Einführung in den Erklärungsentwurf "Leben und Sterben in Würde"

Einführung von Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl im Rahmen der der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Mit der Erklärung "Leben und Sterben in Würde" meldet sich die Vollversammlung des ZdK erneut in der öffentlichen Debatte über die uns alle bedrängenden Fragen nach einem würdevollen Lebensende zu Wort. In den letzten Jahren hat sich diese Debatte insbesondere auf die Frage nach der Verbindlichkeit und Reichweite solcher Willensbekundungen zugespitzt, die ein Patient zu einem früheren Zeitpunkt über seine Behandlungswünsche abgegeben hat. Bereits 2003 hat die Vollversammlung des ZdK in einer Erklärung zur "Bedeutung der Pflege in einem leistungsfähigen Gesundheitswesen" konstatiert, dass "der Wunsch nach selbständiger Entscheidung (…) sich in zahlreicher werdenden Patientenverfügungen wiederfindet. In ihnen steckt häufig auch die Angst, im medizinisch-pflegerischen System als 'Behandlungsfall' und nicht in der eigenen Würde wahrgenommen zu werden." Aus diesem Grunde "muss eine Patientenverfügung (…) als Ausdruck eines erklärten Patientenwillens ernst genommen und berücksichtigt werden." Zugleich unterstreicht die Erklärung von 2003, dass im Falle einer Nichtmehreinwilligungsfähigkeit eines Patienten seine vorab getroffene Patientenverfügung keinesfalls die oftmals schwierigen Abwägungsprozesse ersetzen kann, die die Ärztinnen und Pfleger, die Angehörigen oder auch die Betreuerin bzw. der Bevollmächtigte im Lichte der konkreten Situation vornehmen müssen.
Der Deutsche Bundestag wird sich in nächster Zeit erneut mit einer gesetzlichen Regelung zur Patientenverfügung befassen. Deshalb hat der Hauptausschuss im Sommer dieses Jahres in großer Einmütigkeit eine Erklärung "Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen" verabschiedet, die zur beabsichtigten Neuregelung der Patientenverfügung im deutschen Betreuungsrecht die Kernforderungen des ZdK zum Ausdruck bringt. Patientenverfügungen haben unzweifelhaft ein hohes Gewicht. Ihre besondere Auskunftsstärke für die Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens sollte im Betreuungsrecht durchaus hervorgehoben werden. Gleichwohl warnt das ZdK davor, die zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte Willenserklärung automatisch mit dem nicht mehr bekundungsfähigen aktuellen Willen des Patienten gleichzusetzen. "Wie der Patient in der konkreten Situation aktuell entscheiden würde, wenn er noch könnte, muss", so die Erklärung, "in jedem Fall erst unter Maßgabe seines Wohls und seiner Persönlichkeit ermittelt werden." Dies ist Aufgabe des Bevollmächtigten oder der Betreuerin und muss es auch bleiben.


II.
Forderungen zu erheben ist das eine, sie zu begründen ist das andere. Zentrales Kriterium ist die Würde des Menschen, die in allen Phasen und unter allen Umständen seiner Lebensgeschichte unantastbar ist. Zum Kernbestand menschlicher Würde zählen das Um-seiner-selbst-willen-Dasein jedes Einzelnen und folglich auch das Recht, über seine Lebensführung und sein Lebensschicksal soweit als möglich selbst bestimmen zu können. Freilich: Die Selbstbestimmung ist ein wichtiges und unverzichtbares Moment menschlicher Würde, sie ist aber nicht das einzige. Sich für ein Leben und Sterben in Würde einzusetzen, ist erheblich mehr als nur der Einsatz für ein Leben und Sterben in Selbstbestimmung. Denn ein würdevolles Leben besteht nicht nur aus Selbstbestimmung, sondern ebenso unverzichtbar aus den Beziehungen und Bindungen zu unseren Mitmenschen. Die Würde des Menschen zu schützen verlangt deshalb auch, den Reichtum und die Lebensfülle jener zwischenmenschlichen Beziehungen und Bindungen zu achten und zu stärken, aus denen wir zu jeder Zeit leben – bis zum Tod und deshalb vor allem im Sterben als letzter Phase eines würdevollen Lebens.
Deshalb geht es übrigens beim Schutz würdevollen Lebens und Sterbens niemals nur um die Würde des Sterbenden. Dessen Schutz ist selbstverständlich unzweifelhaft. Gleichwohl geht es immer auch um die Würde aller Beteiligten: der Angehörigen, der Pflegerinnen und Ärzte, der Bevollmächtigten oder des Betreuers. Sowenig die Patientin oder der Sterbende zum bloßen Objekt von deren Interessen und Gutdünken erniedrigt werden darf, ebenso wenig dürfen andere zu bloßen Erfüllungsgehilfen von Patientenwünschen instrumentalisiert werden.


III.
Diese Einsicht ist meines Erachtens sorgfältig zu beachten, wenn die Vorschläge des letzten Deutschen Juristentages zur Lockerung des standesrechtlichen Verbotes der Mitwirkung am freiverantwortlichen Suizid einer schwer leidenden Patientin zu beurteilen sind. Eines vorab: Ich unterstütze das Anliegen des Deutschen Juristentages, die sog. passive wie die sog. indirekt-aktive Sterbehilfe aus dem Odium vermeintlich strafbarer und bloß geduldeter Handlungen zu befreien. Dementsprechend sollten alle Maßnahmen, die den unmittelbar bevorstehenden Tod nicht mehr aufhalten oder das Sterben durch palliativ-medizinische Versorgung erträglich gestalten, auch wenn sie das Eintreten des Todes beschleunigen sollten, in den entsprechenden gesetzlichen Regelwerken als Sterbebegleitung bezeichnet werden. Dies ist sachlich angemessen und eine dringend erforderliche Klarstellung. Ebenso ist selbstverständlich das entschiedene Votum gegen eine Regelung der Tötung auf Verlangen etwa nach niederländischem oder belgischem Vorbild zu begrüßen. Anders verhält es sich dagegen bezüglich der vom Deutschen Juristentag erhobenen Forderung, das derzeit geltende (standesrechtliche) Verbot des ärztlich assistierten Suizids zu lockern. Während eine Sterbebegleitung im o.g. Sinne maximaltherapeutische Maßnahmen begrenzt oder sogar abbricht, um den Patienten in der Phase seines unumkehrbaren Sterbens wirklich sterben zu lassen, geht es bei der Mitwirkung des Arztes beim freiverantwortlichen Suizid einer Patientin um die Mitwirkung bei der Einleitung, also beim Veranlassen eines Sterbevorgangs. Zwischen Sterbenlassen und Sterbenveranlassen besteht ein erheblicher Unterschied. Und auch eine bloße Mitwirkung ist eine Mitwirkung, also ursächlich und notwendig bei der Veranlassung eines Prozesses – hier also des Sterbens durch einen (freiverantwortlichen) Suizid. Zwar mag die Mitwirkung etwa von Angehörigen oder nahestehenden Personen am freiverantwortlichen Suizid aus bestimmten Gründen kein Straftatbestand sein. Ihre auch nur begrenzte (standesrechtliche) Zulassung für das ärztliche oder pflegende Personal würde jedoch massiv das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Patient und seinen Ärztinnen und Pflegern belasten. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient muss auf Grund ihrer einzigartigen Dichte wie ihres einseitigen Abhängigkeitsverhältnisses über jeden Zweifel an einer achtsamen und sorgenvollen Behandlung des Patienten erhaben sein.


IV.
Der erhebliche Unterschied zwischen einem Sterbenlassen und einem Sterbenveranlassen (und sei dies nur im Modus einer Mitwirkung) ist auch ein triftiger Grund dafür, dass die Reichweite der Bindungswirkung einer Patientenverfügung auf die Phase irreversiblen Sterbens beschränkt werden muss. Und er ist dafür entscheidend, weshalb auch demente und wachkomatöse Patienten kategorisch von der Reichweite von Patientenverfügungen auszunehmen sind, solange sie sich noch nicht in einer unumkehrbar verlaufenden Sterbephase befinden. Selbst wenn wir sicher sein könnten, dass der demente oder wachkomatöse Mensch in seiner Situation sich freiverantwortlich für sein Sterben entscheiden würde, der Abbruch seiner Versorgung würde dennoch sein Sterben von fremder Hand veranlassen und nicht einfach nur zulassen.
Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung ist daran zu erinnern: Demente und wachkomatöse Patientinnen sind keine Sterbenden, sondern Menschen mit zum Teil schwersten Behinderungen. Damit wird ihre Lebenslage weder verharmlost noch beschönigt, im Gegenteil. Aber an der Frage, wie wir mit der Lebenslage dieser Menschen umgehen, zeigt sich letztlich, woran wir den Status eines menschlichen Lebens insgesamt festmachen. Muss ein Mensch über solche Formen des Bewusstseins und solche Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und zur Wahrnehmung eigener Interessen (wenigstens später wieder) verfügen können, die für uns ‚Normale’ vertraut und liebgeworden sind? Oder könnte sich menschliche Personalität auch in solchen dialogischen Beziehungen ereignen, zu denen uns ‚Normalen’ nur der Zugang erschwert oder vielleicht sogar versperrt erscheint?


V.
Der aktuelle Streit um die Verbindlichkeit, die Wirksamkeitsvoraussetzungen wie die Reichweite von Patientenverfügungen ist wie die Debatte um eine Lockerung des (standesrechtlichen) Verbots zur Mitwirkung an einem freiverfügten Suizid nur zu verstehen vor dem Hintergrund weitverbreiteter Ängste: der Angst vor einer entmenschlichenden Apparatemedizin, der Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle und damit vor den Entscheidungen Anderer und Fremder, ja nicht zuletzt der Angst vor einem gravierendem Verlust der Lebensqualität unter den besonders beschwerlichen Bedingungen eines fortgeschrittenen Alters, einer Krankheit oder einer Behinderung. Es mag sein, dass diese Ängste übertrieben sind. Gleichwohl wäre es überheblich und zynisch, wenn man sie einfach achtlos beiseiteschieben würde. Viel wichtiger ist es, jene Sehnsüchte ernst zu nehmen, die viele Menschen mit einem Leben und Sterben in Würde verbinden: die Sehnsucht, an einem vertrauten Ort zu sterben; die Sehnsucht, mit vertrauten Menschen zu kommunizieren; die Sehnsucht, unzumutbare Belastungen von Angehörigen zu vermeiden, und nicht zuletzt die Sehnsucht, ohne unerträgliche körperliche oder seelische Schmerzen den eigenen Tod zu sterben. Vor diesem Hintergrund verblasst die Bedeutsamkeit von Patientenverfügungen. Andere Notwendigkeiten rücken in den Mittelpunkt: besonders die palliativ-medizinische wie palliativ-pflegerische Ausbildung und Versorgung. Palliativ-medizinische wie palliativ-pflegerische Versorgung sind nicht nur empfindlich für Therapieziele, die den Stationen des endenden Lebensweges angemessen sind. Sie helfen auch, jenen zwischenmenschlichen Beziehungsreichtum zu kultivieren, aus dem uns allen ein Leben und Sterben in Würde möglich wird. Dies ist uns vor allem aus der stationären wie ambulanten Hospizarbeit wohl vertraut.

Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl

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