Und es ging um die geistige Führung: hatte schon die Säkularisierung den katholischen Volksteil verhängnisvoll geschwächt, indem sie viele Schulen und Hochschulen schloss und die stiftische Bau-, Bild- und Tonkultur in weiten Teilen zerstörte, so sollte im „Kulturkampf` die Dominanz der „Anderen” endgültig festgeschrieben werden: die katholische Welt sollte kein Teil der nationalen Kultur mehr sein! Von da war es nicht weit bis zu der Behauptung, Katholiken könnten keine loyalen Staatsbürger sein, weil sie sich mit den romanischen und slawischen Nachbarn in Europa enger verbunden fühlten als mit den protestantischen Landsleuten und weil sie einem „ausländischen Souverän” — dem Papst — gehorchten.
Aber dieselbe demokratische Bewegung, welche die alten reichsrechtlichen Fundamente auflöste und die Katholiken in die Minderheit versetzte, stellte ihnen auch geeignete Mittel zur Verteidigung ihrer Interessen zur Verfügung: den Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz als zentrales Element der neu entstehenden Verfassungen, das Vereinsrecht, das Petitionswesen, die öffentliche Meinung. So waren die Jahre seit 1837, dem Jahr des „Kölner Ereignisses”, und seit 1844, dem Jahr der Wallfahrt nach Trier, bis hin zum Jahr 1919, dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Proklamation der Weimarer Verfassung, eine Zeit der umfassenden Sammlung: die Katholiken organisierten sich in Vereinen und Verbänden, in sozialen und politischen Organisationen, in der Zentrumspartei, in Generalversammlungen (so der ursprüngliche Titel der Katholikentage!), in Standesvereinigungen, in wissenschaftlichen und pädagogischen Gesellschaften - in einer Fülle von Gruppierungen, die den deutschen Katholizismus zum Schrittmacher einer „Bürgergesellschaft” machten, die die künftige Demokratie vorwegnahm. Auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat hier seinen Ursprung - und man darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass es nicht nur älter ist als manche gleichfalls im 19. Jahrhundert entstandenen liberalen und sozialistischen Lokal- und Zentralkomitees, sondern dass es sie im Lauf der Zeit auch alle überlebt hat.
2. Eine solche Sammlung auf dem Boden freier Vereinsbildung war nur möglich durch die Initiative katholischer Laien — und so hat die moderne Demokratie zweifellos dazu beigetragen, dass das Laienelement in den letzten beiden Jahrhunderten in der katholischen Kirche erstarkte und an Gewicht gewann. Es ist heute aus dem Bild der Kirche nicht mehr wegzudenken. Die Laien haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Kirche in der modernen Gesellschaft ihren Platz fand — jenen Platz, den ihr die Anwälte des „Kulturkampfs” streitig machen wollten. Sie haben die öffentliche Repräsentation der Kirche wieder herstellen helfen, und dies nicht durch zwischenstaatliche diplomatische Aktionen, sondern durch die Entwicklung politischer Stärke im Innern, aus demokratischem Engagement heraus.
Auch dafür gibt es in unserer Geschichte einen sprechenden Vorgang Vom 3.-6. Oktober 1848 trat in Mainz die erste Generalversammlung der Vertreter der katholischen Vereine — der erste Katholikentag — zusammen: eine Versammlung von Laien unter einem gewählten Laienpräsidenten, obwohl auch Priester ohne kirchlichen Auftrag mitarbeiteten, die von den Vereinen delegiert waren. Vom 22. Oktober — 16. November folgte dann in Würzburg die erste deutsche Bischofskonferenz unter dem Vorsitz des Salzburger Kardinals und Primas Germaniae Schwarzenberg. Während aber die Bischofskonferenz wegen römischer Ängste vor nationalkirchlichen Tendenzen nicht fortgesetzt wurde — erst seit 1867 traten die Bischöfe in unterschiedlichen Intervallen wieder regelmäßig zusammen - , gingen die Katholikentage nach 1848 in ununterbrochener Folge weiter bis zum Ersten Weltkrieg waren es sechzig an der Zahl. Mit anderen Worten: gesamtdeutsch war die Kirche in den entscheidenden Jahr-zehnten der Formung des Nationalstaats vor allem durch die Katholikentage sichtbar — eine Manifestation der Laien, auf der die katholischen Forderungen an die Gesellschaft formuliert wurden und bei der (vor allem nach dem Kulturkampf) das gewachsene Selbstbewusstsein der konfessionellen Minderheit im protestantischen Kaiserreich hervortrat.
Natürlich standen die deutschen katholischen Laien in ihrem Kampf für die Rechte der Kirche nicht allein. In ganz Europa, besonders in Frankreich, Italien, Belgien, Irland bezogen Laienkräfte ähnliche Positionen. Sie hatten als erste die neue Lage begriffen: da der säkularisierte Staat der Kirche keine Stütze mehr bot, mussten die Katholiken selbst die Initiative ergreifen; und da die öffentliche Gewalt nur respektierte, was organisiert war, mussten sie stark werden, um sich durchsetzen zu können. In nachrevolutionärer Zeit durfte die Kirche mit gutem Grund vom Staat das Recht der Selbstregierung zurückverlangen. Sie musste sich nicht mehr damit zufrieden geben, einfach beherrscht und verwaltet zu werden „wie Zölle und Steuern”. Doch damit stellten sich neue Fragen. Wer war die Kirche? Wie setzte sie sich zusammen? Wer handelte in ihrem Namen? Gab es, je nach Lage der Dinge, unterschiedliche Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, kontroverse Engagements der Gläubigen? Oder musste alles in einer Hand, der Hand des Amtes, der Bischöfe, bleiben? Wer trug die Gesamtverantwortung? Konnten die Laien nur unter bestimmten Bedingungen politisch tätig werden: in Frankreich etwa unter einem Generalvorbehalt gegenüber der seit 1905 endgültig laizistischen Republik — in Italien auf nationaler Ebene nur mit Kautelen und Einschränkungen, solange das Problem des Kirchenstaates offen war?
In Deutschland war der Kulturkampf — zum Zorn des Laienführers Windthorst — ein letztes Mal mit kirchendiplomatischen Mitteln geschlichtet worden: durch direkte Verhandlungen zwischen Bismarck und dem Papst, was für die kirchlichen Interessen nicht günstig war. In Frankreich dagegen war das von Leo XIII. erstrebte „Ralliement”, die Aussöhnung mit der Republik, misslungen. Generell kann man sagen, dass sich die Mittel der Kirchendiplomatie und der überlieferten Konkordatspolitik in dem „langen Jahrhundert” vor dem Ersten Weltkrieg immer mehr erschöpften. Es bedurfte neuer, anderer Kräfte, um den Umgang zwischen Staat und Kirche im demokratischen Zeitalter zu gestalten.
Nach 1918 hatte sich die Lage grundlegend verändert. Um die Rechte der Kirche in den neuen demokratischen Verfassungen Europas zu sichern, genügten Verträge nicht mehr, bedurfte es der geschlossenen Mitwirkung der Laien und einer beharrlichen, auf Gruppenmacht gestützten Einflussnahme auf die Politik. Spätestens zu dieser Zeit war nicht mehr zu übersehen, dass das Problem Kirche in der Demokratie auch eine innerkirchliche Seite hatte. Die grollende Frage Kardinal Mannings: „Wer sind denn diese Laien?” verlangte nach einer der Kirche angemessenen, also einer theologischen Antwort, und es genügte nicht mehr die einfache Auskunft des römischen Monsignore Talbot, der an den Erzbischof geschrieben hatte: „Welches ist das Gebiet der Laien? Zu jagen, zu schießen, sich zu unterhalten. Diese Dinge verstehen sie; aber sich in kirchliche Angelegenheiten zu mischen haben sie gar kein Recht.”
III. Die Kirche und die Laien
So entstand in der Zeit zwischen den Kriegen nicht nur ein breites Laienengagement in der katholischen Kirche, es entstand auch eine Theologie des Laientums — in enger Verbindung mit neuen Ansätzen in der Lehre von der Kirche. Die Kirche als Volk Gottes, das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen, das aus Taufe und Firmung erwachsende Apostolat der Laien, das alles rückte jetzt ins Zentrum der Betrachtung. Die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Realitäten, in der die Christen lebten, wurden zur Kenntnis genommen und untersucht — sie sollten künftig von innen her erschlossen, nicht einfach äußerlich angeeignet und in Dienst genommen werden. Liturgiebewegung und Laienapostolat — lange Zeit getrennt — vereinigten ihre spirituellen Energien: es genügt, an Namen wie Romano Guardini, Yves Congar, John Courtney Murray, Karl Rahner, Ferdinand Klostermann zu denken. Diese neue Sicht auf Welt und Kirche trug ihre Früchte, sie mündete in ein vertieftes Kirchenbild im Zweiten Vatikanischen Konzil.
In den Konzilstexten ist von den Laien an drei Stellen eingehend die Rede: in der Konstitution über die Kirche (Lumen gentium), im Dekret über das Apostolat der Laien (Apostolicam actuositatem) und in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes). Umreißt Lumen gentium den Ort der Laien im Gesamtaufbau der Kirche, so knüpft Apostolicam actuositatem an die Laienaktivitäten an, wie sie sich vor allem in Europa und in Amerika seit den modernen Revolutionen herausgebildet haben. Gaudium et spes schließlich entwickelt eine differenzierte Sicht des Handelns von Christen in einer pluralistischen Gesellschaft, indem es unterscheidet zwischen „dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden”, tun und „dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten” tun (GS 76).
Erstmals in der Kirchengeschichte werden die Laien in LG 30 als „Stand” bezeichnet. Stände waren in der Kirche die Bischöfe — seit Konstantin den römischen Senatoren gleichgestellt -, sodann im Mittelalter die Priester und Ordensleute. Die Laien dagegen waren keine Standespersonen — sie waren einfach die Nicht-Kleriker: so noch der Codex luris Canonici von 1917. Peter Hünermann sagt zu dieser Stelle in seinem 2004 erschienenen Kommentar zu Lumen gentium: „Zum Volk Gottes gehören Laien, Ordensleute und Kleriker gleichermaßen. Den Laien, Männern und Frauen, kommt im Rahmen des Volkes Gottes eine eigene Stellung und eine eigene Sendung zu. Indem Stellung und Sendung der Laien von Ordensleuten und Klerus abgehoben werden, wird verdeutlicht, dass es sich bei der Bestimmung der Laien um eine Charakteristik handelt, die auf der Ebene der verfassten, der institutionalisierten Kirche spielt. Es handelt sich um ein wesentliches Moment der ,compago ecclesiae”` — also des Aufbaus und Zusammenhalts der Kirche.
Der öffentliche Spielraum der Laien — so sieht es das Konzil — ist groß und weit. Ihre Rolle beschränkt sich keineswegs darauf, als „verlängerter Arm” des Klerus zu agieren wie im Konzept der Katholischen Aktion. Das knüpft an altkirchliche Strukturen an, an eine verloren gegangene Unbefangenheit und Freiheit der Christen im Leben und Handeln in der Welt Schon immer durften Laien in der Kirche vieles tun, was Geistliche nicht dürfen: Handel treiben, Politik machen, eine Familie gründen, Kinder aufziehen. Umgekehrt können Laien keine Messe zelebrieren, nicht Firmung, Bußsakrament und Krankensalbung spenden — und an kirchlichen Diensten haben sie zwar größeren Anteil als früher (zumal im Zeichen des Priestermangels!), aber ihnen steht nichts zu von dem, was an das Weihesakrament gebunden ist.
Heute, im demokratischen Zeitalter, dürfen, ja müssen sich die Laien in allen öffentlichen Angelegenheiten, im politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Leben engagieren: breit, vielfältig — und in nicht wenigen Fällen gewiss auch kontrovers. Es kann vorkommen, dass Katholiken bei Wahlen anders entscheiden, als einzelne Bischöfe es vielleicht erwarten (wir haben es soeben in Italien erlebt!) — nach dem Zweiten Vaticanum wird sie kein Wahlhirtenbrief mehr daran hindern. Es kann vorkommen, dass katholische Politiker, wie im parlamentarischen Leben unausweichlich, Kompromisse eingehen, um ihre Ordnungsvorstellungen unter gegebenen Umständen so gut wie möglich durchzusetzen — dafür müssen sie dann im konkreten Fall die persönliche Verantwortung tragen. Es kann auch vorkommen, dass Laien nach reiflicher Gewissensprüfung Aufgaben übernehmen, die das Amt nicht weiterführen kann oder will — ein Beispiel in Deutschland ist die Gründung von „Donum vitae” durch katholische Laien nach dem Ausstieg der Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung und deren Weiterführung mit Hilfe des Vereinsrechts. Auch hier muss abgewogen werden, ob man im Namen einer vorgeblichen Reinheit der Prinzipien das Feld säkularen Kräften überlassen will — oder ob man sich bemüht, aus einer unbefriedigenden, aber im Vergleich zu fast allen europäischen Ländern deutlich lebensfreundlicheren Gesetzeslage (Beratungspflicht!) das Beste zu machen. Oder will jemand im Ernst behaupten, ein Gesetz ohne Beratungspflicht entspräche kirchlichen Vorstellungen besser? Im übrigen meine ich: etwas, was alle deutschen Bischöfe (mit einer Ausnahme) fünf Jahre lang praktiziert haben, wird nicht dadurch falsch, dass Laien es fortführen!
Zum Schluss ein Wort zu den Räten in der Kirche. Das Zweite Vaticanum hat zu einer kräftigen Neubelebung synodaler Formen in der Kirche geführt. So werden in LG 22 die Konzilien — sie tragen ja bis heute den Namen oecumenica synodus — als uralte und vorbildliche Einrichtungen bezeichnet. Da ist kein Hauch mehr von der alten Konzilsfurcht, die lange Zeit in der Kirche, und vor allem bei den Päpsten, umging. Die wichtigsten Bausteine für ein teilkirchliches Synodenwesen lagen bereits in den Konzilstexten bereit, nämlich (ich zitiere Karl Lehmann in seiner Einleitung zur Gesamtausgabe der Synodenbeschlüsse 1976) „die Bedeutung der Ortskirchen und der bischöflichen Kollegialität"...und „die Teilnahme aller Gläubigen an der Sendung der Kirche”.
So hat die Würzburger Synode vor mehr als dreißig Jahren den deutschen Katholizismus in eine neue Form gebracht, indem sie synodale Elemente an wichtigen Stellen einführte: am umfassendsten bei den Strukturen der Mitverantwortung in Pfarreien, Dekanaten und Diözesen und — von nicht zu unterschätzender Bedeutung — durch die Schaffung einer „Gemeinsamen Konferenz” zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Nach dem Ende der Synode wurde auch das Zentralkomitee im Geist des Konzils durch Beifügung synodaler Elemente neu gestaltet. Seither gehören nicht nur die Verbändevertreter, sondern auch die Diözesanvertreter (neben den Einzelpersönlichkeiten) zu uns. Übrigens: unter den 312 Würzburger Synodalen waren 140 Laien. Das Statut der Synode war von Rom genehmigt worden.
Ich war selbst Synodale und habe nicht gehört, dass die Bischöfe gegen den Beschluss, der die Mitwirkung in den Pfarreien, Dekanaten, Diözesen regelte (er trug den Titel: „Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche”) Einspruch erhoben hätten — was sie
nach dem Statut durchaus hätten tun können. Im Gegenteil: alle haben diesen Beschluss (durchaus mit örtlichen Varianten!) in ihren Diözesen umgesetzt. Die damals gefundenen Strukturen haben sich inzwischen in einer jahrzehntelangen Praxis in der Kirche in Deutschland bewährt. Grundlegend andere Formen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens sind nach dem Zweiten Vaticanum und seiner Lehre von der Kirche auch schwer vorstellbar.
So muss es verwundern, dass einzelne Stimmen – und in jüngster Zeit sogar eine römische Kongregation – die Meinung vertreten, die Synodenbeschlüsse seien mit dem neuen Codex luris Canonici von 1983 als „Gewohnheitsrecht” aufgehoben worden. Wie das Vorgehen der Bischöfe in ihren Diözesen gezeigt hat, handelt es sich aber bei den Würzburger Beschlüssen nicht um Gewohnheitsrecht, sondern um (teilkirchliches) Gesetzesrecht. Hier besteht Klärungsbedarf, sollen sich nicht Unruhe und Unsicherheit in den Diözesan-, Dekanats- und Pfarrgemeinderäten verbreiten. Die Bischöfe sollten sich, meine ich, zu dieser Frage klar und deutlich äußern – schließlich ist die Würzburger Synode nicht ein Werk der Laien, sondern ein gemeinsames Werk.
Klärungsbedarf besteht nach den Regensburger Vorgängen auch bezüglich des Verhältnisses von Wahl und Berufung der Räte. Räte auf Pfarr-, Dekanats- und Diözesanebene werden durch Wahlen bestellt – ein selbstverständlicher Vorgang. Kann ein Bischof gewählte Räte absetzen, indem er das Gremium aufhebt, in das sie gewählt sind? Im weltlichen Recht wäre das ein gänzlich unakzeptables Verfahren. Würde es in der Kirche einreißen, wären Treu und Glauben rasch verloren, und allgemeines Misstrauen würde sich ausbreiten angesichts unberechenbarer Verhältnisse und stets möglicher Willkür.
Ich hoffe, wir alle besinnen uns wieder darauf, dass die Kirche von heute – schon seit Jahr-zehnten - in einer demokratischen Umwelt existiert. Die Kirche ist keine Demokratie. Aber sie lebt in einer Demokratie. Will sie in der Gesellschaft präsent sein und bleiben, muss sie demokratische Wege gehen und sich demokratischer Mittel bedienen. Dazu gehört die Anerkennung des für alle geltenden Rechts; dazu gehört die Rücksicht auf andere – dazu gehört auch ein wenig Zurückhaltung im Hinblick auf eigene Unvollkommenheit und Fehlbarkeit. Wir alle, Laien, Kleriker, Ordensleute, sollten uns nicht größer machen, als wir sind, eher ein wenig kleiner. Wir sollten uns abstimmen und Alleingänge vermeiden. Und wir sollten wissen, dass die Präsenz der Kirche im demokratischen Zeitalter nicht an unserem eigenen „Rennen oder Laufen” liegt, sondern – wie immer in der Geschichte - allein an Gottes Erbarmen. „Die Kirche hält stand, trotz uns” (Henri de Lubac).
Prof. Dr. Hans Maier