Ethische Grundlagen. Sozialethische Perspektive
Rede von Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer im Rahmen des Symposiums der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Kardinal,
sehr geehrter Herr Präsident Prof. Meyer,
sehr geehrte Damen und Herren,
das mir gestellte Thema: Sozialethische Perspektive auf die Ehe hat sich im Rahmen meiner Vorbereitungen auf den heutigen Nachmittag als eine wirkliche Herausforderung enthüllt. Auf den ersten Blick wird Ihnen das vielleicht unverständlich erscheinen, gibt es doch zurzeit keine Diskussionsveranstaltung, keine Publikation im weiten Umfeld von Sozialstaat, Politik und Wirtschaftswachstum, in denen nicht die Fragen der Familienpolitik einen, wenn nicht den zentralen Stellenwert einnehmen. In nahezu jedem Bereich, sei es Sozialstaatsproblematik, sei es Bildungspolitik, sei es Unternehmenspolitik hat man den Wert, leider oft nur den ökonomischen Wert, der Berücksichtigung von Familienfragen erkannt.
Aber beim näheren Hinsehen offenbart genau das die Problematik meines speziellen Themas: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes, so sagt es Art. 6 Abs. 1. Nahezu immer in den oben genannten Diskussionen werden Ehe und Familie in einem Atemzug genannt, aber es geht auch nahezu immer nur um die Familie – sowohl in öffentlichen als auch in wissenschaftlichen Diskursen dazu. Beides, Ehe und Familie, soll nicht getrennt, wohl aber unterschieden werden. Die Ehe als eigenständige Institution wird nahezu nicht bedacht und thematisiert, erst recht nicht, wenn es um eine sozialethische Perspektive geht, die nach der sozialen Gerechtigkeit gesellschaftlicher Institutionen, Strukturen und Einrichtungen fragt.
Von daher begeben wir uns mit dieser von mir hier vorzutragenden Perspektive auf ein relativ unbeackertes Feld. Meine Überlegungen hierzu haben darum auch eher den Charakter eines Arbeitspapiers, mit dem ich Sie an der Entwicklung meiner Gedanken teilhaben lassen möchte als dass ich Ihnen hier eine fertige und systematisch abgerundete Ausarbeitung vorlegen würde.
In einem ersten Schritt sollen einige Aspekte einer Bestandsaufnahme vorgetragen werden hinsichtlich der Frage (die der Formulierung des Themas dieser Veranstaltung völlig konträr läuft), ob die Ehe ein Auslaufmodell ist. Sodann wird ein zweiter Schritt aus sozialethischer Perspektive verschiedene Funktionen der Ehe in den Blick nehmen, damit also eine Begründung geben, warum die Ehe eine vom Staat in besonderer Weise geschützte Institution ist. Ein letzter kurzer Schritt wird zwei sehr unterschiedliche Handlungsoptionen benennen, die für die Förderung und Anerkennung der Ehe in ihrer Besonderheit von großer Bedeutung sind.
1. Bestandsaufnahme: Ehe - ein Auslaufmodell?
Ein detaillierter Blick auf die Situation der Ehe in der gegenwärtigen Gesellschaft zeigt hier eine äußerst zwiespältige Realität. Sie ist gekennzeichnet durch gegenläufige und widersprüchliche Entwicklungstendenzen:
1.1 Die Ehe als überforderte und überholte Institution?
Auf der einen Seite stehen statistische Zahlen, die eine klare Sprache sprechen: die Scheidungszahlen steigen – jede dritte, neu geschlossene Ehe in Deutschland wird geschieden -, insgesamt sinkt die Zahl der Eheschließungen, die der nicht-ehelich geborenen Kinder steigt.
Hierin artikuliert sich der unverkennbar die Gegenwart beherrschende Individualisierungs- und Enttraditionalisierungsprozess: „Selbstinszenierung der eigenen Biographie“ (E. Schockenhoff), Funktionsverlust überkommener Werte, ausschließlich der eigenen freiheitlichen Selbstverwirklichung verpflichtete individuelle Wahl der Lebensform sind die vorherrschenden Optionen, in deren Folge die Ehe sowie die Familie klassischer Prägung (als Zusammenleben verheirateter Eltern mit ihren Kindern) scheinbar als überforderte Institution gesehen werden muss, die den aktuellen Entwicklungen nicht standhalten kann und deren Ende notwendig eingeläutet scheint. Der als Folge des Liberalismus wirksam werdende Mythos des isolierten Individuums, dem es vorrangig oder gar ausschließlich um die Realisierung der eigenen Interessen geht, kommt hier zum Tragen. Er sieht den Menschen als ein Wesen an, das primär und ursprünglich völlig außerhalb aller Institutionen und sozialen Beziehungen steht. Dass in solcher Perspektive die Institution der Ehe, in der es um die bedingungslose und lebenslange Bindung an einen Partner geht, keinen konstitutiven Ort mehr findet, liegt auf der Hand.
Unsere (Arbeits-)Gesellschaft mit ihren höchsten Anforderungen an zeitliche, räumliche und emotionale Mobilität und Flexibilität der Arbeitnehmer und Unternehmer scheint auch einen nicht größer möglichen Kontrast zum Modell der Ehe darzustellen, die auf Kontinuität, Dauer, Verlässlichkeit und Treue angelegt ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ehe vielen als ein überholtes, mit der gesellschaftlichen Komplexität Anfang des 21. Jahrhunderts vollständig überfordertes Modell der Lebens- und Partnerschaftsgestaltung, als ein Relikt aus vormodernen Zeiten. Ehe als eine Liebes-, Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft, als eine Institution, die aus dem Versprechen lebt, sich als Partner gerade auch in Notsituationen (hier sei etwa verwiesen auf die heute so viel beachtete der Arbeitslosigkeit, aber auch der Krankheit und der Pflege) wechselseitig beizustehen, scheint eine Bestimmung zu sein, die wie eine Stimme aus einer anderen Zeit und Welt klingt, aber nichts mehr mit unserer Gegenwart zu tun hat.
Ein letzter Punkt sei an dieser Stelle noch erwähnt: „Die Ehe zählt als etwas so Privates, dass sie in Gegensatz kommt zu ihrer öffentlichen Gestalt und Bedeutung. Das freie, individuelle Partnerverhalten erscheint nur als eine Sache der Zuneigung einzelner Menschen, die in keinem Fall durch irgendwelche Formen ‚gesellschaftlicher Reglementierungen’ berührt werden darf.“ (K. Lehmann 2003, 120.) Die Institution der Ehe wird damit in solchem Denken verstanden als unzulässige Einmischung der Gesellschaft in die rein persönliche und private Ausgestaltung der partnerschaftlichen Beziehung bzw. als eine von außen kommende, geradezu der privaten Liebe aufgezwungene und sie letztlich zerstörende Form. Liebe und rechtliche Form gelten als etwas Unvereinbares.
1.2 Das Kind als Voraussetzung für eine Ehe?
Stehen auf der einen Seite die gerade skizzierten Tendenzen zum Bedeutungsverlust von Ehe, so zeigen auf der anderen Seite aktuelle Umfragen mit großer Konstanz, dass junge Menschen der Ehe und Familie - eine Lebensform, die oft genug als Auslaufmodell partnerschaftlicher Lebensgestaltung und Relikt vergangener Zeiten bezeichnet wird - nach wie vor in ihrem individuellen Lebensentwurf hohe, ja, nimmt man nur den privaten Bereich in den Blick, sogar höchste Priorität einräumen. 75% der Bevölkerung sind weiterhin davon überzeugt, ausschließlich in einer Familie glücklich leben zu können. Achtzig Prozent der Bürger Deutschlands leben oder lebten in Familien. Es gibt so etwas wie „Lust auf Familie“. Allerdings führt an der Erkenntnis der Pluralisierung der Lebens- und auch der Familienformen, die seit dem Ende der 1960er Jahre infolge eines großen Modernisierungsdrucks eingesetzt hat, kein Weg vorbei. Neben der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften haben – nicht zuletzt aufgrund der gestiegenen Scheidungshäufigkeit – vor allem die Stiefelternverhältnisse (sog. „Patchworkfamilien“) und die Ein-Eltern-Familien (allein Erziehende) zugenommen. Die allgemeine (öffentliche) Aufmerksamkeit für diese Pluralisierung der Familienformen darf aber nicht zu dem Urteil führen, als wäre die traditionelle Familie bereits eine gesellschaftliche Randerscheinung, denn noch immer wachsen [in den alten Bundesländer] drei von vier Kinder bis zur Volljährigkeit mit beiden leiblichen Eltern auf.
Dieser empirische Befund widerspricht aber nicht notwendig der oben festgestellten veränderten Einstellung zur Institution Ehe. In diesem Verbund Familie rückt die Lebensform der Erwachsenen zunehmend in den Hintergrund oder wird erst dann bedeutsam, wenn wirklich Familie entsteht, d.h. ein Kind geboren wird. Das ist eine Entwicklung, die die bisher gesellschaftlich eingeübte Reihenfolge umkehrt: Während traditionell die Familiengründung der Eheschließung gefolgt ist, also eine Ehe geschlossen wurde, um Kindern das Leben zu schenken, sind heute meist Kinder der Anstoß für eine Eheschließung.
2. Sozialethisch relevante und sozialethische Aspekte:
Der besondere verfassungsrechtliche Schutz der Institution der Ehe – nicht aufgrund eines Privilegs, sondern aufgrund ihrer Dienstfunktion an der Gesellschaft
Das deutsche Grundgesetz stellt in Artikel 6, Abs. 1 Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht und Paul Kirchhof weist darauf hin, dass der Staat durch diesen Schutzauftrag verpflichtet wird, „in seiner Rechtsordnung das Institut der Ehe und Familie bereitzustellen, diese Persongemeinschaften als Keimzellen jeder staatlichen Gemeinschaft zu achten und zu schützen und die Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern sowie von Beeinträchtigungen und Belastungen zu bewahren.“ (P. Kirchhof 2003, 9f.)
Angesichts des oben skizzierten zeitgenössischen Wandels der Einstellungen zur Institution der Ehe, der sich auch in der jüngsten Gesetzgebung und Rechtsprechung niedergeschlagen hat, drängt sich nun freilich die Frage auf, welche Begründung es für den speziellen, grundgesetzlich verankerten staatlichen Schutz der Institution Ehe (noch) gibt. Handelt es sich hier um einen Artikel, der in der Nachkriegszeit eher versehentlich Eingang in das Grundgesetz gefunden hat und heute als völlig unzeitgemäß entfernt gehört oder handelt es sich um eine Lebensform, die nicht im Sinne eines Privilegs, sondern aufgrund ihres Dienstes an der Gesellschaft mit Recht unter besonderem Schutz des Grundgesetzes steht.
Bevor nun die einzelnen Funktionen der Ehe im Dienst an der Gesellschaft thematisiert werden, sei eine methodische Anmerkung vorab erlaubt: In einer christlich-(sozial)ethischen Argumentation, wie sie hier vorgelegt wird, spielen neben dogmatischen Gründen auch anthropologische, soziologische und kulturelle Aspekte eine entscheidende Rolle, sind also sozialethisch relevant. Denn die christliche Botschaft betrifft den Menschen in all seinen Dimensionen. Eine dem angemessene ethische Argumentation muss die „richtige Autonomie der Kultursachbereiche“ (Pastoralkonstitution des II. Vatikanums, Gaudium et spes Nr. 36) ernst nehmen, d.h. die Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit dieser Bereiche in die Überlegungen einbeziehen. Dass solcher Argumentationsstruktur im heutigen gesellschaftlichen Diskurs noch einmal zusätzlich besondere Bedeutung zukommt, liegt angesichts der zunehmenden Pluralisierung der Überzeugungen auf der Hand.
2.1 Die humanitätsfördernde Funktion der Ehe
Da die westeuropäischen Gesellschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung in weiten Zügen vom christlichen Glauben und dessen Menschen- und Weltbild geprägt sind und dies bis heute, wenn auch oftmals nur noch „anonym“, seine Wirkung entfaltet, sei als ein bedeutsames Element der Antwort das spezifisch theologische genannt: die Ehe und die auf ihr gegründete Familie liegen in der Schöpfungsordnung begründet und sind konstitutiver Ausdruck christlich verstandener Humanität (A. Anzenbacher). Aus dieser christlichen Perspektive ist mithin der angemessene und zuträgliche Ort für das personale und partnerschaftliche Beziehungsverhältnis der Liebe zwischen Mann und Frau die Ehe. Dies hat sowohl theologisch-sakramentale als auch anthropologisch-soziologische Gründe. Darauf aufbauend ist auch die Familie, in der die beiden verheirateten Eltern mit ihren gemeinsamen Kindern zusammenleben, die unbeschränkt beste und theologisch adäquate Form. Es ist aber auch pädagogisch und psychologisch erwiesen, dass die Qualität der Beziehung der Eltern, deren Kontinuität, Dauer, Stabilität und Treue zentral sind für das Gelingen von Erziehung und Sozialisation der Kinder. Da diese Qualität in sehr viel höherem Maße in einer öffentlich geschlossenen Ehe möglich ist – Statistiken besagen, dass unverheiratete Paare sich sehr viel leichter und schneller trennen als verheiratete -, spielt eben diese Institution eine große Rolle für die aus ihr hervorgehende Familie. Natürlich – und das ist im Blick auf die aktuelle Gesellschaft besonders wichtig und sei als Randbemerkung angefügt – sind alle anderen existenten Formen vor allem um der Kinder willen familien- und gesellschaftspolitisch genauso einzubeziehen, aber unter theologisch-normativer Perspektive nicht anzuzielen.
2.2 Die freiheitsstiftende Funktion der Ehe
Das Besondere und der Reiz der Liebe zwischen Mann und Frau liegen auch darin, dass sie spontan, unberechenbar, begeistert und impulsiv ist. Diese Emotionen können aber aus unterschiedlichsten Motiven ebenso unkalkulierbar ins völlige Gegenteil umschlagen. Schon Hegel sah die Chance der Institution Ehe darin, die Liebe vor dem Ausgeliefertsein an die Launen der Subjektivität und an das bloß Vergängliche zu schützen. (Dies findet sich sehr eindrücklich formuliert in dem Eheversprechen des katholischen Eheritus: „... und verspreche dir die Treue in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und in Krankheit.“) Ehe als eine Bindung in Freiheit ist damit der Ort, an dem nicht Freiheit verhindert, sondern vielmehr richtig verstandene Freiheit in (dieser) Bindung, als Freiheit von Lust und Laune des Augenblicks und zu partnerschaftlicher Bindung, ermöglicht wird.
Diesen Aspekt der Ehe als Institution mit freiheitsstiftender Wirkung kann man in der geschichtlichen Entwicklung nachverfolgen: Basierte die Ehe auch lange Zeit historisch auf der Überzeugung, dass die Frau dem Mann untergeordnet sei, so hat sich diese Institution gerade im abendländischen Kultur- und Rechtsraum im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Raum entwickelt, der vor allem der Frau in ihrer gleichen Würde und ihrem gleichen Personwert Anerkennung und Schutz verschafft hat. Nicht zuletzt die katholische Rechtstradition mit ihrer Betonung der Konsenslehre, der Tatsache also, dass eine Ehe nur auf der Basis der freiwilligen Zustimmung beider Partner gültig geschlossen werden kann, ist ein entscheidender, wenn auch oft verkannter Beitrag zur Befreiung der Frau durch und in dieser Institution gewesen.
Diese freiheitsstiftende Wirkung der Ehe ist aber auch im Blick auf die gegenwärtigen Anfragen stark zu machen. Personale Liebe und Partnerschaft auf der einen Seite und institutionelles Element der Ehe auf der anderen Seite schließen sich – anders als die gängige Meinung heute zu wissen vorgibt - in keiner Weise aus. Vielmehr weist die personale Sicht Übertreibungen des institutionellen Aspekts zurück so wie die institutionelle Seite die personale Dimension entlastet von der stetig und jeweils neu zu treffenden Entscheidung für den Partner - was eine fundamentale Überforderung jedes einzelnen Menschen darstellen würde.
2.3 Die gemeinwohlfördernde Funktion der Ehe
Weil der Mensch als Person immer zugleich Individual- und Sozialwesen ist, liegt es im Personsein des Menschen, das Ich auf das Wir hin zu überschreiten. Das bedeutet dann zugleich, dass dieses Wir nicht im Raum privater Innerlichkeit verbleibt, sondern auf Transzendierung dieser Gemeinschaft, auf Öffnung hin zur Familie und zur Gesellschaft hin angelegt ist.
Genau diese beiden Seiten der einen Medaille symbolisiert die Institution Ehe: auf der einen Seite die Lebens- und Schicksalsgemeinschaft der beiden Ehepartner und auf der anderen Seite das Eingebunden-Sein dieser Gemeinschaft in den umfassenderen Kontext der Gesellschaft.
Manche der vorgetragenen Argumente könnten nun für Institutionen verschiedener Art Geltung beanspruchen. Es ist aber nicht Anliegen des Artikels 6 GG, jedwede persönlich gewählte Lebensform, sondern Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen. Der spezifische Grund dafür liegt letztlich in der Ausrichtung der Ehe auf Nachkommenschaft. Aufgrund ihrer spezifischen Leistungen für die Gesellschaft bzw. den Staat, stellt Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Vor aller Diskussion darüber, wie dieser von der Verfassung geforderte besondere Schutz auszusehen hat, muss klar sein, dass es zunächst junger Menschen bedarf, die bereit sind, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Das inzwischen weithin berühmte sog. Böckenförde-Paradoxon, dass der liberale Rechtsstaat auf Voraussetzungen beruht, die er selber nicht schaffen kann (W. Ockenfels 2001, 220), ist hier besonders augenfällig: Seine Zukunft hängt davon ab, dass genügend Kinder geboren werden, dass es also genügend Menschen gibt, die bereit sind, Elternverantwortung zu übernehmen. Der Staat bedarf folglich der Ehe als der Institution, die hier eine ganz entscheidende Funktion innehat. „Diese Verfassungsvoraussetzung ist jedoch gegenwärtig in Deutschland nicht mehr selbstverständlich, der demokratische Rechtsstaat deshalb in seiner Existenz gefährdet“ . Die Familienpolitik ist insofern ein Paradebeispiel, an dem man vorführen kann, dass rechtliche Institutionen des Staates hohl und nutzlos bleiben, wenn es keinen sie ausfüllenden und tragenden gesellschaftlichen Habitus gibt.
Wenngleich die Ehe, so betont es das II. Vatikanische Konzil in seiner Pastoralkonstitution und erst recht das „profane“ Verständnis, eine Eigenwert und eine immanente Sinnhaftigkeit hat, so ist die Lebensform der Liebe doch nicht ausschließlich und selbstgenügsam auf die Zweisamkeit gerichtet, sondern zumindest offen für eine qualitativ ganz neue Dimension, nämlich die Weitergabe des Lebens und der Liebe, die man selbst empfangen und erfahren hat.
Unter spezifisch sozialethischer Perspektive lässt sich hier festhalten, dass damit der für die Zukunft unverzichtbaren Verantwortung für die Generationenfolge und Generationengerechtigkeit Rechnung getragen wird. Zwei Missverständnissen ist an dieser Stelle vorzubeugen: 1. fixiert diese sozialethische Perspektive die gesellschaftliche Verantwortung der Institution Ehe nicht allein auf den Aspekt der biologischen Reproduktion – auch die aus unterschiedlichen Gründen kinderlose Ehe vermag dieser sozialen Verpflichtung durch eine Öffnung auf Aufgaben in diversen gesellschaftlichen Bereichen und durch vielfältiges Engagement gerecht zu werden. 2. fixiert dieser Ansatz, demzufolge die Familie auf der Ehe gründet, die Institution Ehe nicht auf die bürgerliche Kleinfamilie, sondern ist wiederum offen für sehr unterschiedliche Formen des familialen Zusammenlebens, sofern sie in der Ehe gründen.
Die Stabilität und Dauerhaftigkeit, die Verbindlichkeit und Transparenz der Beziehung, die durch die Institution der Ehe gewährleistet werden, sind besonders günstige Voraussetzungen dafür, dass die Familien ihren zentralen Aufgaben im Blick auf das Wohl der Gesellschaft, auf das Gemeinwohl überhaupt nachkommen können:
Neben der Geburt und Versorgung von Kindern spielt die primäre Sozialisation und Erziehung der Kinder als Ausbildung einer stabilen Persönlichkeit eine entscheidende Rolle: Dabei geht es mithin um den Beitrag zur Ausprägung des Humanvermögens. Für diese Funktion der Familie kommt nachgewiesenermaßen der Stabilität der Beziehung der Eltern sowie der gemeinsamen Übernahme von Elternverantwortung eine große Bedeutung zu. (Max Wingen)
Die gesellschaftlich relevanten Aufgaben der Familie umfassen darüber hinaus noch den Beitrag zur Erhaltung und Regeneration der Arbeitskraft sowie schließlich die Versorgung und Pflege kranker und behinderter, nicht mehr erwerbsfähiger Haushaltsmitglieder. Die Wahrnehmung all dieser Aufgaben ist am ehesten oder zumindest leichter möglich durch eine Familie, in der die Eltern grundlegend rechtlich verbindlich und öffentlich nachvollziehbar mit ihrem Eheversprechen ihre Bereitschaft bekundet haben, füreinander „in guten und in schlechten Tagen“ füreinander da zu sein und einzustehen.
3. Handlungsoptionen. Ehe – ein Zukunftsmodell
Zwei sehr unterschiedliche Optionen, die aber dennoch die Notwendigkeit des Handelns aufweisen, seien im Folgenden noch kurz genannt:
3.1 Die Identität und das Spezifikum der Ehe wahren
Die rekonstruierten sozialethischen Aspekte zur Begründung der Tatsache, dass die Institution der Ehe unter besonderem Schutz des Grundgesetzes steht, sind in keiner Weise mehr im Bewusstsein der Öffentlichkeit präsent. Von daher gilt es, ihnen wieder Geltung und einen entsprechenden Bekanntheitsgrad zu verschaffen, so dass die Besonderheit der Ehe in ihrer Bedeutung für die Humanität, die Freiheit und das Gemeinwohl einer Gesellschaft wieder erkannt wird. Damit wird dann auch ihre einmalige unverwechselbare Identität offenkundig. Aus dieser Perspektive ergibt sich mithin auch ein entsprechender Differenzierungsbedarf im Blick auf die rechtlich eingetragene gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft, eine Lebensform, zu der seit Februar 2001 die Möglichkeit besteht. Trotz großer Medienaufmerksamkeit stellt diese Lebensform zwar zahlenmäßig unter den hier beschriebenen Partnerschaftsformen nur eine Minorität dar. Es sei hier auch in keiner Weise in Abrede gestellt, dass es für diese Lebensgemeinschaften rechtliche Regelungen und institutionelle Absicherungen braucht. Aber die gesellschaftlich und politisch spürbare Intention, hier eine völlige rechtliche Gleichstellung mit der Ehe zu erreichen, verwischt die Eigenart der Ehe. Der liberale Rechtsstaat überlässt den Menschen die Entscheidung, wie sie ihr Leben führen möchten und privilegiert nicht willkürlich bestimmte Lebensentwürfe. Hinsichtlich Ehe und Familie wird in Art. 6 GG von diesem Grundsatz eine Ausnahme gemacht aufgrund der einmaligen Leistungen, die Menschen in diesen Rechtsinstituten für den Staat und die Gesellschaft erbringen. Lebenspartnerschaften können diese Leistungen nicht erbringen. Von daher fehlt hier der Dienst am Gemeinwohl als der entscheidende Grund, aus dem heraus der Staat bei Ehe und Familie die Ausnahme macht. Der Wechsel der Perspektive – weg vom Privileg-Gedanke hin zum Dienst-Aspekt – dürfte hier das entscheidende sozialethische Argument sein (dass hier aus genuin [moral-]theologischer Perspektive noch andere Aspekte zu nennen wären, liegt auf einer anderen, hier nicht mehr näher in den Blick zu nehmenden Ebene).
3.2 Schutz der Ehe auch ökonomisch zum Ausdruck bringen: Das Ehegattensplitting
Das gegenwärtig viel diskutierte Ehegattensplitting bringt das besondere Verständnis von Ehe zum Ausdruck. Es geht von den Ehepartnern nicht mehr als Singles, sondern als gesellschaftlich ernst zu nehmender Einheit auch im Sinne einer ökonomischen Gemeinschaft aus. - Dies gilt selbstverständlich ganz unbeschadet dringend notwendiger Überlegungen zu einem Familiensplitting, das die im Vergleich zur gegenwärtigen Situation angemessenere Besteuerung von Familien in den Blick nehmen muss. – Dadurch, dass das zu versteuernde Einkommen beider Ehepartner addiert und dann durch zwei geteilt wird, wobei auf den geteilten Betrag zweimal der gleiche Steuersatz angewendet wird, wird den Ehepaaren wirklich die Freiheit eröffnet, ihr beiderseitiges Erwerbsarbeitsleben und das Familienleben den eigenen Prioritäten gemäß zu gestalten. Hier kommt die subsidiäre Funktion des Staates zum Ausdruck, der gemäß dem Subsidiaritätsprinzip die Rahmenbedingungen so gestalten soll, dass der einzelne bzw. die personnahe Gemeinschaft ihr Leben entsprechend den eigenen Wertsetzungen in Freiheit führen und gestalten kann. Dass hier im Detail mit Blick auf die Steuerklassen etc. großer Reformbedarf besteht, liegt auf der Hand, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Notwendigkeit dieser Institution.
Fazit
Gerade eine pluralistische und säkularisierte Gesellschaft wie die unsrige bedarf zur Rekonstruktion ihres Grundkonsenses und ihres Selbstverständnisses als Verantwortungsgemeinschaft notwendig der Institution der Ehe. Die Geschichte hat gezeigt – und Institutionen sind nichts anderes als „geronnene geschichtliche Erfahrung“ –, dass sie letztlich die besten Voraussetzungen erbringt, um dauerhaft und verlässlich Humanität entfalten, eine Lebenskultur jenseits ökonomischer Funktionslogik vermitteln und fördern sowie Freiheit und Gemeinwohl sichern zu können.
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer